Der Shareholder Value ist nicht mehr viel wert. In einer gemeinsamen Erklärung bekundeten die Chefs von 181 amerikanischen Konzerngiganten am Montag, dass die Maximierung der Aktionärsgewinne nicht länger ihr Hauptziel sei. Sie, die Chefs, hätten sich ebenso an gesamtgesellschaftlichen Interessen zu orientieren. Und andere «Stakeholder» wie Konsumenten, Lieferanten und Arbeitnehmer stünden nicht weniger im Zentrum ihrer Bemühungen als die Aktionäre.

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«Der amerikanische Traum lebt, aber franst aus», sagte Jamie Dimon dazu; der Chef der Grossbank JP Morgan ist auch Präsident des «Business Roundtable», innerhalb dessen die Erklärung ausgearbeitet wurde.

In den USA wurde die declaration mehrfach als relevante Kehrtwende gedeutet (siehe etwa hier, hier und hier). Aber eigentlich hielt sie nur eine Binsenwahrheit fest: Das Prinzip, wonach sich Unternehmenschefs voll auf Gewinnmaximierung und Börsenkurse konzentrieren sollten, war überholt. Erstaunlich schien höchstens, wie lange es nach der Finanzkrise von 2008 noch herumgeistern durfte – zumindest als Schlagwort. 

«Mehr Freiheit, weniger Staat» – remember?

Genau besehen ist die gestrige Erklärung ein weiterer Abschiedsgruss an ein grösseres Denksystem – den so genannten Neoliberalismus. Vierzig Jahre nachdem Margaret Thatcher als Premierministerin in Grossbritannien antrat, vierzig Jahre nachdem in der Schweiz die FDP mit dem Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» die Wahlen 1979 aufmischte, ist die entsprechende Ideologie nur noch ein Schatten ihrer selbst. 

In Deutschland reden sie jetzt über eine straffere staatliche Industriepolitik. Sie führen gesetzliche Mietzinsbremsen ein und reden allen Ernstes über die Enteignung von Wohnungen. Oder sie reden zumindest halb ernst über die Kollektivierung von BMW.

In Italien soll der Betrieb der Autobahnen rückverstaatlicht werden. In den USA debattieren die Politiker, Ökonomen und Hedgefonds-Manager eifrig über ein Denkmodell namens «Modern Monetary Theory»: Es besagt, dass der Staat quasi endlos investieren und sich dafür in der eigenen Währung verschulden darf, da er ja am Ende alle Kredite durch Geldschöpfung tilgen könnte.

Quizfrage: Worüber wird nicht geredet?

Natürlich sind das nur ein paar Ideen unter vielen, und natürlich gibt es klare Gegenstimmen. Man könnte das Ganze also gelassen abtun als weitere Episode im ewigen Streit, wie das Verhältnis von Staat und Privaten am besten kalibriert werden soll.

Doch vielsagend ist dabei, worüber nicht geredet wird. Ein paar Stichworte dazu: Entstaatlichung, Standortwettbewerb, Deregulierung, Privatisierung, Bürokratieabbau, Globalisierung, Steuersenkung. Die starken Themen, nach denen unsere Gesellschaften ihren wirtschaftspolitischen Kompass lange ausrichteten, wirken passé.

Und das Wort Shareholder Value nahm sowieso längst keiner mehr in den Mund.

«Die Doktrin, dass die Märkte effizient sind, hatte ihre Glaubwürdigkeit schon in der Finanzkrise verloren.»

Trotzdem scheint es nötig, es einmal auszusprechen: Der sogenannte Neoliberalismus ist tot. Aussprechen muss man dies, weil «neoliberal» weiterhin als Schlagwort dient und selbst 2019 noch als machtvolle Idee gilt – als weltherrschaftlicher Geist, vor dem immer noch ständig gewarnt wird. Und das nicht bloss in 1.-Mai-Ansprachen.

Doch die Grundidee, dass die Märkte effizient sind und die marktwirtschaftliche Logik mehr und mehr Lebensbereiche erobern sollte, hatte ihre Glaubwürdigkeit schon in der Finanzkrise verloren. Danach machten die Lohnexzesse an manchen Konzernspitzen weiter vor, wie Marktversagen aussieht. Und die Klima- und Artenschutzprobleme zeigen heute jedem Gymnasiasten, dass gewisse Aufgaben wohl kollektiv angegangen werden müssen.

«Was nun aber fehlt, ist ein Alternativsystem – ein freisinniges Denkpaket für die Anforderungen von heute.»

Was man ab den 1980ern «neoliberal» nannte, war die Einengung der grandiosen liberalen Idee auf ein paar plumpe Wirtschaftsdoktrinen – Staatsbetriebe sind ineffizient, tiefe Steuern sind prinzipiell besser, der Markt regelt alles; und was den Aktionären nützt, nützt allen. Der Realitätscheck hat inzwischen vielfach gezeigt, dass die Welt nicht so simpel ist. 

Dies wiederum erklärt, weshalb staubige Kollektivierungs- und Regulierungsideen aus der Vor-Zeit wieder hochkommen. Dabei haben doch gewisse sozialistische Exzesse dasselbe gelehrt wie gewisse neoliberale Exzesse: Doktrinen bieten keine Lösungen. Was nun aber fehlt, ist ein Alternativsystem – ein überzeugendes Denkpaket im freisinnigem Geist für die Anforderungen von heute.

Margaret Thatcher übrigens hätte sich selber nie «neoliberal» genannt. Sie bezeichnete sich als konservativ und war stolz darauf.