So oft hat man es in Bern hören müssen: Beamtenhochburg! Träge Mentalität! Langeweilestadt! Nicht gerade die Attribute, die für eine dynamische urbane Entwicklung sprechen. Stadtpräsident Alexander Tschäppät pflegt einen entspannten Umgang mit diesen Pauschalurteilen, weil sie nicht mehr stimmten. «Das höre ich nur noch von Leuten, die Bern nicht kennen. Kenner sind längst über diese Klischees hinweg – weil sich in den letzten Jahren so viel getan hat in Bern.»

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Sukkurs erhält Tschäppät von Katharina von Samson-Himmelstjerna (45), die vor sieben Jahren vom quirligen Berlin in die vermeintlich behäbige Schweizer Hauptstadt zog: «Gute Luft, gutes Freizeitangebot, zum Beispiel Schwimmbäder, und schön angelegte Parks», rühmt die Schmuckdesignerin. Ihren Mitbewohnern sagt sie es deutsch und deutlich: «Ihr Berner müsst einfach ein bisschen selbstbewusster werden!»

Was die Neo-Bernerin und der Stadtpräsident ansprechen, zeigt sich im Städte-Ranking, das für BILANZ vom Beratungsunternehmen Wüest & Partner erhoben wird: Die Bundesstadt ist hip. Der Berner Bär hat sich von den Plätzen 43 (2009) über 19 (2010) und 4 (2011) dieses Jahr erstmals in die Top 3 geschlichen. Spitzenplätze bei den Themen Arbeitsmarkt, Kultur und Freizeit sowie Einkaufsinfrastruktur sorgten dafür, dass die Bundesstadt unaufhaltsam aufgestiegen ist. «Bern bietet ein sehr gutes Gesamtpaket. Andere Städte wie Zürich und Zug werden zu Opfern ihres eigenen Erfolges», sagt Isabelle Wrase, die sich an der Auswertung von Wüest & Partner beteiligte. Vor allem beim Kriterium der Mobilität habe sich Bern im Vergleich zu den anderen Städten verbessert. Während man sich in Zürich in überfüllte Geschäfte, Restaurants und Bahnen drängen müsse, sei dies in Bern nicht der Fall. Nicht nur das Angebot einer Stadt bestimmt die Attraktivität, sondern auch, wie gut dieses erreichbar ist. Für die vierfache Mutter Katharina von Samson-Himmelstjerna ist das ein wichtiger Faktor für die Berner Lebensqualität: «Mein Tag hat chronisch zu wenig Stunden, deshalb sind kurze Wege in einer Stadt enorm wichtig für mich.»

Zum siebten Mal bewertet BILANZ, in welcher Schweizer Stadt es sich am besten leben lässt. Auf die Liste schaffen es jene Gemeinden, die über 10 000 Einwohner haben. So wie die Schweiz wächst, wird auch die Liste der Städte länger. Zu den 136 Aspiranten vom letzten Jahr gesellen sich neu Belp BE (Platz 83), Glarus (116), Möhlin AG (121) und Veyrier GE (125). Glarus Nord, das aus einer Gemeindefusion entstanden ist, bietet zwar 17 000 Menschen ein Zuhause, wurde aber aufgrund seiner stark dörflichen Struktur nicht ins Städte-Ranking aufgenommen.

Kleiner und fast so fein. Die Methodik der Erhebung blieb 2012 grösstenteils gleich wie 2011 (siehe Box unter 'Downloads'). Einzig einige Variablen wurden neu aufgenommen. So wurde beim Thema Einkaufsinfrastruktur für das aktuelle Ranking zusätzlich Wert gelegt auf einen Swissness-Ladenmix, gemessen an der urbanen Präsenz von Anbietern wie Globus, Bally oder Franz Carl Weber. Neben weichen Faktoren wie Kultur, Freizeit und Erholung spielen aber im Beauty Contest der Schweizer Städte auch harte Werte wie Arbeitsmarktentwicklung und Wachstumsdynamik eine massgebliche Rolle. Und es zählt, wie beherzt der Säckelmeister zugreift. Auch deshalb mag Stadtpräsident Tschäppät nicht in unbernische Euphorie verfallen. Schliesslich weiss er, was seine Stadt weiterhin auf Distanz zum Spitzen-Duo hält: «Die hohen Steuern ziehen uns natürlich immer runter.» Bei diesem Kriterium reicht es den Bären nur auf den 81. Platz.

Punkto Steuern fährt der Städter in Zug, der letzt- wie diesjährigen Nummer zwei des Rankings, um Längen besser. Der «Tax Haven» habe aber einiges mehr zu bieten, sagt der gebürtige Zürcher Marc Scherrer (33), der seine Kosmetikfirma Sherteme vor sieben Jahren in Zug gegründet hat und seit Mai 2011 selber auch dort wohnt: «Tiefe Steuern sind nur ein Aspekt. Wichtiger ist mir, dass Zug kleiner, sympathischer und vernetzter ist als Zürich.» Im beruflichen Alltag hat Scherrer eine gewisse Überschaubarkeit schätzen gelernt. Nisten im Zürcher Technopark über 250 Jungunternehmen, so brüten im Zuger Businesspark bloss deren 45 neue Ideen aus.

Ein Vorteil, sagt der Neu-Zuger: «Hier entstehen, auch wegen der Überschaubarkeit, hervorragende Kontakte. Zudem helfen sich die Unternehmen im Businesspark gegenseitig – ein nicht zu unterschätzender Standortvorteil.» Was der Unternehmer an Zug besonders schätzt: «Sehr positiv ist die Zusammenarbeit mit den Behörden, die nicht administrieren, sondern mithelfen wollen.» Solche Aussagen gehen beim Zuger Stadtpräsidenten Dolfi Müller selbstredend hinunter wie Öl: «Das ist ein Trumpf von Zug, den wir kultivieren.» Ein Verhalten, das auch im Bonsaiwuchs der Stadt – Zug hat nur rund ein Vierzehntel der Grösse von Zürich – begründet sein könnte: «Tiefe Steuern bieten heute viele, aber der Umgang mit Gesuchstellern auf Augenhöhe kann zum echten Vorteil werden.» Zug scheint hier zu befolgen, was Patrick Schnorf, Kadermann bei Wüest & Partner, sagt: «Städte müssen sich fokussieren» (siehe Interview).

Zürich ist nach 2011 zum zweiten Mal stolzer Sieger im Städte-Ranking. Punkto Bildungsangebot und Erreichbarkeit kommt keine andere City an Zürich heran. Eine Bevölkerung von 390 000 Einwohnern mag für die Schweiz gross scheinen – aber es kommt immer auf den globalen Blickwinkel an: «Zürich ist für mich ein Dorf, das alle Vorteile einer Stadt bietet», sagt Merlin Zuni aus San Francisco, der seit fünf Jahren an der Limmat lebt. Sein Wonnegefühl in der Königin der Schweizer Städte: «Mitten in der Stadt grillieren und dazu schwimmen zu gehen – das ist urbaner Luxus für mich.» Der US-Amerikaner, der als Senior Designer bei der Agentur Jung von Matt arbeitet, lebt seit einem Jahr im etwas verruchten Kreis 4 der Stadt. Man hatte ihn, der zuvor in Zürich Oerlikon wohnte, gewarnt: «Die Leute sagten mir, es sei das Ghetto von Zürich. Aber für mich ist es das Ghetto von Disneyland.» Natürlich ist dem Kalifornier aufgefallen, dass auch das Preisniveau in Zürich Spitze ist, «aber ich sehe jetzt auch, dass das mit der Qualität der Dinge und den guten Löhnen gerechtfertigt ist». Den wahren Challenge sieht er anderswo: «Die grösste Herausforderung von Zürich ist es nach wie vor, günstigen Wohnraum zu finden.»

Luxusgut Wohnen. Dass ihre Städte attraktiv sind, freut die Stadtpräsidenten von Zürich, Zug und Bern – alle stammen aus der SP – selbstverständlich. Doch sie bekommen auch den Druck zu spüren, der daraus resultiert. Zwar hat in Bern nicht eine derartige Wohnraumverteuerung stattgefunden wie in Genf, Zug und Zürich (siehe Grafik unter 'Downloads'), doch der Platz ist knapp, weiss der Berner Stapi Tschäppät: «Was neu gebaut wird, ist gleich nach der Baubewilligung schon weg vom Markt.»

Unternehmer Marc Scherrer, ansonsten voll des Lobes über seinen neuen Wohnort Zug, sieht eine Schattenseite: «Eine unschöne Entwicklung finde ich, wie der Mittelstand aufgrund der hohen Immobilienpreise verdrängt wird. Damit geht ein gewisser mittelständischer Charme verloren.» Stadtpräsident Dolfi Müller kennt das Problem. Und sagt, man habe Massnahmen eingeleitet: Mit der 2009 verabschiedeten Zonenplanung seien Grundeigentümer verpflichtet worden, bei Neueinzonungen die Hälfte der Fläche für preisgünstigen Wohnungsbau zu nutzen. «Aus den so projektierten vier städtischen Einzonungen», sagt Müller, «sollen in den nächsten zehn Jahren 500 bis 600 preisgünstige Wohnungen entstehen.» Wobei «preisgünstig» bedeute, dass man für eine neue Vier-Zimmer-Wohnung monatlich etwa 2000 Franken bezahlen müsse.

Zu diesem Preis würde in Zürich wohl die halbe Stadtbevölkerung zugreifen. Auch Stadtpräsidentin Corine Mauch erkennt das Problem mit dem Wohnraum: «Wohnen in Zürich darf nicht zu einer Frage des Portemonnaies werden. Die bestehende gute soziale Durchmischung ist ein wichtiger Bestandteil unserer hohen Lebensqualität und sozialen Stabilität.» Seit letztem November hat die Zürcher Regierung den Auftrag der Stimmbürger, den Anteil der gemeinnützig vermieteten Wohnungen von heute 25 Prozent bis im Jahr 2050 auf ein Drittel zu steigern. Was man anstrebe. Auch wenn natürlich der Markt seine eigenen Regeln macht und die Einflussmöglichkeiten der Politik beschränkt: «Drei Viertel des Wohnungsmarktes sind privat. Wir sind deshalb auf die Zusammenarbeit und den Dialog mit allen Bauträgern angewiesen.» Dieser Tage überwiegt die Freude am Ranking-Gewinn: «Vielfalt und Weltoffenheit auf überschaubarem Raum» – das bedeutet Lebensqualität für die Zürcher Stadtpräsidentin.

Neben den Siegern Zürich, Zug und Bern zeigen sich im Tableau natürlich auch Verlierer. Auffallend etwa das Aargauer Duo Aarau und Baden, das miteinander drei Plätze nach hinten rutschte. Hier spielt ein typischer «Ranking-Effekt». Die beiden Städte seien zwar nicht schwächer geworden, andere dafür aber erstarkt, erklärt Isabelle Wrase von Wüest & Partner: «Beide Städte schneiden bei den neu hinzugefügten Variablen gut, aber nicht berauschend gut ab. Andere Städte machen sich mit ihrem diesbezüglichen Datenstand besser; Aarau und Baden verlieren dadurch in einigen Themen die vorderen Ränge.» Heftigster Absteiger des Jahres ist Mendrisio TI, wo gleich 23 Plätze verloren gingen. Begründet im schwachen Arbeitsmarkt – möglicherweise eine Folge der Frankenstärke – und in einem Malaise beim Thema «Soziales», wo der sogenannte Gini-Koeffizient, der die Einkommensverteilung misst, eine dominante Rolle spielt.

Romandie tickt gut. Luzern, das von Bern von Platz 3 verdrängt wurde, punktet dieses Jahr in der Zielgruppe der Singles. Beim Zusammenzug jener Themen und Daten, die für dieses wachsende Segment relevant sind, ist die Metropole der Zentralschweiz Spitze. In der Romandie brillieren «Tigergemeinden»: Vevey VD (plus 33 Ränge), Vernier GE (plus 30), Lancy GE (plus 25), Nyon VD (plus 15) legten stark zu, weil sie sich bezüglich der Bevölkerungsentwicklung dynamisch verhalten, bei der Bautätigkeit punkten und sich auch im Sektor Mobilität positiv entwickelt haben. Was der Romandie Mumm macht: wie Luxuskonzerne wie Swatch oder Richemont aufdrehen und Hunderte neue Arbeitsplätze schaffen. Nach der Schliessung des Genfer Merck-Serono-Standorts eine besonders wohltuende Sache.

Auf ein solches Jobwunder hofft man auch am Ende der Rangliste. Dort sitzt nach 2011 erneut Val-de-Travers NE, das bezüglich Steuern, Mobilität, Arbeitsmarkt und Bevölkerungswachstum sehr schwache Werte aufweist. So wie sich die einstige legendäre rote Laterne Le Locle NE dank einem verbesserten Arbeitsmarkt immerhin auf den drittletzten Platz hocharbeiten konnte, könnte auch Schlusslicht Val-de-Travers von der Haute Horlogerie profitieren. Die Uhrenmarke Cartier will in Couvet, das Teil der Gemeinde Val-de-Travers ist, eine Uhrwerkfabrik mit 320 Jobs errichten. «Das ist extrem wichtig», sagt Gemeindepräsident Claude-Alain Kleiner. «Schon lange kamen keine so wichtigen Unternehmen mehr. Wir haben eine Uhren- und Mikrotechnologie-Industrie, die sich weiterentwickelt.» Da sei es auch nicht schlimm, dass zwei Drittel der 320 Arbeitskräfte wohl in Frankreich rekrutiert werden: «Das stört uns nicht. Das ist die Freizügigkeit.» Vorerst ist Imagepflege angesagt: «In unserer Gemeinde wollen wir nun wirtschaftlich und touristisch attraktiver werden. Wir sind eine arme Gemeinde. Aber wir haben einige zehntausend Franken für einen Tourismuskatalog vorgesehen, der uns für die nächsten vier Jahre erlaubt, die Region nach aussen etwas besser zu verkaufen.»

Aufbruchstimmung. Auch punkto Mobilität und Steuern soll etwas gehen. Während die Pendler in vielen Agglomerationen der Deutschschweiz murren, wenn sie nur alle 30 Minuten bedient werden, wenn in Städten schon gemotzt wird, wenn das Tram den Sieben-Minuten-Rhythmus einmal verfehlt, hofft man in Val-de-Travers auf ein Projekt, das die Verbindung nach Neuenburg vom heutigen Stunden- auf den Halbstundentakt verbessert. Ferner sei der Kanton Neuenburg daran, den Steuersatz für natürliche Personen zu senken. Der Président du Conseil communal gibt sich optimistisch: «Kommen diese Projekte durch – und davon gehe ich aus –, erlaubt uns das, attraktiver zu werden. Das Steuerprojekt sollte bis 2015 realisiert sein. Beim öffentlichen Verkehr geht es länger, wohl etwa bis 2020.» Also noch acht Städte-Rankings lang.

Andreas Güntert
Andreas GüntertMehr erfahren