Die Banken verriegeln ihre Tore, die ATM sind leer, überall fehlt es an Bargeld. Die Währung sackt ab, die Preise für Alltagsgüter steigen, der alte Staat ist kollabiert – und fast niemand kommt mehr aus dem Land heraus. Was momentan in Afghanistan passiert, entspricht den Angstvisionen vieler Krypto-Anhänger: Denn die sehen Bitcoin, Ether & Co. nicht nur als Spekulationsobjekt – sondern als rettende Alternative für den Fall, dass das Geld- und Bankensystem zusammenbricht. Und als Schutzwall gegen einen tyrannischen Staat.

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Krypto als Endzeit-Geld – das ist der tiefere Zweck, auf dem all diese Coins ihren Wert aufbauen. Und deshalb wird Afghanistan zu einem globalen Testfall: Im Land der Taliban wird sich auch zeigen, ob das Alternativgeld wirklich helfen kann. Ob es die Versprechen hält.

Für die Vertreter der Kryptobranche ist die Lage in Kabul jetzt schon ein Beweis für die Bedeutung ihrer Angebote.

Ist das wirklich so? Auch der amerikanische Wirtschaftskanal CNBC bemerkte, dass Afghanistan den «perfect test case» für Bitcoin und andere Kryptowährungen darstellt – und suchte Kontakt zu lokalen Investoren. Deutlich wird dabei das fatale Schnittstellen-Problem: Wer sein Geld in einem Wallet deponiert hat, kann damit in Afghanistan jetzt auch nicht mehr anfangen. Es ist genauso blockiert wie das Geld auf einem normalen Bankkonto.

Krypto als Fluchtgeld

Dies nicht nur, weil Stromversorgung und Internetzugang ständig unterbrochen werden; sondern auch, weil alle Alltagsgeschäfte im Land per Bargeld abgewickelt werden – während man die Bitcoin schlicht nicht flüssig machen lassen kann.

CNBC schildert zwei junge Männer, die sich für ihre stattlichen Binance-Depots inmitten der Krise schlicht nichts kaufen können und darauf angewiesen sind, Bargeld-Bündel zusammenzukratzen. Allerdings äussern beide Zeugen einen gewissen Optimismus: Sie hoffen, dank ihrer Kryptos später wieder Zugang zur internationalen Wirtschaft zu erlangen – unabhängig davon, wie sehr die Landeswährung Afghani versackt. Und sie können Familienmitglieder unterstützen, denen die Flucht ins Ausland gelang.

Eine Lage «wie in Venezuela»

«Wenn nicht rasch eine Regierung gebildet wird, könnten wir eine Situation wie in Venezuela erleben», sagt Musa Ramin, ein 27-jähriger Krypto-Anleger, zu CNBC. Die Token seien sein bester Schutz gegen die politische Lage. Und so will er die Krypto-«Exposure» nun auf 40 Prozent seines Vermögens steigern.

Offenbar empfindet ein Teil der Bevölkerung ähnlich. Soeben erschien eine Studie der Forschungsfirma Chainanalysis, welche die Durchdringung der verschiedenen Staaten mit Kryptowährungen aufzeigt. In diesem neuen «Global Crypto Adoption Index» stieg Afghanistan erstmals unter die führenden 20 Länder auf: Kryptowährungen werden dort jetzt reger genutzt als in der Schweiz oder allen EU-Ländern.

Chainanalysis erhob die Daten dazu im Juni und Juli – offenbar setzten die Leute im Land angesichts der akuten Taliban-Bedrohung verstärkt auf das Alternativ-Geld.

Coins als Finanz-Vehikel für Frauen

Doch eben: Das Umwandlungs-Problem macht die Coins nun auch zur Falle. Dies zeigt auch der Fall einer Programmier-Schule für Frauen, über den «Forbes» nun berichtet«Code to Inspire», so der Name der Schule, wurde unter anderem unterstützt von den Winklevoss-Zwillingen und nahm Kryptowährungen an. Die Schülerinnen in der westafghanischen Stadt Herat hatten ihr Wallet und bekamen Zuwendungen in Kryptowährungen. Dies ermöglichte ihnen finanzielle Unabhängigkeit ausserhalb des Bankensystems – ein anonymes Vermögen.

Über ein Bankkonto von «Code to Inspire» konnten sie dann ihre Coins in Afghanis wechseln. Dieser Weg ist nun verschlossen – nachdem die ausländische Bank der Schule, JP Morgan, die Überweisungen eingestellt hat. Unter anderem aus Furcht, am Ende als Terrorfinanziererin dazustehen. 

Lieber diskret

Wieviele Menschen sich dank Krypto nun wirklich einen Plan B aufbauen können, ist völlig unklar. Unübersichtlich ist die Lage auch, weil Bitcoin-Fans in Afghanistan offenbar lieber diskret bleiben. «Die Krypto-Community ist klein», meldet Farhan Hotak, ein 22jähriger Investor aus Kandahar, im Gespräch mit CNBC. «Sie wollen sich nicht treffen» – man wolle im Versteckten bleiben, bis sich die Lage geklärt hat.

Und so zeigt sich: Die Coins sind nicht die erhoffte starke Alternative. Sie befreien nicht aus dem herkömmlichen Geldsystem. Aber sie sind offenbar tatsächlich eine Hoffnung im Chaos.

Verblüffend zum Beispiel, dass sich in diesen Tagen eine junge Frau aus Kabul meldet, die in den letzten Jahren für andere Wallets programmierte und einrichtete. Sie wolle jetzt eine eigene Bitcoin-Wechselstube aufbauen, schreibt Janey Gak: Quasi eine Clearingstelle zur Umwandlung von Coins in Bargeld oder Waren. Und das im Kabul von heute, August 2021.

(rap)