«Unser Chef ist unmöglich»: Bei manchen Angestellten scheint es fast zum «guten Ton» zu gehören, sich über den Boss ausgiebig und undifferenziert auszulassen. Häufig wirken derlei Klagen als Ventil für beruflichen oder privaten Stress. Sicher darf der oder die Vorgesetzte nicht zum Sündenbock für alle Störungen des Betriebsklimas gemacht werden. Wenn aber nur schon die Hälfte aller Schimpftiraden über inkompetente, unfaire oder gar tyrannische Führungskräfte das berühmte Körnchen Wahrheit enthalten, müsste das Tabuthema «Wie gut sind unsere Chefs?» kritisch beleuchtet werden.
Dass die Beziehung zum Chef vielerorten getrübt ist, belegen diverse Studien. So ergibt eine Umfrage des Instituts für Mittelstandsforschung an der Universität Lüneburg unter rund 2000 Personen, dass fast 50% der deutschen Fach- und Führungskräfte mit ihrem Vorgesetzten unzufrieden sind. «In Deutschlands Chefetagen wimmelt es von unfairen und unfähigen Vorgesetzen», hat die deutsche Autorin Susanne Reinker beobachtet. Es sei quasi amtlich, dass die «Führungsschwächen der Führungskräfte für mangelnde Produktivität und Mitarbeitermotivation verantwortlich» seien, schreibt sie im Buch «Rache am Chef, Die unterschätzte Macht der Mitarbeiter». Führungsschwächen verursachten in Deutschland jährlich einen Wirtschaftsschaden in Milliardenhöhe, so Reinker.
Machtmenschen ohne Empathie
Mit ihrer Kritik ist Reinker nicht allein: «Es gibt viel zu wenig gute Führungskräfte», bemängelt Steven Sonsino, Professor an der London Business School. In seinem Buch «Seven failings of really useless leaders» nennt er sieben fatale Führungsfehler. Die schlimmsten Chefs sind danach jene, die Enthusiasmus, Inspiration, Engagement und Fairness abwürgen; in ihren Betrieben herrscht ein Klima von Unlust, Angst und Misstrauen. Diese Misere könnte System haben: Eine aktuelle niederländische Studie weist nach, dass Menschen in Machtpositionen weniger einfühlsam sind. Machtstreben und Empathie schliessen sich aus, so das Fazit.
Unfaire Chefs können krank machen: Britische Forscher begleiteten während Jahren rund 8000 Angestellte in der öffentlichen Verwaltung und stellten fest, dass unzufriedene Arbeitnehmer ein viel höheres Risiko für Herzkrankheiten aufweisen. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, wird aggressiv oder niedergeschlagen, was sich negativ auf die Gesundheit auswirkt. «Das Ende vom Lied: Herzinfarkt und Schlaganfall», so Susanne Reinker.
Die Ansprüche an Vorgesetzte werden allerdings oft derart hoch geschraubt, dass ihnen nicht einmal die talentiertesten Alphatiere genügen können. Der perfekte Chef beherrscht alles: Er ist hochkompetent in diversen Fachgebieten, kann gut zuhören, kommuniziert von Angesicht zu Angesicht, lobt und dankt regelmässig, lehnt Vetternwirtschaft vehement ab, bedient seinen Machthunger zuletzt, setzt seine Mitarbeitenden auch in Krisenzeiten nicht unter Dauerstress, ist weder Kontrollfreak noch Profilneurotiker, geschweige denn Opfer des «Peter-Prinzips» oder Fiesling.
Genau hier hakt der Berner Wirtschaftsmediator David Kaspar ein, der unter anderem Leadership-Seminare anbietet: «Schlechte Chefs sind in den wenigsten Fällen einfach nur unfähig.» (Siehe «Nachgefragt») Chefs bewegten sich in einem hochkomplexen Umfeld und stünden in einem massiven Rollenkonflikt: «Führungskräfte pendeln zwischen Mitarbeiterorientierung einerseits und Zielorientierung andererseits.» Sie müssten zu ihren Mitarbeitenden gute Beziehungen pflegen, gleichzeitig aber die Vorgaben von oben umsetzen. Mildernde Umstände für Chefs? Davon ist Autorin Susanne Reinker weit entfernt. Anhand teils haarsträubender Beispiele ortet sie bei Vorgesetzten eklatante Schwächen. Beispiel: Der Chef hat zwar nie Zeit, platzt aber ohne Vorwarnung ins Büro seiner Angestellten und schwafelt minutenlang. Das hochgelobte Zeitmanagement entpuppe sich hier als blosse Worthülse.
Die Misere spitzt sich in Krisenzeiten zu, denn bei düsteren Jobaussichten bleibt lediglich die innere Kündigung, die laut Reinker nicht als kühle Strategie, sondern als Reaktion auf Dauerfrust zu verstehen ist. Diese Haltung stelle sich oft erst nach jahrelangen Phasen von erstem Frust, verstärkter Anstrengung, erhöhter Kreativität und erfolglosen Gesprächen ein.
Folgenschwere Racheakte
Wer immer schluckt, statt sich zu wehren, wird krank. Dagegen belohnt sich selbst, wer Rache übt und den Vorgesetzten für erlittenes Unrecht bestraft. Die Racheakte frustrierter Angestellter schildert Reinker eindrücklich: Dienst nach Vorschrift, Ressourcenverschwendung, Diebstahl, Computersabotage. Derlei Aktionen bedeuten für betroffene Unternehmen erhebliche finanzielle Einbussen oder massiven Zeit- und Imageverlust. Diese volkswirtschaftlich verheerenden Konsequenzen erachtet die Autorin als Legitimation für ihre schonungslose Analyse; «Racherezepte» lägen ihr fern.
Ein Chef müsse seinen Kontrollzwang aufgeben, mehr Empathie zeigen, eine klare Vision kommunizieren und die Leute in Entscheidungen miteinbeziehen, fordert Steven Sonsino. Er plädiert für eine Betriebskultur, die Fehler erlaubt, Innovation fördert, «absolute» Gerechtigkeit pflegt.
Und was können die Mitarbeitenden tun? Wenn die Beziehung zum Chef auch nach zig intensiven Rettungsversuchen düster bleibt, könnte es sich aufdrängen, das Glück bei einem anderen Chef zu versuchen. Im allerbesten Fall räumt der schwierige Chef seinen Posten vorher von selbst ?
NACHGEFRAGT
«Eine ?Schnellbleiche? für Chefs reicht nicht aus»
David D. Kaspar (MLaw) ist Executive Coach, Business Consultant und Wirtschaftsmediator; Kaspar Consulting and Network, Bern.
Wird nicht häufig nach dem «Peter-Prinzip» der am besten angepasste Mitarbeiter eines Tages Chef, obwohl er gar nicht dafür geeignet ist?
David Kaspar: Bewährte Leute mit hohen fachlichen Fähigkeiten erhalten früher oder später Führungsaufgaben. Dabei zeigt sich ein Phänomen: Ein Teil dieser Personen gelangt mit den neuen Aufgaben an die persönlichen Grenzen und wird als unfähig erlebt. Diese Leute stellen fest, dass Führungsaufgaben neben Fachkompetenz zusätzliche Qualifikationen erfordern.
Wird man zum Chef geboren - oder eben nicht?
Kaspar: Es gibt wie überall Naturtalente. Oft werden jedoch Chefs für ihre Führungsaufgaben zu wenig ausgebildet. Es wird zum Teil immer noch unterstellt, dass man komplexe Führungsaufgaben durch eine technische oder betriebswirtschaftliche Ausbildung plus einige Tage Führungsseminar bewältigen könne. In der Praxis zeigt sich oft, dass eine solche «Schnellbleiche» nicht ausreicht.
Welches sind die spezifischen Herausforderungen an Vorgesetzte?
Kaspar: Anspruchsvolle Führungsaufgaben bewältigt man nicht nur durch das Erlernen der sogenannten Soft Skills - etwa in den Bereichen Kommunikation, Konfliktmanagement, Verhandlungsführung - , sondern auch durch die Klärung der eigenen Führungsrolle in zwei unterschiedlichen Spannungsfeldern.
Worin bestehen diese?
Kaspar: Das erste Spannungsfeld besteht darin, komplexe Ziele in einem hochkomplexen Umfeld und in wechselnden Rahmenbedingungen sowie unter Zeitdruck zu erreichen. Dies bedingt, dass man kreativ wird und bereit ist, Nebenwege zu gehen. Dies kostet aber Zeit, was der Vorgabe, schnell ans Ziel zu kommen, widerspricht. Dabei müssen Führungskräfte, trotz der meist in der Aufgabe liegenden «Unsicherheit», so tun, als hätten sie alles im Griff.
Und das zweite Spannungsfeld?
Kaspar: Ein Chef steht in der Spannung zwischen Mitarbeiter- und Zielorientierung. Um seine Ziele zu erreichen, instrumentalisiert er bis zu einem gewissen Grad seine Mitarbeitenden. Er braucht gute Beziehungen zu diesen, darf aber keine Nähe zulassen, die diesen Instrumentalcharakter zu stark überlagern könnte. Für den Chef müssen die Ziele stets vorgehen. Es entsteht ein Verhalten der doppelbödigen Beziehungsgestaltung: Hier «Wir-Gefühle», dort unternehmenspolitische Manipulation.
Was kann ein Chef, was können seine Mitarbeitenden beisteuern?
Kaspar: Die eigene Führungsrolle muss sauber geklärt werden. Hilfreich sind ein reflektierender Umgang mit sich selbst und das konstante Einfordern ehrlicher Feedbacks vom relevanten Umfeld.
Wie führt ein guter Chef?
Kaspar: Er hinterfragt sich und seine Aufgabe kritisch, ist bereit, immer wieder Neues zu lernen, führt gelassen, transparent und wertschätzend.