Rafaels «Madonna», das nackte Kind auf dem Arm, blickt milde aus dem Bilderrahmen. Fast so, als hätten die Jahrzehnte, während deren sie als stumme Zeugin an der Wand des grossen Saals im «Badrutts’s Palace» verbracht hat, sie nachsichtig werden lassen. Unter den Augen der Heiligen wurden schliesslich die grossen Epochen des «Palace» zur Geschichte: die Roaring Twenties etwa, als internationale Berühmtheiten das Hotel bevölkerten, wie «Palace»-Chronist Raymond Flower in seinem Buch «The Palace» konstatiert. Die Fifties, als befrackte Engländer mit Zigarre im Mund sich im Blickfeld der «Madonna» erbitterte Bridge-Partien lieferten. Die Sechziger und Siebziger, als der Jetset nach St. Moritz reiste und Gunter Sachs mit Brigitte Bardot im «Palace» abstieg. Alles hat die Madonna miterlebt, während sie im Dämmerlicht an der Wand hing.

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Das ist nun Vergangenheit. Neuerdings erstrahlt die Madonna in neuem Glanz. Als Zeugin einer glorreichen Vergangenheit. Als Symbol, dass das Hotel Badrutt’s Palace an ebendiese Zeiten wieder anknüpfen will. «Wir haben sie beleuchtet», verrät Hans Wiedemann, «das ist das ganze Geheimnis.» Und während der Hoteldirektor dies mit gedämpfter Stimme preisgibt, zieht sich sein Schnurrbart zu einem Lächeln in die Breite. «Hören Sie die Musik?», fragt er leicht triumphierend. Und in der Tat, eine diskrete Hintergrundberieselung mit klassischen Arrangements verbreitet im ehrwürdigen «Palace» eine Ambiance der Entspannung. Und selbst die Herren am Empfang strahlen ein neues Selbstbewusstsein aus. Vielleicht liegt es an den neuen Livrees mit den goldenen Epauletten, Quasten, Kordeln und Knöpfen, die sie neuerdings tragen dürfen.

Sicher ist, dass all diese Details, die der Gast zunächst nur unterschwellig wahrnimmt, die Handschrift von Hans Wiedemann tragen. Sicher ist auch, dass Wiedemann, seit er vor rund zehn Monaten an die Spitze des «Palace» berufen worden ist, von einem einzigen Ziel beseelt ist: im «Badrutt’s» wieder jene Atmosphäre zu schaffen, welche die Nobelherberge einst über Jahrzehnte für eine illustre Klientel zur weltweit ersten Adresse der Luxushotellerie gemacht hatte.

Dem neuen Direktor des «Palace» dürfte es bewusst sein: Die Fussstapfen sind gross, in die zu treten er sich zum Ziel gesetzt hat. Chronist Flower schreibt über die Mystik des «Palace»: «From the very beginning it was more than just a hotel; it was a country club for sophisticates, an exercise in super-excellence, a cult, a way of life.» Und Max Keller, ehemaliger «Palace»-Generaldirektor, schreibt über Andrea Badrutt, den 1998 verstorbenen letzten grossen Exponenten der Hotelierdynastie: «Das ‹Palace› unter Andrea Badrutt war und bleibt unerreicht, was Niveau und Internationalität der Besetzung anbelangt. Die schönsten Frauen, die aufreizendsten Decolletés, die wertvollsten Juwelen, umgeben von den Grossen und Mächtigen aus Industrie, Finanz, Adel, Kunst, Musik und Film» (siehe Nebenartikel: «Max Keller, Direktor 1980–1990: «Hier haben Neureiche gelernt, was man tut und was nicht»»).

«Das ‹Palace› hat eine Seele», erweist Wiedemann seine Reverenz vor der Geschichte, «wie ich es in keinem anderen Hotel erlebt habe.» Er weiss, wovon er spricht. Seine berufliche Laufbahn hat ihn nach 13 Jahren Australien und 2 Jahren China schliesslich ins «Palace» in Montreux gebracht, wo er insgesamt acht Jahre lang waltete. Dann übernahm die amerikanische Hotelkette Raffles das Haus am Genfersee, und Wiedemann verabschiedete sich. «Wenn man älter wird» sinniert er, «glaubt man nicht mehr unbedingt an Hotelketten.» Die internationale Klientel suche, davon ist er überzeugt, wieder das Authentische, das Aussergewöhnliche – und keine Hotels, die sich gleichen wie ein Abziehbildchen dem anderen. «Genau dies ist in vielen Hotelketten in New York, Tokio oder London geschehen.» Deshalb suchen die Gäste im «Palace» in St. Moritz, was sie sonst nirgends finden: eine einmalige, gewachsene Gastfreundschaft, die mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen ist.
Es ist das, was Wiedemanns Vorgänger Max Keller den «magic mix», die magische Gästemischung, nennt. Dazugehören ist ein unbezahlbares Privileg, und Preise von bis zu 19 000 Franken für eine Nobelsuite pro Nacht sind gleichbedeutend mit sündigem, aber lustvollem Geldausgeben. Und die Gäste wollen bei einem Hoteldirektor zu Gast sein, wie Andrea Badrutt einer war. Max Keller beschrieb seinen eigenen Vorgänger einst so: «Er liebte es, mit seinen Gästen eine persönliche Beziehung aufzubauen, sie zu empfangen und zu verabschieden. Nie vergass er ein Gesicht und nie den zugehörigen Namen. Aber auch alle Eigenheiten und Marotten; er wusste, welches Zimmer welcher Gast zu beziehen wünschte, welche Blumen die Dame liebte.» Genau diesen Geist will Hans Wiedemann im «Badrutt’s» wieder aufleben lassen.

Die alten Räume der grossen Halle, gebaut vor etwas mehr als 100 Jahren, atmen aus jeder Ritze des Wandtäfers und aus jedem Polsterkissen Geschichte. Wiedemann sitzt in einem Sessel, in dem vor Jahren möglicherweise einmal Kaiserin Soraya gesessen ist. Oder der verstorbene Fiat-Patron Gianni Agnelli. Oder der junge Thronfolger Felipe von Spanien. «Wenn das Hotel leer ist, kann man die Seele spüren», meint er, «wenn man dann durch die Flure geht, ist es, als wäre immer jemand hinter einem.»

In den vier Jahren bevor Wiedemann seinen Job antrat, hatte hier ein anderer Wind geweht. Als das Hotel in den neunziger Jahren veraltet war und die klassische Klientel ausblieb, beauftragte die Besitzerfamilie Badrutt die englische Luxushotelkette Rosewood damit, das Mana- gement zu übernehmen und die Modernisierung des Hauses voranzutreiben. Roland Fasel, «Palace»-Direktor von 1999 bis Frühjahr 2004, ein drahtiger Manager, katapultierte daraufhin das ehrwürdige Haus in einem Herkulesakt ins 21. Jahrhundert: Kein Stein blieb auf dem anderen – von einer neuen EDV- und Telefonanlage über die Totalrenovation sämtlicher Zimmer bis zum Bau eines Spa und eines Fitnesscenters. Fasel investierte insgesamt rund 58 Millionen Franken in den Bau mit dem Turm. «Dies war für diese Phase des Hotels immens wichtig», sagt Wiedemann. Doch damit nicht genug: In den kommenden Jahren werden weitere dreissig Millionen Franken in die Fassadenrenovation, ein Wellnesscenter, technische Anlagen und ein Parkhaus investiert werden müssen. Moderne Gastfreundschaft kostet. Das war auch schon in der Vergangenheit nicht anders.

«Wir hatten alles: die reichsten Gäste, die schönsten Frauen, den teuersten Schmuck.» Der dies sagt, muss es wissen: Schliesslich ist er der Dienstälteste unter den «Palace»-Angestellten, seit 42 Jahren dabei, die meisten davon verbrachte Mario da Como hinter der Bar.

Der Mann in crèmefarbenem Jackett, weissem Hemd und roter Krawatte ist so etwas wie das Faktotum des Hauses, eine Institution. Bei ihm am Tresen sind sie alle gesessen, Könige und Reeder, Waffenhändler und Industrielle. Und haben geredet. Wer mehr wissen will, dem schenkt Mario sein charmantestes Lächeln. Das Kapital des Barmanns ist seine Diskretion. Er sitzt auf der äussersten Kante des Fauteuilles in der Lobby und blickt nervös umher. Dann schaut er über den Rand seines silbernen Brillengestells, macht eine ausladende Armbewegung in Richtung des schwarzweiss marmorierten Korridors, der die grosse Halle durchläuft, und sagt: «Das ist der Laufsteg der Welt.» Hier wandelten Maria Callas und Ari Onassis, Gunter Sachs und Brigitte Bardot, Stavros Niarchos, die Rothschilds, König Hussein von Jordanien. Und so weiter und sofort. Das war die grosse Zeit des «Palace» unter Andrea Badrutt, dem Halbbruder des heutigen Besitzers Hansjürg Badrutt.

«Das ‹Palace› war damals wie ein Privatclub», erinnert sich Angelo Martinelli, der heutige Direktor für Food und Beverage. Genau wie Mario gehört er seit über vierzig Jahren zum Inventar des Hauses. Er hat noch jene einzigartige Schulung erfahren, wie sie den Angestellten jener Zeit verpasst worden war. «Die Mitarbeiter brauchten keine Namensschilder», erinnert sich Ex-Direktor Keller, «sie hatten Profil.» So sehr, dass Angelo zeitweise Butler des Schahs von Persien wurde und im Jahr 1967 «Palace»-Mitarbeiter für die Krönungsfeier des Schahs angeworben wurden. «Ein grossartiger, feiner Mann», erinnert er sich.

Mario und Angelo haben von den Gästen im Hotel gelernt, was sich gehört.

Gianni Agnelli etwa weigerte sich schlicht, aus einem Glas zu trinken, das vor seinen Augen von der Hand eines Kellners berührt worden war. «Er pflegte es einfach beiseite zu schieben, ohne je ein vorwurfsvolles Wort über die Lippen zu bringen», erinnert sich Mario. Aber die Message des Avvocato war klar: Ein Kellner hat das Glas am Stiel in die Hand zu nehmen, und diese Regel ist dem Personal in Fleisch und Blut übergegangen. Und noch etwas ist ihnen geblieben: «Gäste wie die Agnelli-Familie hatten eine hervorragende Kinderstube.» Und woran erkennt man eine wirklich gute Kinderstube? Die Herren müssen nicht lange nachdenken. «Sie haben auch dem Personal, den so genannten kleinen Leuten, das Gefühl gegeben, bedeutende Persönlichkeiten zu sein.»

Zum Beispiel Martin Lechner, der sich innert eines Vierteljahrhunderts vom Platzwart der hoteleigenen Kunsteisbahn zum Chauffeur des Rolls-Royce emporgearbeitet hat. «Unsere Gäste», meint er, «kamen zu uns wie nach Hause zur Familie.» Und Familienmitglieder behandelt man in diesen Kreisen mit Respekt.

Und was ist heute anders? «Früher», sinniert Mario vergangenen Zeiten nach, «kamen die Gäste im Dezember und blieben bis März.» Heute logieren sie höchstens noch zwei Wochen oder lediglich ein paar Tage im «Palace». Zu Weihnachen kämen die Europäer, die Schweizer für ein paar Tage; nach Neujahr die Russen, um die russisch-orthodoxe Weihnacht zu feiern. Was um die Jahrhundertwende der Adel war und später die Industriellenfamilien, sind heute Scheichs wie der saudische Prinz Al-Waleed, die schon einmal das gesamte Hotel anmieten.

Insofern stehen Hans Wiedemanns Chancen nicht schlecht, an die gloriose Zeit des «Palace» anzuknüpfen: Die Infrastruktur des Hotels ist auf Vordermann gebracht, das Image des Hauses intakt und Personal aus der guten alten Zeit noch immer vorhanden. Mögen die adligen Gäste von früher auch verarmt, Playboys à la Gunter Sachs in die Jahre gekommen und Patrons wie Gianni Agnelli tot sein – Menschen, die auf lustvolle Weise Geld auszugeben gewillt sind, wird es immer geben. Vorausgesetzt, Service und Ambiance knüpfen an jenen Spirit an, den Max Keller unter Andrea Badrutt noch erlebt hat.

Möglicherweise ist die Demokratisierung des Geldes der grösste Feind des «Palace». Mit Sicherheit aber auch seine grösste Chance.

Quellen: Marcus Binney: Badrutt’s Palace.
Singapur 2004.

Raymond Flower: The Palace. A Profile of St. Moritz.
London 1982.

Max Keller: Andrea Badrutt (1910–1998). Eine persönliche Betrachtung.
St. Moritz 1999.