Esther Perel stammt aus Belgien – sie ist die Tochter zweier Holocaust-Überlebender und studierte in Israel. Sie machte sich in New York als Psychotherapeutin insbesondere für Paartherapie einen Namen. Phänomenen wie Untreue, Ghosting oder Beziehungsstörungen, die wir eigentlich nur aus dem Privatleben kennen, erkennt die Analytikerin und Bestsellerautorin auch in Verhältnissen zwischen Mitarbeitenden, Kunden und Marken. Firmen müssten ihr Beziehungsmanagement völlig neu denken. Perels Buch «Die Macht der Affäre» erschien Anfang des Jahres auf Deutsch.

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Warum sind Unternehmen daran interessiert, sich bei Ihnen Ratschläge zum Thema Seitensprünge zu holen?
Esther Perel: Da geht es nicht um das Liebesleben ihrer Angestellten. Unternehmen ringen um ein Verständnis moderner Beziehungen. Denn Untreue bezieht sich nicht nur auf das Liebesleben zwischen zwei Menschen, Untreue umfasst das gesamte Spektrum an menschlichem Drama.

Was genau wollen Topmanager denn von Ihnen wissen?
Unternehmen holen mich, damit ich erkläre, was die Kultur von Beziehungen ist, in der wir heute leben. Sie wollen die sich verändernde Natur von Beziehungen begreifen, denn unsere Erwartungen und Normen wandeln sich. Die Unternehmen brauchen jemanden, der ausspricht, was sie bei ihren Angestellten wahrnehmen, aber nicht greifen oder artikulieren können.

Was verändert sich denn nun konkret in Beziehungen?
Beziehungen waren noch nie so komplex wie heute. Früher basierten sie auf Pflicht und Verbindlichkeit. Rollen und Erwartungen waren klar bestimmt. Heute haben sich die klassischen Rollenverständnisse und sozialen Hierarchien in der westlichen Welt gewandelt. Beziehungen basieren nun auf Möglichkeiten, Wahl und Selbstverwirklichung. Die grossen Entscheidungen im Leben werden nicht mehr von der Gesellschaft vorgegeben, sondern müssen von uns selbst getroffen werden. Deswegen sind wir wie nie zuvor mit Selbstzweifel und Ungewissheit konfrontiert. Deswegen ist es für Unternehmen so wichtig zu verstehen, wie Beziehungen die berufliche Performance, Vertrauen in Kollegen, Teamwork und berufliche Zusammenarbeit beeinflussen.

Haben Sie ein Beispiel, wo das Verständnis von Beziehungen für Unternehmen besonders wichtig ist?
Nehmen wir das Stichwort Vertrauen. Wie definieren wir das heutzutage? Was bedeutet es, wenn ich sage, ich vertraue meinem Chef oder meinem Team? Und was bedeutet Vertrauen für Unternehmen? Nehmen wir als einfaches Beispiel einen Bettenverkäufer. Wenn ich ein Bett kaufe, möchte ich, dass es stabil ist, dass es mich trägt. Ich vertraue darauf, dass der Bettenbauer sein Handwerk versteht. Ich bekomme genau das Produkt, das ich haben wollte. Aber im Dienstleistungsgewerbe und im Internet ist das Vertrauen der Kunden schwerer zu gewinnen. Ich habe kein Produkt, an dem ich mich orientieren kann. Ich muss mich darauf verlassen, was mir der Dienstleister verspricht.

Vertrauen ist dann wohl auch besonders wichtig für Marken.
Marken profitieren von unserem Verständnis von Beziehungen. Was sich in unseren persönlichen Beziehungen verändert, spiegelt sich auch oft darin wider, wie wir uns gegenüber Marken verhalten. Wir personifizieren Marken und wir kommerzialisieren menschliche Wesen. Marken müssen verstehen, was es heisst, in einer Kultur des Begehrens und Verlangens zu leben. Wir alle wissen, dass Liebe wichtig ist. Heutzutage lassen wir uns aber viel mehr von Wünschen und Verlangen leiten und weniger von Liebe und Loyalität. Das bedeutet nicht, dass ich meine Nikes nicht mehr mag. Aber ich habe noch nie Pumas ausprobiert. Warum sollte ich denen nicht mal eine Chance geben? Für Marken ist entscheidend, zu verstehen, wie sie das Verlangen der von ihnen umworbenen Kunden effektiv kreieren; zu verstehen, wo Menschen noch Verbindlichkeiten eingehen in einer Welt, die uns stets «we can do better» suggeriert.

Dating-Apps wie Tinder machen es leicht, Affären zu finden. Auf Linkedin findet man unkompliziert neue Jobs. Trägt die Digitalisierung zur neuen Unstetigkeit bei?
Unsere Gesellschaft heute möchte, dass wir konsumieren. Um Menschen zum Konsum zu bewegen, muss man sie davon überzeugen, dass sie immer etwas Besseres haben können und sich ständig weiterentwickeln müssen. Das ist das Gegenteil der Kultur von Loyalität, Pflicht, Verbundenheit und Zugeständnissen, in der wir lebten, als die Kirche noch unser Leben bestimmte. Wenn du die Leute ständig dazu animierst, sich weiterzuentwickeln, darfst du dich nicht wundern, wenn sie zu Linkedin gehen, um sich einen besseren Job zu suchen. Das System stellt den Profit an erste Stelle, die Menschen weiter dahinter. Und jetzt gibt es Apps, in denen wir nach Partnern suchen wie nach einem Job.

Die Analytikerin

Name: Esther Perel

Funktion: Psychotherapeutin und Bestsellerautorin

Alter: 60

Wohnort: New York

Die Karriere: Perel arbeitet seit Jahren neben ihrer Tätigkeit als Therapeutin als Autorin und Podcasterin. Ihr Buch «Mating in Captivity» wurde als internationaler Bestseller in 24 Sprachen übersetzt. Ihr Ted-Talk «Untreue überdenken» wurde zwölf Millionen Mal abgerufen. Ihr Podcast «Where Should We Begin» gilt als einer der der zehn besten in den USA. Perel berät Firmen und Führungskräfte. 

Arbeiten Sie mit Unternehmen daran, zu alten Werten zurückzukehren?
Unternehmen verstehen mittlerweile, dass es «relational leadership» benötigt. Intelligenz in Sachen Beziehung, und zwar nicht nur bezüglich Emotionen. Und sie fangen an, sich zu fragen, was es braucht, um die Beziehungsperspektive einzunehmen. Sie benutzen zwar Codewörter wie Soft Skills oder Talent Development dafür, aber sie sprechen noch nicht darüber. Und sie fragen sich: Was muss ich bieten, damit meine Mitarbeitenden bleiben?

Inzwischen ist sogar Ghosting ein Thema bei Unternehmen – Mitarbeitende tauchen einfach ab und sind nicht mehr erreichbar. Um sich das unangenehme Kündigungsgespräch zu ersparen.
Sich einfach ohne Konflikt zurückzuziehen, ist ein wachsendes Thema, in romantischen Beziehungen wie auch im Berufsleben. Deswegen trainiere ich auch mit den Unternehmen Kommunikation – und das bedeutet, den Mitarbeitenden wirklich zuzuhören. Denn sie bleiben nicht nur, weil sie nicht gehen können. Denn wie auch in der Ehe ist es heutzutage nicht mehr verpönt, zu gehen.

Das erinnert an die Ehe zwischen Melania und Donald Trump – da wundern sich die Menschen, ob sie wohl vertraglich an ihn gebunden ist, weil sie trotz seinen vermeintlichen Seitensprüngen und Erniedrigungen an seiner Seite bleibt.
Heutzutage wird Bleiben nicht wirklich geschätzt. Wenn Menschen zu lange in einem Unternehmen sind, heisst es, sie hätten keinen Ehrgeiz. Wenn du in einer zerrütteten Ehe bleibst, heisst es, du hättest keine höheren Erwartungen an dein Leben. Wenn du bleibst, obwohl dein Partner dich betrogen hat, heisst es, du seist schwach – obwohl es manchmal doch echte Stärke zeigt, zu bleiben und sich den Problemen zu stellen. Für lange Zeit war eine Scheidung eine Schande. Zu bleiben, obwohl man die Wahl hat, zu gehen, ist heute die neue Schande. Über die Beziehung anderer zu urteilen und sie auf einen Betrug zu reduzieren, gibt dem Umfeld soziale Kontrolle – obwohl es überhaupt nicht nachvollziehen kann, was im Inneren der Beziehung vor sich geht.

Wie gross ist das Thema Untreue denn?
Untreue betrifft über 80 Prozent der Bevölkerung. Das ist sehr schmerzhaft und doch auf der ganzen Welt verbreitet. Historisch gesehen ist Betrug schon immer verpönt gewesen – und doch wird er seit jeher praktiziert. Egal ob jung, alt, homo- oder heterosexuell, egal ob verheiratet oder unverheiratet, glücklich oder unglücklich – Untreue kann in allen Beziehungen vorkommen. Und wir brauchen ein Verständnis von Untreue, das komplexer, menschlicher und empathischer ist und weniger urteilend, weniger schwarz-weiss.

Das heisst, wir müssen besser mit Untreue leben lernen, weil sie zu dominant ist, als dass man sie ausradieren könnte?
Untreue betrifft einen enormen Teil der Bevölkerung. Es ist nicht die Geschichte einiger fauler Äpfel. Genauso wie sexuelle Belästigung nicht nur ein paar faule Äpfel betrifft. Es ist das gesellschaftliche System, das solche Dinge toleriert, befürwortet und herabspielt. Man stürzt sich auf ein paar extreme Beispiele, regt sich darüber auf und denkt dann, man hätte sich davon befreit. Anstatt sich die Gesellschaft anzuschauen und zu überprüfen, warum wir die Dinge tun, die wir tun. Warum betrügen Menschen ihre Partner und Familien? Das sind meist keine notorischen Fremdgänger.

Sie meinen, ein Donald Trump, ein Dominique Strauss-Kahn oder ein Harvey Weinstein brauchen mehr Verständnis?
Man kann ein Objekt nicht studieren, indem man sich die extremen Beispiele anschaut. Man muss sich die Mehrheit anschauen. Und die Mehrheit, die Affären hat, war zuvor jahrelang treu. Warum gehen Frauen selbst in Ländern, in denen sie dafür bei lebendigem Leib verbrannt werden können, auf der Suche nach Liebe fremd? Weil wir Menschen sind, die nach einem Sinn im Leben, nach Glück und nach uns selbst suchen. Wir brauchen Aufmerksamkeit. Übrigens: Untreue ist kein geschlechtergerechtes Thema. Der einzige Grund, warum wir derzeit über Untreue diskutieren, ist, weil Frauen endlich dasselbe tun wie Männer. Als nur Männer fremdgegangen sind, haben wir lediglich gesagt: «Ja, das sind Männer. Sie tun eben, was Männer tun.»

Schon heute hat sich die Gesellschaft von einer Kultur der Loyalität zu einer Kultur des Verlangens entwickelt. Wie sieht die Zukunft aus?
Zurzeit handelt jedes zweite Buch zum Thema Beziehungen von Einsamkeit und Zugehörigkeit. Wir brauchen eine Balance zwischen Loyalität und Freiheit, zwischen Verbindlichkeit und Alternative, zwischen Sicherheit und Abenteuer. Denn wir brauchen beides. Wer zu sehr in eine Richtung geht, bekommt keine Luft mehr, droht zu ersticken. Auf der einen Seite droht das eigene Selbst auf der Strecke zu bleiben. Auf der anderen Seite steht die komplette Selbstverwirklichung – alles steht offen, aber man muss sich selbst entscheiden. Beide Extreme führen zu Krisen und dem Zerfall der Gemeinschaft. Kein Wunder also, dass sich die Menschen danach verzehren, andere Menschen im echten Leben zu treffen. Noch nie war der Bedarf nach Festivals und Meetups so gross wie heute. Das bestimmt die Zukunft – ausser künstliche Intelligenz beginnt, den Menschen zu dominieren.

Dieser Artikel erschien erstmals am 28.03.2019 auf handelszeitung.ch.