Der junge Mann von der Stadtverwaltung wird abgelegt in der Schublade für ineffiziente Erbsenzähler, und den Bankangestellten versorgen wir bei den Abzockern: Jeder von uns hat es, das Regal mit den Schubladen, in die wir unsere Mitmenschen stecken. Damit alles seine Ordnung hat, damit wir den Überblick behalten. Denn die Welt ist extrem komplex, weiss auch Hubert Bienz, Arbeits- und Organisationspsychologe aus Rothenburg.

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Täglich prasseln Millionen von Informationen auf uns ein - sie müssen irgendwie verarbeitet werden. Würde unser Hirn die Daten 1:1 speichern wie ein Computer, hätten wir dauernd einen heissen Kopf und könnten nicht klar denken.

Schlimmer noch: Das hier gelesene Wort «Schwarzwäldertorte» wäre nur Buchstaben, Zeichen, Striche und Punkte, es röche nach Druckerschwärze und schmeckte nach Zellstoff und Leim. Doch unser Hirn arbeitet anders, es macht das gelesene Wort zum Konstrukt: Wir sehen die Torte, riechen den Kirsch, schmecken die Schokolade, spüren den Schlagrahm auf der Zunge. Und wir entwickeln ein Verhaltensmuster: Uns läuft das Wasser im Mund zusammen. Oder der Magen dreht sich - je nach Erfahrung mit der Köstlichkeit oder deren Bestandteilen.

Das Sortieren ist ganz nützlich

«Genauso funktionieren wir auch, wenn wir einem Menschen begegnen: Wir sehen ihn nicht so, wie er wirklich ist; wir bilden ein Konstrukt aus optischen, akustischen und taktilen Eindrücken und aufgrund unserer Erfahrung oder, wenn solche fehlt, aufgrund von Annahmen», erklärt Hubert Bienz. Und das sei gar nicht schlimm, sondern hilfreich. Eigentlich. Dumm ist nur: Wir vergessen sofort, dass wir konstruiert haben. Wir tun so, als wäre unser Konstrukt wahr. Wir verhalten uns dem selbst entwickelten Muster entsprechend - und erwarten, dass der andere dies auch tut.

Menschen zu schubladisieren, hat auch ganz praktische Gründe, weiss Sylvia Trächslin, Coach für Erwachsenenbildung sowie Fachfrau für Systemische Zusammenhänge und Rollenverhalten in Basel. «Es gibt uns das Gefühl, uns besser im alltäglichen Chaos orientieren zu können.» Und es hilft beim Sortieren nach Menschen, die uns nützlich sind beim Erreichen unserer Ziele oder beim Erklimmen der Karriereleiter - und solchen, mit denen wir uns besser nicht sehen lassen sollten.

Zudem diene Schubladisieren der Ego-Pflege: Man schafft sich «Kasten», damit man auf die dort einsortierten Menschen hinunterschauen kann - Arbeitslose etwa, Junge, Alte, Ausländer, Berufsleute mit tieferem Sozialstatus. Bienz: «Von ihnen können wir uns abheben, wir fühlen uns wertvoller - Balsam für ein angeknackstes Selbstwertgefühl.» Zu denen da oben gehören, um hinunterschauen zu können auf die da unten, ist laut Hubert Bienz ein von klein auf gelerntes Wertesystem. Als Kinder bewegen wir uns zunächst horizontal. Schon bald entdecken wir die Vertikale: Was höher ist, ist attraktiver als das am Boden. Später brauchen wir oben und unten als Metapher für Macht und kombinieren dies mit einer Wertung: Aufstieg, es geht bergauf, Top-Ziele, das Höchste der Gefühle, auf der Höhe sein. Und schliesslich sind «Die da oben» mehr wert als «Die da unten», steht der Ingenieur über dem Techniker, der Meister über dem Hilfsarbeiter, die Sekretärin über der Raumpflegerin. Schaue man nur auf den Lohn oder auf die Verantwortung der Betreffenden, stimme diese Wertung sogar. «Sie aber auf den ganzen Menschen zu übertragen, ist nun wirklich alles andere als ein hilfreiches Konstrukt», sagt Bienz.

Denn es verführe dazu, sich nur noch um das Thema «Besser-Schlechter» zu drehen. «Ich» bin also nicht ich - sondern ein Konstrukt. Genauer gesagt: Viele Konstrukte, denn jeder konstruiert mich so, wie er mich in seiner Welt haben möchte. Und will ich keinen Stress haben mit ihm, muss ich mich verhalten, wie es sein Muster vorsieht. Also eine Rolle spielen?

Für Sylvia Trächslin verhält es sich mit dem Rollenspielen wie mit dem Kommunizieren - unmöglich, es nicht zu tun. Mehrfach zu tun sogar: In der Familie, in der Freizeit, im Beruf, in der Politik, im Militär. Entscheidend aber sei, dass man die Rollen bewusst übernehme und ausfülle, nicht einfach nur gedankenlos darin funktioniere (siehe «Nachgefragt»).

Rollen nicht aufzwingen

«Rollen werden angeboten, ausgesucht und manche vielleicht auch aufgezwungen», sagt Hubert Bienz. Aber im Grunde könne man immer wählen - wenn man wolle. Manchmal spiele man lieber eine unangenehme Rolle als gar keine. Ob man sie dann gut ausfüllt, ist eine andere Frage: «Es ist, wie wenn ich Kleider trage, die mir nicht stehen oder die ich nicht mag - ich sehe darin eigenartig aus.» Man fühle sich unsicher und reagiere in seinem Muster: Flucht nach vorne, sich verkriechen, Wut, jammern oder dauerndes Entschuldigen.

Fatale Folgen habe das Aufzwingen von Rollen in einer Organisation, sagt Sylvia Trächslin. Wer in eine Rolle gedrängt wird, kann sein Potenzial nicht entfalten; er tut nur noch, was ihm gesagt wird. So entwickeln sich gute Leute zu «Sand im Getriebe»: Ihre Motivation, die Aufgabe eigenständig und kreativ zu lösen, sinkt dann auf null.



NACHGEFRAGT



Peter Müri, Arbeits- und Organisationspsychologe, Forch

Denken in «Kasten»: Warum schaut der Investment-Banker auf den Kollegen aus dem Kreditgeschäft hinunter?

Peter Müri: Früher war der Kreditfachmann in der Bank der Höchste. Diese Zeiten sind seit 20 Jahren vorbei. Seit es die Investmentbanker gibt, ist die Kreditfunktion weit tiefer angesiedelt, weil man damit nur eine verhältnismässig bescheidene Marge herausholt. Deshalb schauen Investment-Banker auf die Kollegen hinunter nach dem Motto: Die bringen doch gar kein Geld.

Und auf wen haben die Kreditfachleute früher hinuntergeschaut?

Müri: Auf die am Schalter.

Also spielt jeder seine Rolle. Suchen wir sie uns selber aus oder wird sie uns aufgezwungen?

Müri: Beides. Rollen werden durch Normen bestimmt, durch Gesetze, Verhaltensregeln, eine bestimmte Einstellung. Einige werden zugeordnet oder zugewiesen, manchmal sucht man sie sich aber auch selbst aus. Wenn ich Vater werde, übernehme ich die Vaterrolle. Diese ist so, wie es die sozialen Normen vorschreiben oder aber wie es meinem eigenen Rollenbild entspricht. Es gibt eine Normenhierarchie: Die persönliche Norm, die familiäre, die Norm des sozialen Umfelds, dem ich angehöre, und die der Gesellschaft insgesamt. Diese Normen können uns in eine Rolle zwingen: Ich kann mich fügen, die Rolle annehmen. Oder ich kann mir die Rolle selber zuteilen und mir die Normen selber geben - dann gelte ich als Aussenseiter und Spinner.

Und wer das nicht will, muss wider besseres Wissen mitspielen?

Müri: Hängt man jemandem ein bestimmtes Image an, wird er sich möglicherweise über kurz oder lang entsprechend verhalten. Obwohl er eigentlich von Natur aus gar nicht so wäre. Ein Handwerker zum Beispiel. Er sagt sich: Okay, ich bin Gipser. Wenn irgendwo Dreck liegen bleibt, wird dies sowieso mir in die Schuhe geschoben - wozu also aufräumen? Das heisst: Man übernimmt das Gewand, das einem umgehängt wird, und kann zum Träger des entsprechenden Schemas werden. Gut zu beobachten auch, wenn sich Menschen uniformieren - im Militär, im Zivilschutz. Manche erkennt man kaum wieder.

Wie kann man sich selber bleiben?

Müri: Es kommt auf den Charakter an. Und aufs Berufsethos, darauf, welchen Anspruch man an sich und seine Arbeit stellt, egal, welcher «Kaste» man angehört. Eine starke Persönlichkeit mit Führungsfunktion wird sich nicht so leicht blenden lassen von Prestige und Status, sie wird verantwortungsvoll mit ihrer Macht umgehen. Und die verantwortungsvolle Persönlichkeit auf der Baustelle wird den Arbeitsplatz sauber und aufgeräumt hinterlassen.