Rainer Voss war einer der führenden Investmentbanker Deutschlands. Jetzt sitzt er in einer verlassenen Bank mitten in Frankfurt und redet. Der Film «Master Of The Universe» (Trailer im Video am Textende) von Regisseur Marc Bauder gibt Einblicke in eine grössenwahnsinnige Welt, in der nichts hinterfragt wurde und gestandene Banker bei der Suche nach dem lukrativsten Jobangebot vor Verzweiflung geweint haben. «Es war wie Sterben fürs Vaterland», sagt im Film der Ex-Banker, den handelszeitung.ch in einer Zürcher Hotellobby zum Gespräch trifft. 

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Sind Sie reich?
Rainer Voss:
Nein.

Dann haben Sie etwas falsch gemacht.
Kommt darauf an, welche Massstäbe Sie anlegen. Ich habe sicherlich mehr verdient als ein Durchschnittsbürger. Aber wenn man das Leben so gestalten will wie ich, muss man auch sehr viele Rücklagen haben. Schliesslich hoffe ich, dass ich noch mindestens 30 Jahre leben werde.

Welche Massstäbe legen Sie denn punkto Reichtum an?
Lassen Sie es mich so verdeutlichen: Ich wohne in einem Reihenhaus in Frankfurt-Eckenheim, fahre keinen Ferrari und habe keinen Gerhard Richter an der Wand. Mein Luxus ist der, dass ich morgens aufstehen und mir überlegen kann, ob ich zum Beispiel Lust habe, mit Ihnen zu reden. Das ist unbezahlbar. Teure Autos, teure Uhren – das ist alles Tand.

Wo stehen Sie heute?
Im Moment rede ich mit Ihnen über einen Film. (schmunzelt) Ich habe 2008 aufgehört, als Investmentbanker zu arbeiten, und danach an zwei grossen Projekten mitgearbeit – unter anderem am Konzept für eine europäische Ratingagentur. Projektarbeiten haben ein Ende, dann kam die Sache mit dem Film.

Wohin geht Ihr Weg?
Der Weg ist das Ziel. (lacht) Das ist eine der blödesten Antworten, die man geben kann. Zu Beginn des Berufslebens haben wir noch Träume. Und wenn wir Glück haben, besitzen wir irgendwann das Geld, um diese zu erfüllen – nur haben wir vergessen, was es war…

Im Film erwecken Sie den Eindruck, dass dieser Investmentbanker-Virus noch immer in Ihnen steckt.
Jein. Es ist nicht der Virus in der Form, in der ich ihn im Film beschreibe. Der Eindruck entsteht wohl vielmehr dadurch, dass ich aufgewühlt bin. Ich bin wütend.

Über die Bankenwelt?
Darüber, dass ich 1979 als junger Mann bei einer Sparkasse in Wuppertal einen Beruf ergriffen habe, der damals vom Ansehen her an der Spitze der Nahrungskette stand. Banker – das war wie Arzt oder Dorfpfarrer.

Und heute…
… sind wir in einer Situation, in der Sie als Banker knapp über dem Status des Kinderschänders agieren und sich ständig in einer Verteidigungsposition befinden. Dafür ist weder eine Institution noch ein Person verantwortlich. Aber es macht mich wütend. Und ein Teil dieser Wut ist in den Film geflossen.

Wann kam die Erkenntnis, dass auch Sie auf die schiefe Bahn geraten sind?
Der Begriff «schiefe Bahn» gefällt mir nicht! Alle Geschäfte, die ich im Film beschreibe, sind legal.

Aber das Geld, das mit diesen Geschäften verdient worden ist, ist im Film ein dominantes Thema: «Ich habe vom ersten Tag an mehr verdient als mein Vater am Ende seines Berufslebens», geben Sie beispielsweise zu Protokoll.
Richtig.

Das hat Sie damals schon beschäftigt.
Es hat mich nicht primär beschäftigt – ich habe es nicht verstanden.

Aber das Geld haben Sie genommen.
Klar, habe ich es genommen. Ich habe ja auch einen Job gemacht. Im Fussball sagt der Mittelstürmer auch nicht, ich will weniger verdienen als der Verteidiger – ich finde es ungerecht.

Sie sprachen vorhin die vergessenen Träume an. Im Film fällt ein Leitsatz für Investmentbanker: «Sie müssen Ihr Leben aufgeben.» Wie passt das mit Träumen zusammen?
Gegenfrage: Warum darf man im Leben nicht dazulernen? Heute würde ich viele Dinge anders machen. Sie können nicht meine heute 54-jährige Lebenserfahrung mit derjenigen eines 23-Jährigen vergleichen. Damals fühlte ich mich wie ein Junge in einem Bonbon-Laden, der nicht weiss, in welches Glas er zuerst greifen soll.

In jener Sequenz werden auch «Two-Nighters» erwähnt: Investmentbanker sind erst dann gut, wenn sie häufig zwei Nächte am Stück durcharbeiten.
Das machen Ärtze auch – aber nicht, weil sie es cool finden, sondern weil die Versorgung es erfordert. Ein Trainee oder Praktikant im Investmentbanking ist stolz darauf. Der, der das noch nie durfte, bittet sogar seinen Chef darum – das ist doch krank!

Wie viele «Two-Nighters» gab es bei Ihnen?
Weiss ich nicht mehr, auf jeden Fall nicht übermässig viele.

Sie waren zu gut und mussten nichts mehr beweisen.
Nein. Das war zu meiner Zeit noch nicht so angesagt.

Und Sie kamen damals zum Schluss: «Ich brauche die Welt da draussen nicht.» Ganz schön arrogant.
Es herrscht eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen den beiden Welten – es sind auf einen Schlag andere Probleme, die einen umtreiben. Da entsteht eine Grundarroganz, ja. Man denkt mitunter schon: «Ach, ihr kleinen Würstchen.» Eines bleibt im Film aber unausgesprochen.

Nämlich?
Dass sich zwei sprachlose Blöcke in unserer Gesellschaft gegenüberstehen: die Zivilgesellschaft einerseits und weite Teile der Wirtschaft anderseits. Und das geht weit über die Finanzindustrie hinaus. «Master of the Universe» ist kein Film über Banken. Jeder findet sich sehr schnell selbst wieder. Genau diese Sprachlosigkeit ist mein Thema. Es geht nicht um Gut oder Böse.

Trotzdem wurde die Finanzkrise nicht einfach ohne Grund ausgelöst.
Wir leben in einer Gesellschaft, die den Kompass verloren hat und deren Wertekanon korrumpiert worden ist. Was ist gut? Was ist schlecht?

Sie kennen die Antwort?
Ich wurde einst gebeten, etwas zum Thema Agrarspekulationen zu schreiben. Der normale Gutmensch verfällt automatisch in Schnappatmung und sagt: «Ja, da wird viel spekuliert – und in Äthiopien verhungern deshalb die armen Kinder.» Das ist natürlich Blödsinn. Das Thema ist viel komplexer, um darüber urteilen zu können.

Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Zu 50 Prozent ist es schädlich, zu 50 Prozent nicht.

Das ist billig.
Ja. Jetzt könnten Sie noch 14 Tage weiter recherchieren und wahrscheinlich zum gleichen Ergebnis kommen – oder Sie sagen sich: Wenn die Analytik nicht zum Ziel führt, mache ich doch daraus eine moralisch-ethische Entscheidung. Was hätte meine Grossmutter gesagt? «Mit Essen spielt man nicht.» Und damit ist die Diskussion für mich beendet.

Kein Manager wird je so entscheiden.
Viele leitende Angestellte haben verlernt, diese Transferleistung zu erbringen. Sie fokussieren sich lieber auf ihre Excel-Sheets und Szenario-Analysen. Jeder, der schon einmal an einem solchen Papier mitgewirkt hat, weiss wie gewisse Daten zustande kommen. Und mit jeder Ebene, die ein solches Papier nach oben wandert, entwickelt es zunehmend eine eigene «Wahrheit» – und am Schluss basiert der Firmenchef auf so etwas seine Entscheidung.

Aber woher kommt es, dass der Film auf eine besondere Art betroffen macht? Man sitzt da und nickt im Minutentakt – alles scheint so logisch. Glauben Sie ernsthaft daran, dass sich durch den Film etwas ändern wird?
Ja. Sonst müsste ich mir die Pulsadern aufschneiden. Es wird eine neue Generation an Managern kommen, die mehr Weiblichkeit beweist – nicht im Sinne von mehr Frauen, sondern Weiblichkeit im Führungsstil.

Was lief denn in der Vergangenheit schief?
Um die Jahrtausendwende hat sich was verändert: Viele Fragestellungen werden seither zunehmend ökonomisiert – vieles ist inhumaner geworden. An den Eliteschulen werden hochqualifizierte Leute ausgebildet, die links und rechts von sich eine Blackbox haben – und in der Mitte in ihrem Kästchen arbeiten. Das können sie sehr gut, viel besser als Sie und ich, aber sie überblicken den Prozess nicht und werden deshalb verantwortungslos.

Sprich: Diese Leute sind nicht darauf geschult, auf ihre Grossmutter zu hören.
Richtig. Ich finde es lustig, wenn sich Banken neue Wertekanons geben – und dazu für 100'000 Euro einen Ethikprofessor engagieren. Den Wertekanon einer Bank können schon Kindergartenschüler nennen: nicht kratzen, nicht beissen, nicht spucken! Alle wissen das, machen es aber trotzdem.

Ihr Lösungsvorschlag?
Miteinander reden. Weshalb gibt es beispielsweise keinen hippokratischen Eid für Banker? Weshalb keine Ethikkommission? Und alle sollen an einen Tisch sitzen und die Frage beantworten: Was wollen wir eigentlich?

Alle?
Gewerkschaften, die Politik, Kirchen, Bürgerverterter. Und die Wirtschaft – nicht die Banken. Die Schweinerei an der aktuellen Situation ist doch die, dass uns keiner diese Frage, was wir eigentlich wollen, jemals gestellt hat. Die Art und Weise, wie sich unsere Lebenswirklichkeit verändert hat, ist unmenschlich brutal.

Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews: Rainer Voss über den Zustand der Börsen, die Chancen für Privatanleger – und seine beruflichen Pläne in der Finanzbranche.