«Nestlé ist ein taktisch interessantes Ziel»

Der Ukraine-Krieg sorgt für eine neue Teilung der Welt. Hunderte Firmen haben sich aus Russland komplett zurückgezogen. Zahlreiche weitere haben ihr Business auf das Minimum reduziert. Es war eine Frage der Moral. Aber unterm Strich auch eine Frage des Pragmatismus, wie David Bach im Interview sagt. Bach ist Experte für die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik. Er lehrt an der Lausanner Kaderschmiede IMD, davor war er an der US-Uni Yale tätig. Yale spielt in einer Liga mit Harvard oder Princeton. Die Universität gehört zu den weltbesten. Ist eine Firma in der aktuellen Situation zu einem politischen Statement gezwungen? Ja, sie muss sich positionieren. Die wichtigen Stakeholder – Kunden, Angestellte, Investoren, die weitere Gesellschaft – wollen wissen, wo ein Unternehmen steht. Und je mehr Firmen Stellung nehmen, desto schwieriger wird es für die, die es nicht machen. Der Druck nimmt mit jedem Tag zu. Wie stark muss das Statement sein: Muss der komplette Rückzug aus Russland erklärt werden oder reicht ein einfaches Verurteilen der Invasion? Das ist ganz unterschiedlich. Es kommt darauf an, was von der Firma erwartet wird und welche Rolle sie in der öffentlichen Wahrnehmung spielt. Häufig ist es ein ganz pragmatischer Entscheid, der getroffen wird. Die Unternehmen wägen Chancen und Risiken eines Verbleibs ab. Dabei geht es zum Beispiel um die Möglichkeit einer Verstaatlichung der Vermögenswerte einerseits oder um mögliche Reputationsschäden in wichtigen Märkten anderseits. Macht es einen Unterschied, wo die Firma ihren Sitz hat? Die amerikanische Öffentlichkeit verzeiht weniger als die Schweizer. Eigentlich nicht. Im Kern steht eher die Frage, wie weit das Unternehmen auf eine Marke angewiesen ist. Unternehmen aus der Konsumgüterindustrie sind stärker exponiert als Firmen im B2B-Bereich. Tech-Firmen reagieren häufig schnell, weil die Angestellten intern ein hohes Gewicht haben. Wo das Hauptquartier eines Unternehmens steht, ist meist Nebensache. Es geht um die Frage, was die Aktiva einer Firma sind und wie sie geschützt werden müssen. Spielt es eine Rolle, ob eine Firma kotiert ist? Ja. In den letzten Jahren haben sich Aktionäre als gewichtige Stakeholder etabliert, gerade im ESG-Bereich. ESG-Ratings sind sehr sensibel, was Skandale angeht. Eine schlecht gemanagte Situation kann vieles von dem ausradieren, was in den Jahren davor Image-mässig richtig gemacht wurde. Öffentlich gehandelte Unternehmen sind also anfälliger. Unterm Strich ist es aber doch eine finanzielle Frage: Kann ich es mir leisten, alle Investments abzuschreiben? Natürlich spielen Finanzen eine Rolle. Aber bei den meisten Firmen hat der russische Markt nur eine untergeordnete Bedeutung. Da stellt sich die Frage, ob sich ein Engagement überhaupt noch lohnt. Der Handel ist massiv erschwert, Reisen sind problematisch, Zahlungen sowieso, dann das ständige Risiko der Verstaatlichung. Da ist es wirtschaftlich häufig nicht länger sinnvoll, weiter vor Ort zu sein. Das macht es im Umkehrschluss aber auch leichter, Stellung zu beziehen – und zu schliessen. Es ist leichter, das ethisch Richtige zu tun, wenn es gleichzeitig das Pragmatische ist. Warum steht Nestlé immer wieder im Rampenlicht? Das hat zwei Gründe: Aktivisten wollen erstens nicht nur das Verhalten einer einzelnen Firma verändern. Sie zielen auch auf den Signaleffekt. Wenn man zum Beispiel Nestlé dazu bringt, indonesisches Palmöl zu verbannen, oder Plastikverpackungen, dann geht das weit über die Firma hinaus und strahlt auf eine ganze Branche ab. Das heisst also, dass jene Unternehmen besonders verletzlich sind, die die grössten sind. Marktführer zu sein, steigert hier die Verwundbarkeit. Und zweitens? Nestlé war in den letzten Jahren bereits öfters in der Kritik. Das Unternehmen hat wiederholt auf starken Druck hin seine Position geändert. Das ist genau der Effekt, den Aktivisten wollen. Nestlé ist also ein taktisch interessantes Ziel. Nestlé sagt, analog zum Rest der Lebensmittelindustrie, man habe eine Verantwortung gegenüber den Konsumenten in Russland. Deshalb gäbe es keinen kompletten Rückzug. Überzeugt das? Das müssen die Stakeholder entscheiden. Die Kontroverse nimmt momentan noch Fahrt auf. Es ist noch nicht ganz klar, ob die Gesellschaft die Erklärung akzeptieren wird. Im Moment sieht es so aus, als ob sie das eher nicht tun würde. Sehen wir gerade das Entstehen einer neuen, zweigeteilten Welt? Auf jeden Fall. Und das Tempo kommt für viele unerwartet schnell. Die Teilung ist weitreichend. Da wirken der heldenhafte Kampf der ukrainischen Bevölkerung, die Bilder der Zerstörung im Land, die Führungsqualitäten von Selenski. Das alles hat dem Westen das Rückgrat gestärkt. Regierungen und Unternehmen tun etwas, was sie vorher nicht getan haben: Sie haben eine Weltmacht weitestgehend aus der internationalen Wirtschaft rausgeschnitten. Also ist das Gerede einer globalen Weltordnung nicht viel mehr als Augenwischerei. Wenn der Westen geeint auftritt, dominiert er die Politik. So sehen es zumindest Russland und China, aber auch viele Menschen in Südamerika, Afrika oder Asien. Ist das problematisch? Es ist zumindest dahingehend problematisch, dass gewisse internationale Institutionen zunehmend weniger Glaubwürdigkeit und damit Unterstützung haben. Die Welthandelsorganisation WTO etwa ist heute unter anderem deswegen deutlich weniger effektiv als vor zwanzig Jahren. Es ist der Eindruck entstanden, dass sie ein Teil der Strukturen ist, die der Westen geschaffen hat, um sein System durchzubringen. Wie nachhaltig ist die neue Teilung der Welt wirklich? Saudi-Arabien mutierte nach der Ermordung von Jamal Kashoggi kurz zum Paria-Staat, jetzt ist das Land wieder hoch im Kurs. Wie stark die Division ist, kommt wohl auch darauf an, was noch geschehen wird. Wenn passiert, was viele befürchten – nämlich dass der Krieg sich hinzieht, dass das menschliche Leid noch grösser wird –, wenn es keinen Kurswechsel bei der russischen Regierung gibt, wenn die ukrainische Bevölkerung weiter rebelliert, dann kann diese Teilung sehr nachhaltig sein.