Der Vater war Bauer und Beizer. Sein Sohn war Konzernchef und ist heute Verwaltungsratspräsident des Duftstoffgiganten Givaudan. Jürg Witmer verbrachte seine Kindheit zwischen Kühen und Küche. Trotz seiner einfachen Herkunft schaffte er es ganz nach oben.

Solche Karrieren dürfte es laut traditioneller Eliteforschung gar nicht geben. Denn die Wissenschaft besagt, dass Sprösslinge aus reichen Familien überdurchschnittlich gut ausgebildet werden und deshalb deutlich häufiger eine Führungsposition erreichen als Kinder aus einfachen Verhältnissen.

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Ob das in Zukunft auch noch so ist, wollen derzeit Wissenschaftler der Universität St.Gallen wissen. Am Seminar für Soziologie läuft unter der Leitung von Professor Franz Schultheis und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Stephan Egger ein Forschungsprojekt mit dem Titel «The Making of Business Elites». Die erste Untersuchung dieser Art in der Schweiz untersucht den Zusammenhang von Herkunft, Ausbildungsweg und beruflicher Karriere der Wirtschaftseliten.

Grübel hätte keine Chance

«Die Eliten aus bäuerlicher oder handwerklicher Herkunft, die bis in die 90erJahre hinein noch an der Spitze riesige Unternehmen von Weltruf dirigierten, wie bei Roche oder Nestlé, sind heute absolut undenkbar. Tempi passati, Mottenkiste!», sagt Professor Schultheis. «Heute werden Wirtschaftseliten an den mehr oder weniger elitären Hochschulen ‹gezüchtet› – eine Armee im Gleichschritt marschierender schwarzgekleideter Gleichdenker mit besten Manieren, einem riesigen Netzwerk und zwingend akademischem Hintergrund. Und irgendwie auch auswechselbar.» Auch eine Karriere wie die von Ex-UBS-Chef Oswald Grübel, der nach dem Tod seiner Eltern bei der Grossmutter in Ostdeutschland aufwuchs und als Ausbildung nur eine Banklehre vorzuweisen hat, wäre heute schlichtweg «undenkbar», so Schultheis.

Denkbar sind jedoch immer noch Karrieren von ganz unten nach ganz oben. Der soziale Hintergrund scheint keine grosse Rolle mehr zu spielen. Zumindest stammen in der Schweiz auch heute noch viele Top-Manager aus einfachen Verhältnissen. Das zeigen die väterlichen Berufe der Chefs von Schweizer SMI-Firmen vor 20 Jahren und heute. Klassenwechsel wie bei Jürg Witmer und Oswald Grübel kommen häufiger vor als vermutet. Die vertikale Mobilität ist zurzeit noch grösser, als es die Forschung erwarten lassen könnte. Offenbar vermittelt gerade die einfache Herkunft wertvolle Bodenhaftung, fördert Tugenden wie Bescheidenheit und Durchhaltewillen und spornt gar zu Höchstleistungen an.

Die Söhne der «Einfachen», früher ...

Zu den grossen Vorbildern der Vergangenheit zählt der einstige Nestlé-Chef Helmut A. Maucher. Der Deutsche wuchs im bayrischen Allgäu auf, wo der Vater eine Molkerei betrieb und der Junior eine Lehre machte. Später verkaufte der Vater seinen kleinen Betrieb an Nestlé, wo Helmut nach einem betriebswirtschaftlichen Studium verschiedene Managementjobs an diversen Nestlé-Standorten ausübte. Mit 53 Jahren wurde der einstige Milchbauernbub zum Chef ernannt und stand danach 20 Jahre lang an der Spitze des grössten Nahrungsmittelkonzerns der Welt.

Ähnlich erging es Tony Reis, dem ersten, allerdings nur ein Jahr amtierenden Chef der gerade neu gegründeten Swisscom. Seine Eltern hatten ebenfalls eine Molkerei. Eine Tellerwäscher-Karriere machte auch Fritz Gerber bei Roche als Sohn eines Schreinermeisters im Emmental. An die Spitze von Synthes schaffte es der heute 76-jährige Hansjörg Wyss, dessen Vater noch Rechenmaschinen verkaufte. Und über die Abstammung des Senkrechtstarters Marcel Ospel, der 2008 als UBS-Chef tief stürzte, ist bekannt, dass der Vater ein Zuckerbäcker aus Basel war, der sich zum Elektroingenieur emporarbeitete.

... wie heute

Auch heutige Chefs grosser SMI-Firmen haben solche Väter: Markus Akermann, der Noch-Chef von Holcim, ist der Sohn eines Schulpsychologen. Der Vater von Johann Rupert, der heute den Luxuskonzern Richemont steuert, baute aus dem Nichts einen der grössten Tabakkonzerne der Welt, die British-American Tobacco. Zum Firmengeflecht von Johann Rupert gehören Banken, darunter Teile der Konkursmasse von Lehmann Brothers, wie auch Spitäler, unter anderem die Hirslanden-Gruppe.

Aus demselben Holz geschnitzt ist der Amerikaner Michael Mack, der seit 2006 Syngenta leitet. Sein Vater musste mit 15 die Schule beenden und arbeitete dann bei Ford, vorwiegend in Nachtschicht. Die Grossmutter, die ihm Vorbild für eine inzwischen fast untergegangene Form der Landwirtschaft war, lebte als Bäuerin in Michigan.

Der amerikanische ABB-Chef Joe Hogan hat einen Kranführer zum Vater. Hogans Vorgänger Percy Barnevik stammt aus Schweden, der Vater besass eine kleine Druckerei. An der Spitze der Credit Suisse steht seit 2007 der Amerikaner Brady W. Dougan. Der Vielflieger mit zweitem Wohnsitz in den USA war das jüngste Kind einer Eisenbahnerfamilie.

Der grösste Teil der obersten Chefs der Schweizer SMI-Firmen stammt heute aus dem Ausland. «Die aktuelle Wirtschaftselite ist viel internationaler und erfahrener als früher», stellt Philippe Hertig, der geschäftsführende Partner von Egon Zehnder International, aus langjähriger Erfahrung als Executive Searcher fest. «Das Profil der heutigen Leader ist international, sie haben Multifirmen-Erfahrung mit breit gestreuten Führungsaufgaben und einer Top-Weiterbildung», bringt er es auf den Punkt. Der Beruf der Väter spielt nach seiner Meinung keine entscheidende Rolle, was der Blick auf die Liste der 20 aktuellen Schweizer Chefs in SMI-Firmen bestätigt (siehe Tabelle).

Eine steile Karriere trotz Kindheit in einfachen Verhältnissen ist also auch heute noch möglich und erstaunlich weit verbreitet. Der Unterschied zu früher ist, dass die heutigen Chefs eine hochqualifizierte Ausbildung an international renommierten Universitäten und Eliteschulen absolvieren konnten. In der Schweiz dominieren die Hochschule St.Gallen, die ETH und die Universität Zürich. Viele Lebensläufe verweisen auch auf Studien in Harvard, Berkeley, Singapur, Insead/Fontainebleau oder berühmten Institutionen in den Herkunftsländern der Chefs. Der Amerikaner Jo Jimenez, Lenker des Novartis-Konzerns, studierte beispielsweise in Stanford und Berkeley.

Internationale Karrieren in verschiedenen Ländern scheinen für diese «neuen Manager» die besten Garantien zu sein für den Weg nach ganz oben. «Dies macht die Schweiz von heute zu einer globalen Wirtschaftsmacht und der Preis dafür sind die internationalen Chefs», sagt Professor Norbert Thom, Leiter des Instituts für Organisation und Personal an der Universität Bern.

Die traditionellen Eigenschaften zählen

Es zählen also weder die Herkunft des Vaters noch der Pass, sondern allein die Fähigkeiten der Chefs, sich assimilieren und globale Unternehmen führen zu können. Viel weniger als erwartet wiegen für eine Chefposition heute die Privilegien der Herkunftsfamilie, sondern spezifische Fähigkeiten.

In seinem Buch «Klassenwechsel» hält der Basler Autor Markus Schneider fest: «Nie werden alle, die heute unten sind, morgen oben ankommen; aber einige schaffen es.» Die Aussichten für den sozialen Aufstieg seien intakt; nie hätten es so viele Kinder weiter bringen können als ihre Eltern.

Dafür verantwortlich sind besondere Eigenschaften. So zitiert Schneider etwa das Erfolgsrezept von Marcel Ospel, der in einem Arbeiterquartier in Kleinbasel aufgewachsen war, zunächst Banklehrling wurde und schliesslich zum Präsidenten der grössten Schweizer Bank aufstieg: «Was zählte, waren Disziplin, Leistung und Demut.»

Und die Chefs von morgen?

Von diesem Aufstieg sind laut Autor Schneider allerdings bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen, namentlich die Frauen, welche auch heute noch keines der grössten börsenkotierten Unternehmen leiten, Kinder bildungsferner Schweizer Eltern und Eingewanderte aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Für sie gelten obige Erfolgsregeln nicht. Ansonsten könne fast jeder ein Marcel Ospel werden, vorausgesetzt, er bringe jene Werte mit, von denen sich die jüngeren Generationen eigentlich schon verabschiedet haben: Tüchtigkeit, Demut, Durchhaltewillen, Sparsamkeit, Kampfgeist, Redlichkeit.

Professor Schultheis von der HSG geht ebenfalls davon aus, dass die Frauen ausgeschlossen bleiben. «Die Frauen werden auch in der nächsten Generation zu den Opfern zählen, selbst wenn sie ebenfalls herausragend ausgebildet sind», so sein Kommentar. Das liegt seiner Meinung nach daran, dass Frauen von verschiedenen, teilweise völlig anderen kulturellen Vorbildern und Haltungen geprägt sind als Männer.

Unter den künftigen Chefs grosser Firmen dürften nach Meinung der HSG-Forscher Karrieren wie vor 20 Jahren und zum Teil noch heute definitiv nicht mehr denkbar sein. Die Chefs, die bis in die 90er-Jahre hinein einen bäuerlichen Hintergrund hatten, hätten heute nach Überzeugung der HSG-Forscher keine Chance mehr.

Zwischen Elitenbildung und Karriere bestehe heute im Gegensatz zu früher eine glasklare Verbindung. Das Pilotprojekt der HSG skizziert eine Führungsgeneration von morgen, die sich schon heute gezielt, ehrgeizig und absolut zielgerichtet durch die Botschaften der Universitäten selbst zur Elite formen lässt.

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Hintergrund: Ausbildung und Auslandkarriere

Vor 20 Jahren:
Mehr Schweizer In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts dominierten noch die Schweizer Chefs in den grössten börsennotierten Firmen des Swiss Market Index (SMI). Zwölf Eidgenossen standen ein Schwede, ein Franzose, zwei Deutsche, zwei Amerikaner und ein deutsch-schweizerischer Doppelbürger gegenüber.

Heute mehr Ausländer
2011 hat sich die Herkunft der SMI-Top-Manager grundlegend gewandelt: Von den 20 Chefs haben nur noch 5 den Schweizer Pass, 15 sind Ausländer. Fünf davon sind Amerikaner, zwei Franzosen, zwei Deutsche, zwei Belgier, einer ist Südafrikaner, einer italienisch-schweizerischer Doppelstaatsbürger, einer Österreicher und einer britischer Staatsbürger.

Auch Ausbildung wird nationaler
Die Mehrheit der heutigen Top-Manager hat ungeachtet des sozialen Hintergrundes ein Studium absolviert, oft auch an internationalen Universitäten und Eliteschulen. Eine internationale Karriere in verschiedenen Ländern oder längere Auslandeinsätze für den Schweizer Arbeitgeber ebnen den Weg nach oben. Diese Tendenz wird künftig noch ausgeprägter spielen.

Frauen untervertreten
Kein einziger der 20 SMI-Titel wird damals wie heute von einer Frau geführt. In der obersten Führungsgilde liegt der Frauenanteil auch ausserhalb der SMI-Firmen bei blossen 8 Prozent. Auf Stufe Direktion finden sich im Schweizer Schnitt 14 Prozent Frauen.