Alles redet vom Euro – doch es geht um den Dollar

Mit dem Euro geht es bergab. Nicht erst seit den letzten Wochen, sondern bereits seit dem Frühling. Der Abwärtstrend der Einheitswährung im Vergleich zum Franken hat sich seit Anfang September aber noch verstärkt. Bereits vor dem Auftauchen der neuen Virusvariante Omikron notierte er so tief wie seit sechs Jahren nicht mehr. Nun droht die Einheitswährung dauerhaft auch unter die Marke von 1.04 zu fallen. So tief wie seit dem ominösen 15. Januar 2015 nicht mehr. Dieser Tag ist für immer in die Währungsgeschichte eingegangen: Damals hob die Schweizerische Nationalbank völlig unerwartet die jahrelang geltende Euro-Untergrenze von 1.20 Franken auf und löste damit regelrechte Schockwellen in der schweizerischen (Export-)Wirtschaft aus. Währungsschock war rasch verdaut Doch schon anderthalb Jahre später zeigte sich, dass die Schweizer Wirtschaft den massiven Währungsschock weit besser verdaut hat, als viele Schwarzmaler befürchtet hatten. Nach Ansicht der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH befand sich unser Land schon im Sommer 2017 wieder im Aufwärtstrend. Die Wirtschaft wachse sogar wieder deutlich stärker als erwartet, liess sie damals verlauten. Und knappe sieben Jahre später liegt das Bruttoinlandprodukt der Schweiz rund 10 Prozent höher als nach der Aufhebung des Euro-Mindestkurses. Für die Börse ein Non-Event Euro-Schwäche, was soll's? Die Schweizer Aktienbörse war vor knapp sieben Jahren nach dem überraschenden Währungseingriff der Nationalbank noch rascher zur Tagesordnung übergegangen als die Ökonomen. Nach einem kurzen Schreckenstaucher war der Kursschaden bereits innert zweier Monate wieder wettgemacht. Transaktions- und Translationseffekt Transaktionseffekt: Wenn Umsatz und Kosten nicht oder nicht im gleichen Ausmass im selben Währungsraum anfallen, kommt der Transaktionseffekt zum Tragen. Ein Unternehmen profitiert, wenn die Währung, in der die Einnahmen erzielt werden, steigt, während die Währung, in der die Kosten anfallen, fällt – und umgekehrt. Bei einem steigenden Dollarkurs ist es für Schweizer Unternehmen günstig, wenn sie im Dollarraum hohe Einnahmen, aber kaum Kosten haben. Marge und Gewinn werden sich erhöhen. Translationseffekt: Hier geht es um die Umrechnung von lokalen Ergebnisbeiträgen in die Bilanzwährung. Steigt der Wert der lokalen Währung zur Bilanzwährung, nehmen diese Beiträge zu. Bei einem höheren Dollar steigt also der Gewinn in der Bilanz in Franken gerechnet und umgekehrt. Die Börsianer hatten kurz mal nachgerechnet und dann kühl geurteilt: «Der Euro ist für die Kursentwicklung der Schweizer Aktienindizes praktisch irrelevant.» In der Tat: Was für die helvetische Börse währungsmässig wirklich zählt, ist der Dollar, die weltweit nach wie vor mit Abstand wichtigste Währung. Und der Greenback entwickelt sich in den letzten zehn Jahren ungewöhnlich stabil. Im Schatten der Euro-Krise hat sich der Dollar gegenüber den meisten anderen Währungen merklich gefestigt. Gegenüber dem Schweizer Franken pendelte er zumeist in einem engen Band zwischen 92 und 98 Rappen und seit dem Sommer vor acht Jahren, als er zeitweise deutlich unter 80 Rappen gefallen war, beträgt der Kursgewinn rund 15 Prozent. Dabei waren sich die Währungsexperten vor einigen Jahren praktisch einig, einen muskelgestählten Dollar werde es in nächster Zukunft kaum mehr geben. «Zu massiv sind die Defizite von Staatshaushalt und Leistungsbilanz der USA», erklärten die Währungsgurus damals fast unisono. Doch auch sie haben sich ganz offensichtlich getäuscht. Dollarkurs und SMI im Gleichschritt Die Stabilisierung des Dollarkurses freut neben der Exportwirtschaft insbesondere auch die helvetischen Aktienanleger. Denn sie wissen: Kann sich der Wechselkurs der amerikanischen Währung halten oder steigt er sogar, klettern nämlich früher oder später auch die Schweizer Aktienindizes. Im Verlauf der letzten Jahre hat sich dieser Zusammenhang immer wieder bestätigt. Und das geradezu verblüffend präzis. So hat der der wichtigste Schweizer Börsenindex, der SMI zwischen 2015 und dem Frühjahr 2016 rund 5 Prozent zugelegt, der Greenback knapp 3 Prozent. Weitgehend parallel verliefen die Kursentwicklungen ebenfalls in den ersten viereinhalb Monaten des laufenden Jahres. Die Dollarlastigkeit der Schweizer Börse ist nicht etwa eine bloss zufällige statistische Übereinstimmung, sie ist schon mehrfach in wissenschaftlichen Untersuchungen und in Bankstudien nachgewiesen worden. Die wichtigsten Fakten: Die Entwicklung des SMI wird massgeblich durch die Veränderung der Aktienkurse der höchstkapitalisierten Gesellschaften unseres Landes bestimmt, also von Nestlé, Roche, Novartis, Richemont und ABB. Allein diese fünf gewichtigsten Titel dominieren den SMI zu fast zwei Dritteln. Und bei allen diesen Unternehmen sind die Erträge stark von der Entwicklung des Dollarkurses abhängig. Nach Berechnungen der Bank Julius Bär macht der Dollaranteil bei Unternehmen aus dem Swiss Market Index (SMI) im Durchschnitt fast einen Drittel aus, bei den höchstkapitalisierten sind es sogar über 50 Prozent. In Europa wird dagegen nur rund ein Viertel der Umsätze erwirtschaftet, in den einheimischen Gefilden bloss 8 Prozent. Bei Nestlé sind es in der Schweiz sogar nur noch 1,3 Prozent. Für die SMI-Firmen sind Euro-Sorgen also tatsächlich nur von geringer Bedeutung. Der Dollar ist zudem noch immer die mit Abstand wichtigste Handelswährung der Welt, was bedeutet, dass sich die Schweizer Industrie auch auf dem deutschen und europäischen Absatzmarkt gegen eine vorwiegend in Dollar rechnende Konkurrenz durchzusetzen hat. Ein fallender Dollar hat deshalb für Schweizer Firmen nicht nur in den USA, sondern ganz generell einen Wettbewerbsnachteil zur Folge. Umso mehr als die grossen Schweizer Unternehmen nach Bankstudien einen vergleichsweise deutlich grösseren Anteil an Dollar-Geschäften aufweisen als die europäische Konkurrenz. Nach Schätzungen verbessert sich der operative Gewinn der helvetischen Grossunternehmen bei einem Dollaranstieg um 10 Rappen im Durchschnitt etwa um 3,5 Prozent. Langfristig spielen andere Faktoren Gewiss, die helvetischen Multis sind in den letzten Jahren verstärkt dazu übergegangen, sich gegen solche Währungsschwankungen abzusichern. Kurzfristig durch derivative Kursabsicherungsinstrumente wie Devisenterminkontrakte oder Währungsoptionen, langfristig durch Auslagerung der Produktion in den Dollarraum oder die parallele Verschuldung in Dollar. Zumindest kurz- und mittelfristig wird der Dollareffekt aber bestehen bleiben. Langfristig entwickeln sich Dollarkurs und die Schweizer Aktienindizes hingegen grundlegend anders. Im Zehnjahresvergleich sind helvetischen Aktienindizes um über 130 Prozent gestiegen, während sich der Dollar gegenüber dem Franken knapp behauptet hat. Parität ist bloss eine Frage der Zeit Wenn sich der Greenback auch in den kommenden Wochen zumindest auf dem aktuellen Niveau halten kann, ist dies eine gute Stütze für den helvetischen Aktienmarkt. Und weil die US-Wirtschaft konjunkturell bereits deutlich weiter vorangekommen ist als die schweizerische und europäische Wirtschaft, ist ein stabiler Dollar realistisch. Die europäische Einheitswährung muss sich dagegen wohl auch weiterhin mit hausgemachten Problemen beschäftigen. So lange wird der Dollar und vor allem auch der Franken immer wieder von Fluchtbewegungen aus dem Euro profitieren. Noch entscheidender sind aber die unterschiedlichen Inflationsraten. «Solange die Teuerungsrate in unserem Land tiefer ausfällt als im Euro-Raum, solange wird der Aufwertungsdruck auf den Franken anhalten», erklärt Finanzmarktprofessor Erwin W. Heri. Verändert sich die Kaufkraft der EU und der Schweiz im bisherigen Tempo, würde die Parität Franken–Euro in den kommenden drei bis vier Jahren erreicht. Kommt eine magische Grenze ist Sicht, geht es sehr oft aber auch schneller.