Die Abgeordneten stimmten am Mittwochabend für ein Gesetz, das einen ungeregelten Austritt am 31. Oktober verhindern soll.

Auch seinen Antrag auf eine Neuwahl am 15. Oktober schmetterten sie ab. Johnson reagierte wütend im Unterhaus: «Das ist ein Gesetzentwurf, der dazu gemacht ist, das grösste demokratische Abstimmungsergebnis in unserer Geschichte umzudrehen, das Referendum von 2016.»

Bevor das Gesetz in Kraft treten kann, muss es noch das Oberhaus passieren. Dort versuchten Brexit-Hardliner mit einer Flut von Anträgen und Dauerreden am Mittwoch zunächst das Gesetz zu stoppen. Doch am frühen Donnerstagmorgen gaben sie nach: Regierung und Opposition einigten sich darauf, die Debatte nicht ins Wochenende hinein zu schleppen.

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Das Gesetz, das einen Brexit ohne Abkommen verhindern soll, scheint damit so gut wie sicher rechtzeitig vor der Zwangspause des Parlaments in Kraft treten zu können. Der Gesetzentwurf soll bis Freitagabend von den Lords im Oberhaus gebilligt werden.

Der von den Abgeordneten angenommene Gesetzentwurf sieht eine Verschiebung des bisher für Ende Oktober geplanten EU-Austritts bis zum 31. Januar vor, falls es keine Einigung auf ein Abkommen mit Brüssel gibt. Bei der Abstimmung nach dritter Lesung votierten im Unterhaus in London 327 Abgeordnete für die Vorlage und damit gegen den erklärten Willen von Johnson. Nur 299 votierten dagegen.

Für den von Johnson als Reaktion auf die Niederlage vorgelegten Plan vorgezogener Neuwahlen stimmten lediglich 298 Abgeordnete, die oppositionelle Labour-Partei enthielt sich. Für vorgezogene Neuwahlen nötig gewesen wären 434 Stimmen.

Stimmung droht zu kippen

Was den Sinneswandel bei der Regierung ausgelöst hat, war zunächst unklar. Nach der ersten Abstimmungsniederlage hatte Johnson 21 Tory-Rebellen aus der Fraktion geworfen, die gegen die eigene Regierung gestimmt hatten. Darunter so prominente Mitglieder wie den Alterspräsidenten und ehemaligen Schatzkanzler Ken Clarke und den Enkel des Kriegspremiers Winston Churchill, Nicholas Soames.

Die gemässigte One-Nation-Gruppe in der Tory-Fraktion veröffentlichte eine Erklärung, in der sie Johnson dazu aufforderten, die verbannten Fraktionsmitglieder wieder aufzunehmen.

«Die Massnahmen in den vergangenen Tagen, die Fraktion von gemässigten Mitgliedern zu säubern, sind prinzipiell falsch und schlechte politische Praxis», hiess es in dem Schreiben. Medienberichten zufolge droht die Stimmung selbst in Johnsons Kabinett zu kippen.

Der Einfluss von Dominic Cummings

Der Regierungschef verteidigte sein Vorgehen in einem Interview mit dem britischen TV-Sender itv am Mittwochabend. «Das sind meine Freunde, glauben Sie mir, ich habe absolut kein Vergnügen an all dem.» Es sei aber «sehr traurig und überraschend» gewesen, dass sie sich entschieden hätten, Grossbritanniens Chancen auf einen Deal mit der Europäischen Union zu schmälern.

Johnson will Brüssel mit der Drohung eines ungeregelten EU-Austritts zu Zugeständnissen bringen. Seine Kritiker warnen dagegen vor erheblichen Folgen vor allem für die britische Wirtschaft und viele weitere Lebensbereiche, wenn das Land ohne Übergangsfristen aus der Staatengemeinschaft herausbricht.

Hinter der harten Vorgehensweise Johnsons sehen viele den Einfluss seines Beraters Dominic Cummings. Der Wahlkampfstratege leitete bereits die Kampagne Johnsons beim Brexit-Referendum 2016. Cummings gilt als skrupellos und macht keinen Hehl daraus, dass er das politische System gehörig umkrempeln will.

Keine juristische Frage

Die No-Deal-Gegner hatten unter enormem Zeitdruck gestanden, weil Johnson dem Parlament eine Zwangspause auferlegt hat, die bereits am Montag beginnen könnte. Der Versuch, die Schliessung des Parlaments gerichtlich zu stoppen, scheiterte bislang.

Ein Gericht in Schottland wies die Klage einer Gruppe von Parlamentariern am Mittwoch ab mit der Begründung, es handle sich nicht um eine juristische, sondern eine politische Frage. Doch bereits am Donnerstag sollte es eine Anhörung vor dem Berufungsgericht in Edinburgh geben. Auch der High Court in London wollte sich am Donnerstag mit dem gleichen Thema befassen.

Mit Spannung wird erwartet, ob der Premierminister am Montag einen weiteren Versuch unternimmt, eine Parlamentswahl herbeizuführen. Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Labour-Partei kündigte an, er werde einer Neuwahl erst zustimmen, wenn das Gesetz gegen den No Deal in Kraft getreten ist. Diese Bedingung wäre theoretisch am Montag erfüllt.

Johnson: Chancen beschädigt

Johnson zeigte sich am Mittwoch pessimistisch, noch einen Austrittsdeal mit der EU vereinbaren zu können. Die Chancen, einen Deal in Brüssel zum Brexit zu bekommen, seien «schwer beschädigt, wenn nicht komplett zugrunde gerichtet worden» durch den Gesetzentwurf gegen den No Deal, so der Regierungschef.

Johnson fordert Änderungen am EU-Austrittsvertrag. Die EU-Seite steht auf dem Standpunkt, dass sie gesprächsbereit ist, falls Johnson konkrete neue Vorschläge machen sollte. Dabei geht es um Alternativen zu der Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland, zum sogenannten Backstop. Noch wartet die EU-Kommission aber auf die Vorschläge aus London.

Johnson will nun am 15. Oktober wählen lassen, um mit einem Mandat beim EU-Gipfel zwei Tage später zu erscheinen. EU-Diplomaten schätzen die Chancen für einen spontanen Brexit-Deal bei dem Gipfel jedoch ebenfalls als gering ein.

«Die Annahme, dass in nur wenigen Tagen ein Vorschlag gemacht, verhandelt, vom Gipfel unterstützt sowie vom Europaparlament und dem britischen Parlament ratifiziert werden könnte, scheint eine eher heldenhafte Annahme, um es vorsichtig auszudrücken», hiess es aus EU-Kreisen.

Drei neuralgische Brexit-Punkte

Die EU-Kommission hat eine Checkliste für Unternehmen mit Hinweisen etwa zu künftigen Regeln, Genehmigungen, Zöllen und Steuern. Wer als Bürger eine Frage hat, kann gebührenfrei beim Call Center Europe Direct anrufen.

Die EU-Kommission brachte auch Notfallplanungen für drei neuralgische Brexit-Punkte auf den letzten Stand: Übergangsregeln für Güter-, Personen- und Luftverkehr, um am 1. November in jedem Fall die wichtigsten Verbindungen aufrecht zu erhalten; das Angebot einer Regelung auf Gegenseitigkeit für Fangrechte britischer und europäischer Fischer; und das Angebot an Grossbritannien, auch in Zukunft an EU-Programmen teilzunehmen, wenn das Land weiter in den EU-Haushalt zahlt.

Ende der Austerität

Am Mittwoch kündigte die Johnsons Regierung ein Ende der jahrelangen Sparpolitik im Königreich an, was Pluspunkte bei den baldigen Wahlen bringen könnte. So solle es 20'000 neue Stellen bei der Polizei, sowie 6,2 Milliarden Pfund (7,5 Milliarden Franken) zusätzlich für den staatlichen Gesundheitsdienst NHS geben, sagte Finanzminister Sajid Javid. Zugleich kündigte er zur Bewältigung der Brexit-Folgen zusätzliche Ausgaben von zwei Milliarden Pfund an.

Rückenwind bekam Johnson auch durch die britische Zentralbank. Diese erklärte, die Risiken eines No-Deal-Brexits wären inzwischen «weniger schlimm» als bisher gedacht, weil die Vorbereitungen verbessert worden seien.

Johnson steigert Beliebtheit

In Umfragen hat Johnson durch seinen Konfrontationskurs zuletzt massiv an Zustimmung gewonnen. Durch vorgezogene Neuwahlen könnte er sich womöglich eine neue Regierungsmehrheit im Parlament sichern, die er durch den Fraktionswechsel eines Abgeordneten und den Parteiausschluss der Tory-Rebellen verloren hat.

(sda/gku)