Kaffee kochen – das ist in Unternehmen vor allem die Aufgabe von Praktikanten oder Assistentinnen. So zumindest das gängige Klischee. Dass Manager ihren Mitarbeitern einen Kaffee servieren, würde jedenfalls kaum jemand annehmen. Bei Evernote, einem weltweit tätigen Softwareentwickler mit Standorten unter anderem in der Schweiz und in Singapur, passiert aber genau das: Am Evernote-Hauptsitz in Kalifornien arbeiten regelmässig Führungskräfte im firmeneigenen Café «Dialog Box» als Baristas – und bereiten Mitarbeitern auf Wunsch Kaffee, Espresso, Cappuccino oder Latte Macchiato zu. Gratis. «Beim Einzug ins Firmengebäude haben wir ein kleines Café im Eingangsbereich eingerichtet. Nach der Eröffnung merkten wir, dass die Kaffeebar ein toller Begegnungsort für alle Mitarbeiter ist und viel Raum für informelle, ungezwungene Gespräche lässt», sagt Linda Kozlowski, Geschäftsleitungsmitglied bei Evernote. Um den Austausch und die Kommunikation zwischen allen Hierarchieebenen zu verbessern, bot Evernote Barista-Trainings für sämtliche Führungskräfte an. Die Nachfrage nach den Schulungen war bald so gross, dass mittlerweile nicht mehr nur Chefs, sondern alle interessierten Mitarbeiter teilnehmen und schichtweise im firmeneigenen Café anpacken können.

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Kampf der Kulturen

Ob Führungskräfte Kaffee kochen, Mitarbeiter und Führungskräfte sich teamübergreifend zum Mittagessen oder zum Sport verabreden oder ob Unternehmen gleich ihre ganze Firmenkultur auf den Kopf stellen: Immer mehr Unternehmen versuchen, Führungskräfte und Mitarbeiter näher zusammenzubringen. Sie überdenken und verflachen ihre zum Teil seit Jahrzehnten etablierten Hierarchien. Sie wollen weg von pyramidenartigen Top-Down-Strukturen und stattdessen vernetzt und auf Augenhöhe arbeiten. Der allmächtige Chef als Alphatier eines Unternehmens hat ausgedient.

Denn flache Hierarchien können in Unternehmen viel bewirken. «Wenn Mitarbeiter sich ernst genommen fühlen, mitreden dürfen und Verantwortung tragen, sind sie wesentlich engagierter», sagt Sunnie J. Groeneveld, Gründerin der Unternehmensberatung Inspire 925. Sie hat sich umfassend damit beschäftigt, was Mitarbeiter inspiriert und motiviert – und was Führungskräfte dazu beitragen können. «Ein ‹Chef zum Anfassen› statt eines Firmenpatriarchen ist ein wesentlicher Bestandteil einer modernen Unternehmenskultur», weiss Groeneveld.

Viele Schweizer Unternehmen haben das erkannt. Um die Bindung ihrer Mitarbeiter ans Unternehmen und deren Motivation zu steigern, setzen sie auf flache Hierarchien, Freizeit- und Entspannungsangebote für Mitarbeiter und mehr teamübergreifendes Miteinander im Arbeitsalltag.

In Startups sind flache Hierarchien und ein enges Miteinander von Chefs und Mitarbeitern meist ohnehin schon gang und gäbe. Sie haben oft noch wenig ausgeprägte Strukturen, teilweise auch mehrere Gründer, sodass es einen Firmenpatriarchen nicht geben kann. Flexibles Arbeiten ist oft von Anfang an Teil ihrer Unternehmenskultur, und innovative Geschäftsmodelle sorgen dafür, dass jeder Mitarbeiter gleichermassen zur Expertise beitragen kann. Bei DeinDeal.ch etwa, einem Online-Shopping-Portal, war das so. Das Unternehmen begann im Jahr 2010 als Startup und hat heute 150 Mitarbeiter. «Wir haben am Anfang alles selbst gemacht, von der Grafik für die Website bis zum Zusammenschrauben der Bürotische», erzählt Amir Suissa, Chef und Mitgründer von DeinDeal.ch. «Moderne Führungskultur und flache Hierarchien gab es bei uns also schon immer.»

Das Unternehmen ist mittlerweile gewachsen, Praktikanten kommen und gehen. «Da ist es wichtig, dass man das kollegiale Miteinander auch bewusst fördert», sagt Suissa. DeinDeal.ch hat deshalb eine regelmässige «Lunch-Lotterie» eingeführt. Dabei ermittelt eine Software per Zufallsgenerator, welche Mitarbeiter an einem bestimmten Tag miteinander mittagessen gehen sollen. Sinn der Sache ist, dass Mitarbeiter aller Abteilungen und Ebenen sich untereinander kennenlernen. So kann es auch mal sein, dass beim gemeinsamen Mittagessen der Firmenchef und eine Praktikantin miteinander ins Gespräch kommen. Ein Gewinn für alle Beteiligten, findet DeinDeal-Chef Suissa: «Die Lunch-Lotterie ist gut für den Teamgeist, man lernt die Kolleginnen und Kollegen von einer persönlichen Seite kennen, was die Beziehungsebene fördert.» Vor allem wenn die Zugelosten sich vorher kaum kennen, sei das Treffen sehr ergiebig. Um das Miteinander aller Mitarbeiter auch nach Feierabend zu fördern, gibt es bei DeinDeal.ch mittlerweile auch einmal im Monat einen gemeinsamen Mitarbeiter-Kneipenbesuch nach Feierabend.

Im Gegensatz zu Startup-Unternehmen ist es für grosse, international aufgestellte und teils seit Jahrzehnten aktive Unternehmen dagegen weniger einfach, festgefahrene Strukturen aufzubrechen und mit einer neuen Führungs- auch eine neue Unternehmenskultur zu etablieren. Erste Bemühungen gibt es vielerorts: Firmen bieten etwa flexible Arbeitszeitmodelle an, nutzen Technologie zur schnelleren Kommunikation aller Mitarbeiter und Standorte untereinander. Oder sie kehren zurück zum guten alten Grossraumbüro.

Nicht nur für Startups

Bei der Versicherung Axa Winterthur wollte man das Thema Hierarchieabbau umfassend angehen. Nachdem das Schweizer Unternehmen im Jahr 2007 vom französischen Versicherungskonzern Axa übernommen worden war, gab es an den Axa-Standorten weltweit Initiativen, um die Unternehmenskultur zu verändern und alle Standorte näher zusammenzubringen. «Blaue Kultur» heisst das Konzept bei der Axa Winterthur. «Darunter verstehen wir einen Führungsstil, bei dem offene und authentische Kommunikation im Zentrum steht», sagt Dominique Kasper, Leiter Unternehmensentwicklung bei Axa Winterthur. Man wolle weg von der Macht der Führungsetage, hin zu mehr Eigenverantwortung des einzelnen Mitarbeiters und Verbindlichkeit untereinander.

Im Sinne der «Blauen Kultur» sind die Mitarbeiter der Axa Winterthur aufgefordert, ihre Meinung einzubringen, voneinander zu lernen und eigenverantwortlich ihrer Arbeit nachzugehen. «Unsere Kultur und deren Grundsätze sind ein wichtiger Bestandteil in den internen Führungsseminaren», sagt Kasper. Die Etablierung der «Blauen Kultur» funktioniere nur, wenn diese «top-down», also von oben nach unten, vorgelebt werde. «Wenn das Management nicht mitzieht, funktioniert es nicht.» Dementsprechend achte man mittlerweile schon bei Bewerbungsgesprächen darauf, dass ein potenzieller Mitarbeiter zur Unternehmenskultur passe.

Spielerischer Umgang

Ob blau oder nicht, ein Kulturwandel im Unternehmen kann nicht von heute auf morgen geschehen. «Das ist ein Prozess, der Zeit erfordert, und auch ein Umdenken aller Beteiligten», sagt Unternehmensberaterin Groeneveld. Schweizer Firmen sind, getrieben durch das steigende Bedürfnis nach einer hierarchie- und abteilungsübergreifenden Kollaboration und Kommunikation, zunehmend offener für innovative Führungsansätze. Behutsamkeit sei in der Schweiz aber angebracht, sagt Groeneveld: «Der Führungsansatz und die damit verbundenen Massnahmen müssen zum Unternehmen und seinem Kontext passen.» Dass sich etwa alle Mitarbeiter einer alteingesessenen Grossbank plötzlich duzen könnten, ist demnach ziemlich utopisch. Mit Hierarchieebenen im Rahmen eines Personalmanagement-Programms spielerischer umzugehen, hilft aber jeder Firma.

Buchtipp: 66 Ideen für mehr Innovation

  • Ideen: Nicht jedes Schweizer Unternehmen bietet seinen Mitarbeitern ein inspirierendes Arbeitsumfeld. Jedoch kann jeder – vom Chef über den Angestellten bis zum Praktikanten – viel dazu beitragen, die Kultur eines Unternehmens zu verändern, Hierarchien abzubauen und für mehr Innovation am Arbeitsplatz zu sorgen.

  • Rezepte: Wie das geht, warum das gut ist und welche Massnahmen Firmenangehörige dafür ergreifen können, das erklären die Autoren Sunnie J. Groeneveld und Christoph Küffer in ihrem Buch «Inspired at Work». Das Buch stellt 66 verschiedene Ideen vor, aufgeschrieben in Form eines Kochbuchs («Ziel, Zutaten, Zubereitung»), erklärt den Sinn und Zweck dahinter und bewertet anhand von Punkten, wie hoch die Kosten und der Zeitaufwand für die Idee sind.

  • Praxistipps: Dazu kommen 15 Praxisberichte und Interviews aus Unternehmen und mit Unternehmern. Alles in allem liest sich das Buch nicht nur mühelos, sondern birgt auch spannende Einblicke in Firmenkulturen und innovative Experimente mit Hierarchien.