Es ist fast schade: Den Mann interessiert der herrliche Blick von seinem Büro auf den Zürichsee nicht. Das Pult hat er so positioniert, dass er die schöne Kulisse im Rücken hat. Dafür ist sein Blick frei auf den breiten Gang vor der Bürotür. Die lässt er offen, wenn er da ist. Als Einladung: «Jeder kann reinkommen.»

Seit Anfang September 2007 ist der 48-Jährige der Chef der Rückversicherung Scor Switzerland, wie Converium heisst, seit sie letztes Jahr von der französischen Konkurrentin Scor geschluckt wurde. Dagegen hatte sich der Converium-Verwaltungsrat lange gewehrt, hat Juristen und Behörden eingeschaltet, um den Widerstand zugunsten eines höheren Angebots von Scor dann doch aufzugeben.

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Nachfolger von Inga Beale

Gentsch hat den Abwehrkampf aus nächster Nähe miterlebt, als Mitglied der Converium-Konzernleitung. Gefragt nach Brüchen in seiner Karriere, erwähnt er ihn aber nicht. «Brüche sind meine Sache nicht», sagt Gentsch stattdessen, «ich schätze Stetigkeit.» Ein Blick auf seinen Lebenslauf macht klar, was er meint: Lic. oec. HSG Gentsch hat vor 22 Jahren bei der damaligen Union Rück als Assistent im Underwriting, also jener Abteilung, die die Rückversicherungspolicen verkauft, angefangen. Heute gehört er international zu den besten seines Fachs.

In der ganzen Zeit hat er den Arbeitgeber nur einmal gewechselt, 1998, als die Union Rück ihre Selbstständigkeit verlor und in der Swiss Re aufging. «Ich wollte nicht zur Swiss Re, das war mir ein zu grosser Apparat.» Gentsch ist lieber ein grosser Fisch in einem kleinen Teich als umgekehrt.

Daher wechselte er zur Rückversicherung des Zürich-Konzerns, in dem er neue Geschäftsbereiche aufbauen konnte und dies mit der Expansion nach Übersee und mit der Entwicklung der Specialty Lines auch mit grossem Erfolg schaffte. 2001 wurde die Zurich Re vom Konzern abgespalten und als Converium an die Börse gebracht. Wenig später stürzte Converium wegen Verlusten in den USA jäh in die Verlustzone, CEO Dirk Lohmann musste gehen. Er wurde ad interim ersetzt durch Terry Clarke, bis dahin VR-Delegierter von Converium. 2006 bezog die Engländerin Inga Beale das Chefbüro am General Guisan-Quai 26. Nach verlorener Schlacht gegen Scor räumte sie nach einem Jahr das Feld und machte Platz für Gentsch.

Emotionale Distanz wahren

Seither ist der Thurgauer ein grosser Fisch in einem grossen Teich. Scor ist dank der Akquisition von Converium die weltweite Nummer fünf der Branche – am 19. März 2008 veröffentlicht der Konzern seine Jahreszahlen – und Gentsch ist Mitglied der Konzernleitung. Als solches führt er Scor Switzerland mit 300 Mitarbeitern und verantwortet die Spezialsparten, Joint Ventures und sogenannte Business Solutions, Grosskundengeschäfte, mit einem Volumen von rund 1 Mrd Euro und damit 40% des gesamten-Nicht-Lebengeschäfts.

Für Gentsch war mit diesem Karrieresprung ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen: «Es ist eine grosse Befriedigung für mich, hier die Gesamtverantwortung zu haben», sagt der Manager.

Börsengang, Fastbankrott, Köpferollen, Übernahme – Gentsch hat allen Krisen getrotzt und seine Karriere weiterverfolgt. Er habe ein grosses Talent, emotionale Distanz zu wahren, wann immer Geschehnisse ihn nicht unmittelbar betreffen, analysiert ihn einer seiner Kollegen. Könne Gentsch seinen Job gemäss seinen Vorstellungen erledigen, sei für ihn die Welt in Ordnung, auch wenn sie für andere zusammenbricht. Gentsch dazu: «Das hat was.»

Als Gentsch erzählt, was er im Abwehrkampf gegen Scor für eine Rolle spielte, wird deutlich, wo er Grenzen zieht: «Ich hätte recht früh mal einen Erkundungstrupp zu Scor geschickt, um die Temperatur zu fühlen», sagt Gentsch, «aber ich habe die Verhandlungstaktik nicht geführt, sondern der Verwaltungsrat, und das habe ich akzeptiert.» Tatsächlich ist der Name Gentsch im Zusammenhang mit dem Abwehrkampf nie gefallen. Von seinem Know-how und seinen Kundenbeziehungen abgesehen dürfte ihn dieses Verhalten für den Posten als Chef Scor Schweiz und Scor-Konzernleitungsmitglied qualifiziert haben.

Von Zürich aus etwas bewegen

Dass er in Zürich das Sagen bekommen hat, wird rundherum als positiv gewertet: Den Analysten gefällts, weil damit einer dirigiert, der das Geschäft von Grund auf kennt und beherrscht. Für die Belegschaft wiederum verkörpert Gentsch die Hoffnung, dass die ehemals stolze Converium unter dem Dach von Scor mehr sein wird als eine Filiale. Das Konzept dazu sieht vor, dass Scor Switzerland als Hub Aufgaben für den Gesamtkonzern übernimmt. Gentsch wollte das konkretisiert haben, bevor er den Vertrag unterschrieb. Von Mai bis September letzten Jahres hat er mit Scor-CEO Denis Kessler darüber verhandelt, welche Verantwortlichkeiten und Kompetenzen künftig in Zürich angesiedelt sein werden.

Mit dem Erreichten scheint er zufrieden. «Fortan auch in Zürich interessante Aufgaben anbieten zu können, war mir das Wichtigste», sagt er. Noch ist zwischen Paris und Zürich ein Seilziehen um Kompetenzen im Gang. Gentsch nennt das «ein Geben und ein Nehmen». Wie lange es noch dauert, bis Scor Switzerland ihre Rolle gefunden haben wird, weiss er noch nicht. Nur so viel: «Ich kann einiges bewirken.»

Mitarbeiterführung hat Gentsch on the job gelernt. Gefragt nach seinem Stil, antwortet er kurz: «Ich höre zu, delegiere und vertraue.» Intern gilt Gentsch als Manager, der auf Leute eingeht und als einer, der bei Entscheiden nicht nur auf Zahlen und Fakten achtet, sondern auch auf seinen Bauch hört. «Stimmt», bestätigt Gentsch und erzählt, sein «grösster Misserfolg» gründe darauf, dass er seine Intuition einst weniger gewertet habe als vielversprechende Hochrechnungen: «Mit diesem Geschäft haben wir 5 Mio Pfund verloren.»

Das ist ihm seither nicht mehr passiert. Auch als seine Mitarbeiter in den USA ihm 2004 ein verlockendes Hypothekar-Absicherungsgeschäft präsentierten, winkte er entschieden ab. «Ich habe nicht verstanden, wie man aus diesem Geschäft Gewinne machen könnte», sagt Gentsch. Heute sind alle froh: Das Underwriting von Scor Switzerland ist dank diesem Entscheid von der Subprime-Krise verschont geblieben.

Im August gibts Klarheit

Eine Feuerprobe erwartet Gentsch im August. Dann läuft der Kündigungsschutz aus, den der Converium-Verwaltungsrat für die gesamte Belegschaft ausgehandelt hatte – ein Manöver, das Oberleutnant a. D. Gentsch nicht gemacht hätte: «Das Datum hängt wie ein Damoklesschwert über uns.» Er arbeitet schon jetzt an der Message, die dann alle von ihm erwarten. Ob in Zürich Jobs gekappt werden oder nicht, wisse er nicht, Entscheide seien noch nicht gefällt, sagt er. Versprechen will er nur eins: «Es wird Klarheit geben.»

Erwartungen aus Paris, Hoffnungen aus Zürich – dazwischen liegt Neunforn. Im Thurgauer Dorf, wo Gentsch als Sohn eines Weinbauern aufgewachsen ist, erholt er sich von seinem aufreibenden Job. Nicht, dass sich der Vielgereiste dort in seinem Haus verschanzt, im Gegenteil: Gentsch ist Mitglied im Neunforner Schützenverein, «300-m-Schiessen ist mein wichtigstes Hobby». Dazu amtet er noch als Gemeindepräsident.

Lokalmatador oder Top-Manager, welches ist der wahre Gentsch? «Beide», sagt dieser, «beides passt für mich.» Aber nun muss er los. Gentsch hat ein Dutzend «zufällig ausgewählte» Mitarbeiter zwecks Austausch zum Lunch in die bediente Kantine eingeladen. Das macht er regelmässig, auf dass sie einst kommen, durch die offene Tür.

Iris Kuhn Spogat
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