Frau Weibel, New Work und Arbeitswelt 4.0 sind in aller Munde. Was ist dran an diesen Trendbegriffen?
Das ist meist alter Wein in neuen Schläuchen. Wenn ich sehe, was alles unter diesen Begriffen diskutiert wird, muss ich sagen: Das gab es schon vor 20 Jahren. Neu ist das Ausmass, wie Unternehmen die Mitarbeitenden jetzt zu Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstorganisation ermuntern. Weitere Themen sind flache Hierarchien und geteilte Führungsmodelle, die sogenannte Heterarchie.

Auch die Digitalisierung treibt die Selbstorganisation voran.
Die neuen Technologien ermöglichen Firmen und Mitarbeitern Arbeitsmodelle wie flexible Arbeitszeiten, Homeoffice oder Co-Working. Ob das die Motivation und Selbstbestimmung vorantreibt, hängt vor allem vom Mitarbeiter ab. Aber die Digitalisierung bringt noch andere Herausforderungen mit sich: Viele Firmen merken, dass ihnen in bestimmten Bereichen die Arbeitskräfte fehlen. Die Mitarbeiter haben vermutlich bald mehr Entscheidungsmacht.

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Das heisst, in Zukunft entscheiden die Mitarbeiter, wo sie arbeiten?
So absolut würde ich es nicht formulieren, aber Mitarbeiter können ihre Position nutzen, um von ihrem Arbeitgeber Arbeitsmodelle zu fordern, mit denen sie zum Beispiel Beruf und Familie besser verbinden können. Die Kehrseite der Digitalisierung ist aber, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter überwachen können.

Schweizer Unternehmen überwachen ihre Mitarbeiter?
In der Schweiz gibt es noch gesetzliche Regelungen, aber in den USA ist das durchaus Praxis. Die Möglichkeiten sind grenzenlos: Durch die Technologie können Vorgesetzte mit Hilfe von Programmen sehen, wie effizient ihre Mitarbeiter sind. Ich bin mir sicher, diese Entwicklung wird es auch in der Schweiz geben.

Wie können sich die Mitarbeiter dagegen wehren?
In erster Linie muss das Personalmanagement sensibilisiert werden und die Möglichkeit bekommen, Einsprache gegen solche «Big Brother»-Praktiken zu erheben. Es geht darum, die Technologie zum Wohl von Unternehmen und Mitarbeitenden zu nutzen. Oder es muss eine Möglichkeit für die Mitarbeiter geben zu sagen: Ich mach da nicht mit. Das ist aber schwierig, denn es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis.

Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung noch auf die Arbeitswelt?
In erster Linie muss sich die Gesellschaft über die Ausbildungsproblematik Gedanken machen. Es gibt viele Menschen, die nicht das nötige Wissen mitbringen und sich dieses erst aneignen müssen. Zum Beispiel die Migros-Kassiererin. Ihre Tage sind gezählt. In diesem Bereich muss man noch schneller nach Lösungen suchen, wie man Menschen umschulen kann.

Viele Firmen führen neue Arbeitsmodelle wie Liquid Work oder Open Offices ein. Eine gute Entwicklung?
Ich finde es gut, wenn Unternehmen damit experimentieren. Allerdings ist wichtig, dass der Kontext und die Kultur passen. Man muss den Mitarbeitern mehr Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Am besten ist eine vertrauensbasierte Führung, eine Chefin, die genau schaut, was ihre Mitarbeiter brauchen. Bei Open-Office-Modellen geben Mitarbeiter zudem häufig an, sich schlecht konzentrieren zu können. Es braucht ein Konzept, bevor man in diesen Bereichen umstrukturiert. Viele Unternehmen sparen damit auch einfach nur Geld.

Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement am Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen.

Wünscht sich mehr Vertrauen: Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement am Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen.

Quelle: ZVG

Welche Arbeitsmodelle liegen bei Unternehmen noch im Trend?
Es gibt drei verschiedene Systeme. Erstens das klassische, in dem der Mensch die Ressource ist und der Chef von oben nach unten dirigiert. Effizienz steht im Vordergrund, und die CEOs gelten als Superstars, die man für viel Geld halten muss. Die Mitarbeiter hingegen müssen funktionieren. In Zukunft könnte die Digitalisierung dieses Modell noch verstärken – Stichwort «Industrialisierung der Dienstleistung». Im zweiten System steht der Mensch im Mittelpunkt. Das Modell ist stärkenbasiert: Mitarbeitende können ihre Fähigkeiten ausschöpfen und werden dazu ermuntert, Fehler zu erkennen und die Qualität der gemeinsamen Arbeit zu verbessern. Vertrauen ist hier wichtig. Der Begriff der Fehlerkultur ist in aller Munde.

Und das dritte Modell?
Netzwerkorganisationen: Es geht um flache Hierarchien, und die Arbeit wird über die Unternehmensgrenzen hinaus koordiniert. In Teams wird viel in und an verschiedenen Projekten gearbeitet. Es geht darum, Wissen zu bündeln und selbstbestimmt zu arbeiten.

«Es ist dringend an der Zeit, an Lösungen zu arbeiten, um das Wissen im Unternehmen zu halten.»

Antoinette Weibel

Das kann nicht jeder. Müssen Unternehmen vermehrt in Weiterbildungen investieren?
Weiterbildungen reichen nicht aus. Ziel ist hier das lebenslange Lernen. Mitarbeitende übernehmen selbst Verantwortung, in welchen Bereichen sie sich fortbilden müssen. Es ist Sache der Führung, den Mitarbeitern das nötige Vertrauen zu schenken, damit diese sich trauen, freier zu arbeiten. Zudem: Durch den demografischen Wandel geht den Unternehmen in den nächsten Jahren viel Wissen verloren. Es ist dringend an der Zeit, an Lösungen zu arbeiten, um das Wissen im Unternehmen zu halten.

Vertrauen und Motivation sind Ihre Forschungsschwerpunkte: Wie haben sich diese Aspekte verändert?
Der Hauptgrund, warum Mitarbeiter ihr Unternehmen verlassen, sind schlechte Beziehungen am Arbeitsplatz, vor allem zum Vorgesetzten. Noch nicht alle Führungskräfte haben es geschafft, den Mitarbeitenden zu vertrauen. Im Rahmen von New Work ist das aber eine Schlüsselkompetenz, die sich in den nächsten Jahren verändern muss. Aber das wird schwer.

Wieso?
Weil wir die falschen Voraussetzungen für Führungskräfte schaffen. Die Teams werden immer grösser. Für Vorgesetzte wird es somit schwieriger, alle Mitarbeiter kennenzulernen und schrittweise Vertrauen aufzubauen. Hinzu kommen die Hektik im Alltag und die vielen Meetings. All das kostet Zeit, die der Vorgesetzte dann nicht für seine Mitarbeiter hat. Diese Voraussetzungen haben sich in den letzten Jahren eher verschlechtert als verbessert.

«Unternehmen müssen anfangen, ihre CEOs nach anderen Kriterien auszuwählen. Erst dann wird sich die Unternehmenskultur ändern.»

Antoinette Weibel

Wie prägen die neuen Arbeitsmodelle wie Homeoffice oder flexible Arbeitszeiten den Führungsstil?
Heute arbeiten immer mehr Menschen zu Hause oder an anderen Orten als im Büro. Es liegt also beim Chef, die Zeit, die er vor Ort mit seinen Mitarbeitern hat, sinnvoll zu nutzen. Er muss das Team besser kennenlernen und aktiv Beziehungen pflegen. Der Chef von morgen wird mehr zum Beziehungskapitalmanager.

Wie beurteilen Sie den heutigen Stand?
Wir stehen am Anfang. Es gibt noch wenige New-Work-CEOs. Unternehmen müssen anfangen, ihre CEOs nach anderen Kriterien auszuwählen. Erst dann wird sich die Unternehmenskultur ändern.

Wie sollen Unternehmen an neue Arbeitstrends herangehen?
Trends niemals hinterherlaufen! Diese neuen Modelle müssen immer zum Unternehmen passen. Es gilt, den eigenen Weg zu finden und als Unternehmen Mut zu haben, Neues auszuprobieren.

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