Amanda Fischer* sitzt wütend am Schnittpult. Die Chefin hat sie vor allen Teammitgliedern bis auf die Knochen gedemütigt. «Ihr Film hat die Qualität eines Praktikantenbeitrags», sagte die Redaktionsleiterin des Privatsenders zur gestandenen Redaktorin. Er müsse für die Sendung nochmals neu geschnitten werden. Fischer fühlt sich nicht das erste Mal unkorrekt behandelt und beleidigt. Sie will darum beim Chef der Station vorsprechen. Und dass die Chefin während der Arbeitszeit zur Maniküre geht, will sie auch gleich offenlegen.

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Susanne Spülbeck beobachtet regelmässig, wie unzimperlich Mitarbeitende in Konzernen miteinander umgehen. Kritik, die ungerechtfertigt oder vor anderen ausgesprochen wird, sei sehr verletzend, erklärt die promovierte Organisationsethnologin. Die Fachfrau wird gerufen bei Fusionen, Umstrukturierungen - oder einfach bei zwischenmenschlichen Konflikten. «Ich beobachte immer wieder Unternehmenskulturen, die dysfunktionale Symptome aufweisen, weil das Management die verborgenen Spielregeln nicht kennt oder ignoriert. Manchmal sind Abteilungen sogar kleine Königreiche, die von ihren Chefs quasi gegeneinander regiert und verteidigt werden.»

Wer wird von wem unterbrochen?

Um diesen Spielregeln auf die Spur zu kommen, setzen Spülbeck und ihr Team die Methoden der Ethnologie ein: Während der Feldforschung begleiten sie jeden Tag einen anderen Mitarbeiter im Arbeitsalltag, in Meetings, in der Mittagspause. In Gesprächen achten sie auf Interaktionen, Kommunikationsspiele und Rituale. Mit Schreibblock und Stift setzen sich Spülbecks Mitarbeiter in Sitzungsräume und beobachten das Verhalten rund um den Tisch. Wer wird von wem unterbrochen? Wer darf ausreden? Wie wird Kritik geäussert?

Kürzlich hat die Expertin in einer Kadersitzung beobachtet, wie der Finanzchef vom obersten Firmenchef gnadenlos abgekanzelt wurde: «Für Ihre Zahlenspiele interessiert sich doch niemand.» Kein Wunder, dass eine Diskussion daraufhin nicht mehr stattfand und der Finanzchef danach sehr gekränkt wirkte.

Norbert Semmer, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Bern, weiss aus eigener Erfahrung, dass Blossstellen in Firmen nicht unüblich ist. Nicht selten haben Vorgesetzte, die Mitarbeiter beleidigen, eine tyrannische Ader. Semmer nennt vier Eigenschaften eines Tyrannen: Kritikunfähigkeit, Inkonsequenz, kein Gehör für Mitarbeiter und Respektlosigkeit. Der Professor rät, Kritik immer nur unter vier Augen zu äussern und auch diese höflich und mit Respekt anzubringen: «Ein gesundes Unternehmen zeichnet sich unter anderem durch respektvollen Umgang aus.» Daher kann er etwa auch die Frustrationen der UBS-Belegschaft angesichts des neuen Qualifikationssystems nachfühlen.

Der Organisationsethnologin Spülbeck ist in der Feldforschung jedes Detail wichtig, weil alles den Arbeitsalltag prägt. Oft steht sie bei der Kaffeemaschine, weil die Mitarbeiter dort sehr gesprächig werden. Während sie an der Tasse nippt, beobachtet Spülbeck die Körperhaltung der Plaudernden: «Stressbelastung und Konflikte werden sehr schnell in der Körpersprache deutlich.» Da steht ein Chef breitbeinig vor seinem Mitarbeiter, seine Arme in die Hüften gestützt. Ganz klar: Er fühlt sich überlegen und zeigt dies. Nebenan drückt sich eine Kollegin an die Wand, die Hände hinter ihrem Rücken, die Füsse eng zusammen, der Blick unstet: Sie wirkt unsicher und ängstlich.

Will sich ein tyrannischer Chef von der besten Seite zeigen, kann auch das sehr aufschlussreich sein. Spülbeck machte schon oft interessante Beobachtungen: «Vorgaukeln falscher Tatsachen funktioniert nicht, weil die Mitarbeiter niemals mitspielen.» Wenn beispielsweise ein Vorgesetzter vor Spülbeck den Kameraden mimt und seinem Mitarbeiter die Schulter tätschelt, dieser aber nicht darauf reagiert, zieht Spülbeck ihre Schlüsse: Der Mann stellt sich «gutes Management» vermutlich so vor, kann es aber nicht umsetzen.

In der mangelnden Transparenz erkennen die Fachleute eine besonders schlechte und tyrannische Unternehmenskultur. Hat der Chef die Einstellung «Wissen ist Macht», dann ist diktatorische Willkür nicht weit und sind Kränkungen programmiert. «In einem solchen Fall ist es wichtig, Massnahmen zu ergreifen, denn sonst ist das ganze Unternehmen gefährdet», erklärt die Ethnologin.

Die Taten der Tyrannen haben Folgen. Sie führen oft zu Rachegedanken, die wiederum negative Glaubenssätze provozieren. Semmer nennt zwei Beispiele: «Dem Vorgesetzten sagt man nicht alles» oder «Dann arbeite ich halt nur fürs Geld». Eine solche Einstellung sei äusserst destruktiv und prägend für die Arbeitsatmosphäre. Eine der schlimmsten Kränkungen von Seiten der Mitarbeiter ist für Spülbeck der direkte Gang zum obersten Boss. «Wenn Probleme nicht ausgehandelt werden und Mitarbeiter ihren Vorgesetzten übergehen, wird es problematisch», erklärt sie. Arbeitspsychologe Semmer ist sich aber sicher, dass sich ein guter Chef auch mal einen Fauxpas leisten könne, wenn der Rest stimme. Wenn der Umgang aber generell von Respektlosigkeit geprägt ist, sei jeder Fauxpas unverzeihlich.

Kündigung mit Folgen

Auch Amanda Fischer kann die Blossstellung der Chefin nicht einfach so wegstecken. Als sie beim Chef des Senders vorspricht, hofft sie auf ein offenes Ohr. Er reagiert hingegen sehr empfindlich und bittet sie, das Problem mit der Chefin selbst aus der Welt zu schaffen. Da Fischer keine Lust hat, sich auf weitere Kränkungen einzulassen, kündigt sie ohne Begründung. Kurze Zeit später wird die Chefin selber entlassen, weil sie einen wichtigen Drehtermin verschoben hat. Sie musste zur Maniküre.



«Blossstellung ist immer eine Kränkung»

René Hess,Psychotherapeut und Supervisor, Bern

Kann man selber entscheiden, ob man gekränkt sein will oder nicht?

René Hess: Ja und nein. Die Erfahrung einer Verletzung ist davon abhängig, wie ich die Aussagen meines Gegenübers interpretiere. Die Nachricht einer kränkenden Botschaft wird deshalb immer vom Empfänger mit festgelegt. Auf der anderen Seite wird jemand, der kränken oder verletzen will, immer Wege und Strategien finden, die ihn zum Ziel führen.

Machen Kränkungen auf Dauer krank?

Hess: Denkbar ist es schon, denn Kränkungen sind belastende Erfahrungen in Form von Stress. Stress schwächt das Immunsystem. Aber kausal kann man das nicht behaupten. Wenn jemand dreimal herablassend behandelt wird, dann wird er noch nicht gesundheitlich krank.

Wird auch die Atmosphäre krank?

Hess: Ja, unbedingt. Kränkungen und Verletzungen beeinträchtigen das Wohlbefinden von Menschen und deren Stimmung. Negative Stimmung wirkt sich auf die Teamkultur aus. Das zeigt sich etwa in einer verminderten Leistungsfähigkeit.

Wie kann ich es vermeiden, aufgrund einer Kränkung krank zu werden?

Hess: Hilfreich ist es, darauf zu achten, wie man miteinander umgeht und als Chef andere dazu einlädt, Kränkungen anzusprechen. Macht jemand von diesem Angebot Gebrauch, ist es wichtig, zuzuhören und die Situation zu klären.

Gehört humorvolles Blossstellen auch schon in den Bereich der «Kränkung»?

Hess: Blossstellung ist immer eine Verletzung oder Kränkung. Wenn man aber im Team gute Beziehungen hat, sind humorvolle Sprüche völlig okay. Ist die Atmosphäre angespannt, wird Humor häufig zur aktiven Form von Beleidigung.

Ist es von Vorteil, den Vorgesetzten auf eine Kränkung aufmerksam zu machen?

Hess: Grundsätzlich sollte man sich auf die Erfahrung stützen. Nimmt sich der Vorgesetzte jeweils Zeit für Klärungen, wird er ein offenes Ohr haben. Wurde man aber schon mal abgewiesen, dann wird sich mit grosser Wahrscheinlichkeit die Arbeitsatmosphäre verschlechtern. Im schlimmsten Fall muss sich der Mitarbeiter eine Kündigung überlegen.

Welche Kränkung würden Sie als die schlimmste bezeichnen?

Hess: Eine Kränkung, welche die Würde des Menschen angreift. Dazu gehören sexuelle und massive psychische Übergriffe. Zum Beispiel stellen die Sätze «Das ist unbrauchbar» oder «Sie sind unfähig» starke psychische Kränkungen dar.