Die Gegend wird in den Stadtplänen von Paris nur am Rand erfasst: Hier an der Rue Berteaux-Dumas in Neuilly-sur-Seine befindet sich der Hauptsitz des französischen Kosmetikkonzerns Clarins. Die Strasse ist eine Allee und wird an diesem Morgen mit Wasser aus einem Hochdruckapparat gereinigt. Eine schmutzige Sauce fliesst durch die Rinnsteine, die Strasse wird geputzt, sauber indes wird sie nicht.

Hinter der Glastür des Hauses Nummer 4 beginnt die Gegenwelt: Im Entrée der Clarins-Zentrale ist alles blitzblank und gepflegt. Und es riecht, wie es sich für ein Kosmetikunternehmen gehört, nach Parfum. Der Duft, der in der Luft liegt, heisst Par Amour. Er ist erst vor wenigen Wochen lanciert worden und ist bereits der grosse Stolz des Präsidenten der Geschäftsleitung, Christian Courtin: Zwanzig Jahre habe er auf diesen Duft gewartet, behauptet er. Der Mix aus Rose, Sandelholz und Cassis verdreht dem 53-jährigen Herrn, der sonst eher durch elegante Nüchternheit auffällt, offenbar den Kopf. «Dieses Parfum ist für Frauen, die lieben, respektieren und gern teilen», säuselt er und haucht hinterher: «Par Amour soll die Frauen mit einem sinnlich-erotischen Glücksgefühl beschenken.»

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Von schenken könnte, wenn überhaupt, nur in umgekehrter Richtung die Rede sein: 30 Milliliter Par Amour kosten 59 Franken. Falls die Frauen den Duft kaufen, schenken sie Courtins Parfumgeschäft neues Leben: Mit Duftwässerchen der Marken Thierry Mugler und Azzaro macht er bereits seit vielen Jahren viel Umsatz. Das, was Courtin so in andere Sphären bringt, ist daher wohl weniger der Duft an sich, als die Tatsache, dass Par Amour unter der Marke Clarins lanciert wird.

Clarins: Auf den Namen ist Christian Courtin so stolz, dass er sich auf seiner Visitenkarte und bei öffentlichen Auftritten keck Christian Courtin-Clarins nennt. Sein Bruder, Olivier Courtin, macht das ebenso. Der Vater und Gründer von Clarins, Jacques Courtin auch.

Hinter Clarins steckt zuerst eine rührende Entstehungsgeschichte. Als 14-Jähriger mimte Jacques in einem Schülertheater einen stummen Sklaven namens Clarins. Das Stück spielte zur Zeit der blutrünstigen Christenverfolgungen in Rom. Clarins’ Aufgabe war es, die Löwen der Arena zu füttern, aber nur so wenig, dass den Raubkatzen der Appetit nicht verging. Aber Clarins hatte ein gutes Herz und gab den Löwen so viel Futter, dass diese nur faul herumlagen, statt sich auf die zum Tode verurteilten Christen zu stürzen. Zur Strafe liessen die Römer Clarins ins Gehege der Löwen werfen. Diese aber dachten gar nicht daran, ihren gutmütigen Tierpfleger zu verspeisen. Der Sklave wurde zum Helden, das Publikum tobte. «Alle haben ‹Clarins, Clarins, Clarins› gerufen», schwelgt der heute 84-jährige Jacques Courtin in der Erinnerung, «das Stück war mein erster grosser Erfolg, und ich habe mir gesagt, wenn ich eines Tages ein Unternehmen gründe, soll es Clarins heissen.» Voilà.

«Die Frauen wollen den Männern gefallen», sagt der alte Herr nach einer Kunstpause, «das hat lange Zeit niemand ernst genommen.» 1954 eröffnete Courtin eine Praxis als Chiropraktiker. «Da hatte ich ständig mit Frauen zu tun, die unter ihren Makeln litten», sagt Courtin. Im Gegensatz zu den Medizinern, die solche Leiden als eitle Sünde ignoriert hätten, habe er es immer legitim gefunden, wenn Frauen schön sein und vor allem auch bleiben wollten. Seine Praxis bezeichnete er zwar als Centre médicale, konzentrierte sich dort aber auf die Anliegen der Damen nach schönerer Haut, nach diskreteren Narben und nach strafferen Brüsten. Zusammen mit befreundeten Fachspezialisten entwickelte er Mittel und Methoden, die Wirkung zeigten – und wurde in Frankreich rasch bekannt.

Aus dem kleinen Schönheitssalon, in dem Jacques Courtin vor 51 Jahren sein erstes pflanzliches Öl mischte und applizierte, ist ein Treibhaus des Geldes geworden: Seit 1954 wuchs das Geschäft Jahr für Jahr. 2004 erzielte Clarins mit 5300 Mitarbeitern einen Umsatz von 939 Millionen Euro. Drei Dinge hat der kommerzielle Erfolg nicht geändert:

Erstens sind die Produkte 100-prozentig natürlich geblieben, enthalten qualitativ erstklassige Pflanzenextrakte und essenziell hoch konzentrierte Öle.

Zweitens bilden die Schönheitssalons nach wie vor das Herzstück des Unternehmens. Sie heissen heute einfach Institut Clarins, und davon gibt es weltweit über hundert. Die Kosmetikerinnen werden inhouse ausgebildet und verwenden ausschliesslich Clarins-Produkte. Auf diese Schönheitssalons ist Christian Courtin sehr stolz, obschon sie nicht rentabel sind: «Die Schönheitssalons sind unsere Flaggschiffe», sagt Christian Courtin.
Drittens ist Jacques Courtin trotz seinem hohen Alter noch immer Herr im Haus.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Clarins vor allem dank Christian so erfolgreich geworden ist. Er arbeitet seit über dreissig Jahren im Unternehmen seines Vaters. Der Patron rief ihn zu sich, kaum hatte der Filius seine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen. Spontan winkte der junge Courtin dankend ab und sagte: «Ich will reisen.» Der Vater reagierte mit dem Angebot, eine Weltreise zu finanzieren, und stellte nur eine Bedingung: Christian sollte in jedem Land herausfinden, wie die Schönheitsindustrie funktioniere, was wo ankomme, was nicht. «Dieses Angebot konnte er nicht ausschlagen», sagt Jacques Courtin. In der Verantwortung für das internationale Geschäft fing Christian seine Managerlaufbahn nahe bei null an; denn Clarins war ausserhalb Frankreichs kein Begriff. Sein Erfolgsausweis ist beeindruckend: Heute werden die Tuben und Tiegel an 17 000 Verkaufspunkten in 150 Ländern verkauft. Als Belohnung ist Christian vor Jahren zum Präsidenten der Geschäftsleitung aufgestiegen.

In dieser Funktion reist der gross gewachsene Mann auch weiterhin viel. Etwa, um in Zürich eine neue Pflegelinie vorzustellen, in Brüssel das neue Parfum zu lancieren oder in Moskau ein Geschäft zu eröffnen. Christian liebt diese Auftritte und fühlt sich im Rampenlicht wohl. Das unterscheidet ihn ganz wesentlich von seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Olivier. Dieser führt den Titel CEO, tritt aber am liebsten nicht in Erscheinung. Er hatte Medizin studiert und danach zehn Jahre lang als Orthopäde in einer Pariser Klinik gearbeitet, bevor er 1995 das Leben in Anzug und Krawatte begann. Innerhalb des Unternehmens rechnet er sich mehr zu den Wissenschaftlern als zu den Managern: «Am wohlsten ist es mir hinter Büchern und im Labor», sagt er und fügt an: «Von daher ergänze ich meinen Bruder hervorragend.»

Die Ideen der Brüder über die Zukunft der Firma sind die gleichen: Beide wollen in den USA vorwärts kommen. Dafür haben sie sich unter anderem mit knapp acht Prozent an L’Occitane beteiligt, einem französischen Kosmetikhersteller mit zwar qualitativ nicht gerade hochwertigen Produkten, dafür aber einer starken Position in Amerika. Gemeinsam haben sie Wachstum via Akquisitionen anderer Marken im Visier. Dabei wollen sie in ihrem Métier bleiben – der Vorstoss in die Haute Couture unter dem Label Thierry Mugler hat ihnen nur Ärger und Verluste gebracht. 2003 haben sie deshalb das Couture-Geschäft aufgegeben. Den Namen Thierry Mugler verkaufen sie seither für Lizenzprodukte wie Herrenmode, Uhren, Brillen. «Das kostet uns nicht viel, bringt aber viel», sagt der CEO Olivier Courtin. Einstimmig beteuern die Brüder auch, sie würden Clarins nie verkaufen.«Was sollten wir danach machen?» Sie versprechen, das Unternehmen als Familienfirma weiterzuführen.

Verglichen mit Branchenriesen wie L’Oréal und Estée Lauder, ist Clarins in der Welt der Luxuskosmetik ein Zwerg, aber ein selbstbewusster. Die Vorteile der Kleinheit weiss man in der Pariser Zentrale durchaus zu schätzen. «Wir können sehr schnelle Entscheide fällen», sagt Olivier Courtin, «egal, ob wir eine Firma kaufen wollen oder ein neues Produkt lancieren.»

Letzteres bringt vor allem das Herz von Forschungschef Lionel de Benetti zum hüpfen (siehe Nebenartikel «Clarins: Wer am schnellsten ist, gewinnt»). Seit 37 Jahren arbeitet er für Clarins. Als Herr über Labors und Fabriken spielt er im Kampf um Marktanteile die zentrale Rolle beim Kosmetikhersteller. Er ist es, der bestimmt, was wann auf den Markt kommt, welche Trends aufgenommen werden. Als er vor zwei Jahren eine Männerlinie lancierte, entstand bei Clarins eine Goldgrube: Das Angebot besteht aus nur neun Produkten – «für Männer kann das Sortiment nicht einfach genug sein». Das Geschäft läuft wie geschmiert. Gemäss Christian Courtin hat die Clarins-Männerlinie seit der Lancierung jedes Jahr 25 Prozent zugelegt, während der Gesamtmarkt nur knapp fünf Prozent schaffte.

De Benetti ist aber nicht nur wegen seiner Erfindungen ein Juwel für die Courtins, sondern auch, weil er gleich tickt wie die drei Messieurs: Ob ein Produkt gut ist, bestimmen allein die Anwenderinnen. Eine wichtige Testgruppe sind die über 5000 Mitarbeitenden. Alle drei Monate können sie neun Produkte gratis beziehen und weitere zwölf zum Einstandspreis. Ihre Bestellungen werden von der Konzernspitze mit Argusaugen beobachtet. Die Herren Courtin und Monsieur de Benetti wissen genau, wer was bestellt – und fragen nach, wenn eine Mitarbeiterin ein Produkt plötzlich nicht mehr will.

Bei den Franzosen wird Kundendienst generell gross geschrieben. Jedem Produkt legen sie einen detaillierten Fragebogen zum Produkt bei. Die Rückmeldungen kommen haufenweise: Jeden Tag gehen in der Zentrale in Paris gegen 300 Briefe ein. Als Erstes landen sie auf dem Pult von Jacques Courtin himself, danach führt sie sich de Benetti zu Gemüte. Kritik lässt ihm keine Ruhe. «Wenn eine Kundin sagt, eine Crème nütze bei ihr nicht oder brenne in den Augen, muss ich dem nachgehen», sagt de Benetti. Gibt es ein Problem, findet er es – und entfernt es aus der Crème. Dank dieser Beipackzettel kann de Benetti seine Produkte laufend weiterentwickeln. Diese Art von Kundendienst ersetzt bei Clarins zudem die Marktforschung und den teuren Einkauf von Adressen.

Forscherseelen wie de Benetti laufen zur Hochform auf, wenn die Wissenschaft neue Erkenntnisse über die Haut publiziert und sie dafür neue Produkte erfinden sollen. Wie jeder in der Industrie giert auch de Benetti danach, das Geschäft mit Innovationen aufzumischen. Anders als seine Konkurrenten in den Grosskonzernen kann er aus wissenschaftlichen Erkenntissen auch rasch Kosmetik machen. «Fünf Leute fällen hier die Entscheide», sagt er, «wir können auch Weitreichendes an einem Mittagessen beschliessen, wenn es eilt.»

Ausser den drei Courtins und de Benetti haben im Hause Clarins nur noch die Markenchefs etwas zu sagen, schliesslich müssen sie die Produkte verkaufen. Marketing geniesst bei Clarins allerdings untergeordnete Priorität: Während die Big Player jede Neuerung – und sei sie noch so lapidar – bewerben, als hätten sie das Rad neu erfunden, führen bei Clarins Produktverbesserungen häufig nur zu einer modifizierten Packungsbeilage. Der kommerzielle Erfolg der marktschreierischen Konkurrenz fuchst die Clarins-Konzernspitze: «Manchmal fragen wir uns schon, ob wir unsere Erfindungen nicht auch an die grosse Glocke hängen sollen», sagt de Benetti. Andererseits scheint er heilfroh, dass die Tendenz, das Produkt zum Lakaien des Image verkommen zu lassen, bei Clarins bislang keine Chance hatte. Anders als bei L’Oréal, für die berühmte Schönheiten wie Claudia Schiffer und Catherine Deneuve posieren, stehen bei Clarins unscheinbare Models vor der Linse. Manchmal stammen die Mädchen aus dem persönlichen Bekanntenkreis der Belegschaft oder der Chefs: So ist beispielsweise das Mädchen, das in der Werbung für Par Amour erscheint, die Tochter der Marketingverantwortlichen des Duftes. Und die junge Frau, die das Kind im Arm hält, ist eine Freundin der polnischen Künstlerin Liliana Guderska. Guderska wiederum amtete während ihrer Zeit als Kunststudentin als Model für eine hautstraffende Körperlotion von Clarins, war für ein Jahr die Geliebte von Christian Courtin und hat auch die Plakate für Par Amour gemalt.

Die Lancierung des Parfums lassen sich die Courtins derzeit Millionen kosten. Das Geld entnehmen sie nicht der Firmenkasse, sondern schiessen es separat ins Unternehmen ein. Mit dem Risiko, dass der Duft nie einspielt, was er kostet. Christian Courtin, die Verkäuferseele im Unternehmen, spricht zwar davon, dass er mit Par Amour den Umsatzanteil der Parfums von derzeit gut 35 Prozent auf 50 Prozent steigern will. Forschungschef de Benetti würde so eine Aussage nicht in die Welt setzen: «Bei Hautpflegeprodukten wissen wir genau, was wir haben, denn sie sind im Labor und an Leuten intensiv getestet», erklärt er seine plötzliche Zurückhaltung, «aber bei einem Parfum? Das ist eher Lotto.»