Von der Brücke der 2007 gebauten «Fram» schallt es durch die Lautsprecher: «Leider können wir in Kampes-Fjord nicht anlanden. Ein Eisbär liegt im Schatten einer Hütte.» Alles hastet mit Kameras an Deck. «Wo, wo, wo?», schwirrt es aufgeregt durcheinander. «Auf 2 Uhr, hinter dem grünen Dach. Der grosse weisse Fleck», ruf Expeditionsleiterin Anja Erdmann. Inzwischen liegt der Fleck nicht mehr. Unwillig hat der weisse Koloss sich aufgerichtet, blickt auf den Störenfried, der sich von See her anschleichen will. Nicht fressbar, scheint er zu denken, und legt sich wieder hin. Auch der geplante Landgang zuvor bei Ella Ø (gesprochen Ö) an der Nordostküste Grönlands war ausgefallen, wegen zu starken Schwells. Die Bucht von Kampes-Fjord mit einer verlassenen Forschungsstation sollte Ersatz sein. Doch der Eisbär darf nicht verjagt werden. Der mit knapp 1 Million Quadratkilometern grösste Nationalpark der Erde gehört den Tieren.

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Wir sind hier nur Gäste und auf einer Expeditionskreuzfahrt von Spitzbergen (Norwegen) entlang der Küste Nordostgrönlands nach Island mit der «Fram». Der Name des Schiffs ist eine Huldigung an den norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen, der sich mit seiner speziell für Polarregionen gebauten «Fram» vor über 100 Jahren im Packeis des Nordpolarmeeres einfrieren liess, um so den Nordpol zu erreichen – vergeblich. So, wie er improvisieren musste, kommt es bei unserem Abenteuer manchmal anders als vorgesehen – auch zum Positiven. Wie jetzt. Kapitän Arild Hårvik umrundet im nächsten, von majestätischen, bis 3000 Meter hohen vergletscherten Bergen flankierten Fjord mit gedrosseltem Motor einen gigantischen Eisberg mit Höhlen, Spalten und bizarren Formen. Bis achtmal so tief wie hoch sei er unter Wasser, schätzt er.

Doch der Reihe nach. In Longyearbyen, dem grössten Ort der Inselgruppe Spitzbergen, hat die «Fram» am Kai festgemacht. An Bord grüsst im Lift Fridtjof Nansen als Grossporträt. Gegenüber sieht man voller Schaudern seine 1894 vom Eis des Nordpolarmeers eingeschlossene hölzerne «Fram». Wie gemütlich ist es dagegen auf unserem luxuriösen Stahlschiff.

Trockenen Fusses können wir nachmittags in der russischen Kohlebergbau-Siedlung Barentsburg noch einmal aus- und einsteigen. Ab jetzt wird nur noch ausgebootet – dies mit Gummistiefeln. Auch am nächsten Tag zur Wanderung auf dem Conway-Gletscher. In zwei Gruppen zu je sechs mutigen Abenteurern werden wir angeseilt, ziehen Stahlkrampen über die Schuhe und aufwärts geht es entlang tiefer, blau schimmernder Spalten. Ehrfürchtig schauen wir von oben auf die zerklüftete, in den Fjord mündende Gletscherzunge. Im Inneren kracht es. Grosse Eispfeiler brechen ab, versinken in einer Staubwolke. Am spektakulären, von hohen Schneebergen umgebenen Magdalenen-Fjord stürzen sich einige Hiker nach der Wanderung in die plus 2 Grad kalten Fluten. Den Rekord hält ein Schweizer mit 1 Minute und 29 Sekunden. Schnell zurück an Bord und in die heisse Sauna. Gegen Mitternacht wird bei Moffen, der nördlichsten Insel Spitzbergens, der 80. Breitengrad passiert. Stolz nimmt jeder Passagier sein «Arctic Certificate» entgegen. Champagnerkorken knallen.

Grosse Kontraste

Mit spannenden Vorträgen am Seetag bereiten Lektoren auf die Besonderheiten des Nationalparks Nordostgrönland vor, sprechen über Pfannkucheneis und Gletscher, über Birkenwälder, die über Permafrostboden kriechen. Stehende Ovationen gibt es nach dem lebendigen Filmvortrag des dänischen Geologen Bjarki Friis, der Mitglied der Sirius-Hundeschlittenpatrouille war. Sie ist ein Relikt der Grenzüberwachung durch die Dänen während der zwei Weltkriege – heute ein freiwilliges zweijähriges, knallhartes Prestigeprojekt der Dänen in dieser Region Grönlands. Mit einer Sondergenehmigung dürfen wir das Headquarter in Daneborg anlaufen. Von freudigem Hundegebell empfangen, staunen wir über die spartanische Station. Immerhin gibt es eine Hundeklinik. Ab Anfang Oktober werden sechs Zweierteams mit selbst gebauten Schlitten und je sechs Hunden einen langen Winter unterwegs sein in Sturm, Schnee und Eiseskälte. Der Kontrast zur «Fram» ist gewaltig, so die jungen Männer, die vom Kapitän zum Mittagessen eingeladen werden. Sie staunen ihrerseits über die grosse Panorama-Lounge mit Bar, über das elegante Restaurant, das üppige Buffet und darüber, dass draussen auf dem Oberdeck sogar zwei beheizte Jacuzzi dampfen.

Die erste Anlandung zuvor an der Küste Nordostgrönlands war Danmarkshavn. Luft plus 1 Grad, Wasser minus 1 Grad. Seit 1948 unterhält Dänemark hier eine Wetterstation mit acht Mann. Vor einer Woche hatten sie Besuch von einer Eisbärin mit zwei Jungen. In südlicher Richtung entlang der Küste und tief in Fjorde hinein mit dramatischer Berglandschaft fährt die «Fram», für Arild Hårvik eine Herausforderung. Oft muss er mit Sonar und Lot navigieren. Vor jeder Anlandung sondieren die Lektoren das Terrain, verteilen sich mit geschultertem Gewehr auf Aussenpositionen, um rechtzeitig vor Eisbären zu warnen; andere positionieren sich bei Besonderheiten, beispielsweise beim Skelett eines halb aufgefressenen Moschusochsen, oder öffnen für uns Hütten von früheren Expeditionen. Eine Hütte wurde von Eisbären aufgebrochen. Zwei Schreiner von der Crew reparieren sie. Es gelingt, sich zum Fotografieren an Schneehasen heranzupirschen. Moschusochsen dürfen nur aus sicherer Ferne beobachtet werden.

Absolute Stille

«Finden Sie als Schweizer diese karge Gegend nicht langweilig?», frage ich einen Herrn aus Zürich. «Sie haben doch selbst Seen, viel höhere Berge, Schnee und Eis.» Er antwortet: «Das schon. Doch hier ist absolute Stille. Es gibt keine Skilifte, keine Pisten, kein Gedränge. Die nackten Berge fallen schroff ins Meer. Die kurz und farbig über den Boden kriechende Vegetation ist fast rührend.» Er schweigt einen Moment und sagt: «Ich könnte hier bis morgen früh stehen.» Und rührt sich lange nicht vom Fleck. Über 50 Prozent der maximal 250 Passagiere aus aller Welt an Bord sind Repeater. Vor allem die Kajak-Freaks sind begeistert, auch wenn sie sich von Kopf bis Fuss für ihre Touren in wasserdichte Anzüge quälen müssen.

Dick vermummt fahren bei eisigem Wind die an warme Temperaturen gewöhnten Philippinos in kleinen Booten entlang kilometerlanger Gletscherzungen, kreuzen zwischen haushohen Eisbergen. Südlichste Anlandung in Grönland ist die Inuit-Siedlung Ittoqqortoormiit mit 500 Einwohnern am Ende des Nationalparks. Fourwheeler rattern über steile, wegen des Permafrostes unbefestigte Strassen. Wir kosten Moschusochsenfleisch, können endlich im Souvenirrausch schwelgen. Letztes Highlight nachts auf der Fahrt hinüber nach Island: Nordlichter geistern über den Himmel.

Die Recherche wurde unterstützt von Hurtigruten.