Ein Jahr, einen Monat und elf Tage ist es her, dass Andrea Nahles zur ersten Parteichefin in der nunmehr 156-jährigen Geschichte der deutschen Sozialdemokraten gewählt wurde. Die Enttäuschung stand ihr am 22. April 2018 ins Gesicht geschrieben, als auf dem Parteitag in Wiesbaden das zweitschlechteste Wahlergebnis in der Nachkriegsgeschichte der SPD verkündet wurde: Mit nur 66,35 Prozent Zustimmung bei den Delegierten startete sie mit wenig Rückenwind in ihre neue Aufgabe.

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Sie versprach eine Erneuerung der SPD, trotz des ungeliebten Ganges in eine erneute grosse Koalition. «Dafür werde ich arbeiten, dafür werde ich auch rackern», sagte Nahles zu. Nun wirft die leidenschaftliche Politikerin und Mutter einer kleinen Tochter hin. Der «zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt» sei nicht mehr da.

Seit über 30 Jahren in der SPD

Gerackert hat Nahles ohne Zweifel. In der Fraktion und in der Partei werden ihr ein Arbeitspensum bescheinigt, das ohne Beispiel sei. Die Erneuerung brachte sie mit der Befriedung des Streits über eine Abschaffung von Hartz IV auf den Weg.

Seit über 30 Jahren ist die überzeugte Katholikin in der SPD aktiv. Sie komme aus einer «eher konservativen Ecke», sagte Nahles im vorigen Jahr über sich. Die einstige Juso-Rebellin meint ihr Dorf Weiler in der Eifel, in dem sie als junge Frau den SPD-Ortsverein ins Leben rief. «Das war dann die maximale Provokation und führte zu grossem Gesprächsstoff hier im Dorf. Und insoweit gehörte erstmal das Überwinden von Widerständen zu meiner politischen Vita von Anfang an dazu.» 

Über die SPD hinaus erwarb sie sich Anerkennung für ihr Verhandlungsgeschick, ihre Fähigkeit zur Kompromisssuche und ihre Sachkenntnis. In der SPD wird sie mit dem Mindestlohn und der Rente mit 63 verbunden.

Zu grosse Widerstände

Am Ende erwiesen sich die Widerstände für Nahles als zu gross. Die ersten Wahlniederlagen brachen im Herbst 2018 über sie herein, als die SPD in Bayern und Hessen abstürzte. Vorausgegangen war eine kapitale Fehleinschätzung der Parteichefin im Streit über Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maassen: Sie stimmte zunächst zu, dass Innenminister Horst Seehofer ihn zwar ablösen, gleichzeitig aber zum Staatssekretär befördern wollte. Aus dem öffentlichen Proteststurm zog Nahles zwar als Erste in der Koalition die Konsequenz und räumte ihren Fehler ein - der Schaden war aber bereits entstanden.

Die zum linken Flügel gerechnete, aber pragmatisch orientierte Rheinland-Pfälzerin hat seit jeher auch in den eigenen Reihen polarisiert. Doch von 2009 bis 2013 als Generalsekretärin und danach als Bundesarbeitsministerin verstand sie es, sich Respekt und Anerkennung selbst beim politischen Gegner zu erwerben. Als erste Frau übernahm sie im September 2017 den Vorsitz der deutlich geschrumpften Bundestagsfraktion. Sie wähnte sich damals noch als Oppositionsführerin. Weithin wurde mit einem Regierungsbündnis aus Union, FDP und Grünen gerechnet. Es kam anders, weil die FDP die Jamaika-Sondierungen Wochen später beendete.

«Teamplay in der Führung wird einen neuen Stellenwert bekommen», kündigte Nahles damals an. Das war nicht nur ein Versprechen, sondern auch eine Ansage an die Platzhirsche ihrer Partei. Einige Monate später, nach Ende der Koalitionsverhandlungen mit der Union, schloss Nahles den amtierenden Aussenminister und für seine Alleingänge berüchtigten einstigen SPD-Chef Sigmar Gabriel von der Regierungsbildung aus mit den Worten, die SPD-Minister müssten als Team funktionieren. Doch auch Nahles gab mit ihrem Führungsstil Anstoss zur Kritik. In der Fraktion fühlte sich mancher zuletzt nicht mehr einbezogen in wichtige Entscheidungen.

Schlechtestes Ergebnis seit Kaisers Zeiten

Den Niedergang in Umfragen und Wahlergebnissen konnte Nahles nicht stoppen, wenn auch zuletzt bundesweit eine Stabilisierung erkennbar schien - bis zum Absturz der SPD bei der Europawahl auf ihr schlechtestes Ergebnis seit Kaisers Zeiten. Doch Nahles hatte wie die gesamte SPD mit dem Makel zu kämpfen, dass sie sich am Abend der Bundestagswahl im September 2017 auf Opposition festgelegt hatten. Und sich dann zur grossen Koalition gezwungen sahen, nachdem die Jamaika-Sondierungen platzten.

Nahles vollzog eine Kehrtwende und trug massgeblich dazu bei, dass die SPD dem Koalitionsvertrag mit der Union ihren Stempel aufdrückte, wichtige Forderungen der SPD darin unterbrachte und dass die SPD-Mitglieder am Ende zustimmten. Zu Fall gebracht haben Nahles nun aber, soweit erkennbar, nicht die Gegner der grossen Koalition in der SPD, wie etwa die Jusos. Der Gegenwind kam von Teilen der Fraktion, die sich vor allem an umstrittenen Auftritten der Parteichefin störten, die Gesprächsstoff in den Wahlkreisen lieferten. Aus ihrem Umfeld hiess es, «entscheidende Player haben sich nicht loyal verhalten» - auch in der Partei.

Als verbissen wahrgenommen

In der Öffentlichkeit wird die Berufspolitikerin, die Politik und Germanistik studierte, bisweilen als verbissen wahrgenommen, bei anderen Gelegenheiten als überdreht, etwa wenn sie im Bundestag Pippi Langstrumpf sang oder beim Abschied aus dem Kabinett den Unions-Ministern gut gelaunt mit auf den Weg gab, sie bekämen von ihr als Oppositionsführerin «in die Fresse».

In ihrer näheren Umgebung gilt Nahles als Frohnatur mit Witz und Schlagfertigkeit. Um Kraftausdrücke ist die Tochter eines Maurers nicht verlegen. «Ich bin vielleicht ein bisschen eruptiv. Ich komme aus der Vulkaneifel», räumte Nahles einst in einem Interview der «Süddeutschen Zeitung» ein. In ihrer Abitur-Zeitung gab sie 1989 als Berufswunsch an: «Hausfrau oder Bundeskanzlerin». Letzteres könnte sich nun erledigt haben. Die 48-Jährige will sich komplett aus der Politik zurückziehen und zeitnah auch ihr Bundestagsmandat aufgeben.

(reuters/ccr)