Adventszeit, stille Zeit. In den Dezemberwochen, wenn sich genervte Kunden in den Kaufhäusern auf den Füssen stehen und der Einzelhandel hektische Überstunden schiebt, kann sich Ernst Tanner gemütlich zurücklehnen. Für ihn ist das Weihnachtsgeschäft, das ein Viertel des Jahresumsatzes ausmacht, längst passé. Bereits im September hat Lindt & Sprüngli die Schokoladentafeln, Pralinés und Samichläuse an den Handel ausgeliefert. Jetzt bedient man nur noch einige Nachbestellungen und kümmert sich im Übrigen um das Ostergeschäft. In zwei Monaten wird dem Handel bereits das Weihnachtssortiment für das kommende Jahr vorgestellt. Auch dem Jahresabschluss kann Lindt-CEO Tanner beruhigt entgegensehen: «Das Geschäft ist heuer noch besser gelaufen als die letzten Jahre», sagt er.

Man wagt es kaum mehr zu glauben. In einer Zeit, in der Grounding, Missmanagement und Stellenabbau die heissesten Kandidaten für das Wort des Jahres sind, gibt es noch Erfolgsgeschichten. Die von Lindt & Sprüngli ist eine besonders schöne. Unter Ernst Tanner (55) wurde der einstige Übernahmekandidat zum Vorzeigeunternehmen. In den acht Jahren seiner Amtszeit ist der Umsatz von L&S um 80 Prozent auf 1,5 Milliarden Franken gewachsen, hat sich der Reingewinn auf 76 Millionen Franken verdoppelt, ist der Börsenkurs um 320 Prozent gestiegen. All das in einem Markt, der heiss umkämpft ist, seit Jahren stagniert und unter dem Preisdiktat des mächtigen Einzelhandels ächzt.

Doch wer ist der Mann hinter dem Erfolg? Um diese Frage zu beantworten, muss man in die Kultur jenes Unternehmens eintauchen, das den Bauernsohn aus dem Schaffhausischen über ein Vierteljahrhundert lang geprägt hat: Johnson & Johnson (J&J), einer der grössten und bestgeführten Konsumgüterproduzenten der Welt. Bei der Schaffhauser Tochter Cilag fing Tanner, 21-jährig, als Assistent des Finanzchefs an, weil, wie er sagt, ihm das Geschäften mehr lag als das Holzhacken und die weite Welt näher als der heimische Hof. Die Welt sollte Tanner kennen lernen in seiner 26-jährigen Karriere bei J&J: London, Zürich, Brüssel, nochmal Zürich, Arlington (Texas) und das Konzernhauptquartier in New Brunswick (New Jersey) waren die Stationen, bis er als Europachef wieder in der Schweiz landete.

Nicht dass der Mann mit dem strengen Scheitel und den ebenso strengen Bügelfalten für immer bei dem amerikanischen Multi bleiben wollte. Regelmässig träumte er davon, sich selbstständig zu machen, um amerikanische Unternehmen in Europa zu vertreten. Doch jedesmal, wenn er sich ernsthaft Gedanken über einen Ausstieg machte, kam J&J mit der nächsten Beförderung. «Der Aufbau einer Karriere hat viel Ähnlichkeit mit dem Aufbau einer Premiummarke», sagt Tanner. Eine klare Zielsetzung, ein starkes Markenbild («das Wissen, wo man im Leben einen Eindruck hinterlassen will») und die Langfristigkeit seien entscheidend: Über mindestens vier bis fünf Jahre müsse man seine Position etablieren. Deshalb wird auch vor dieser Karenzfrist bei Lindt & Sprüngli niemand befördert. «Sonst kann man nicht beurteilen, was er für Leichen im Keller versteckt hat», sagt Tanner. Wer auf der Überholspur Karriere machen will, ist bei ihm fehl am Platz.

Langfristiges Denken hat Tanner bei J&J von der Pike auf gelernt. Die Maxime des US-Konzerns, wonach Gewinn von Marktanteilen wichtiger sei als kurzfristige Profitmaximierung, verfolgt er auch bei Lindt: Statt mit aufgeblasenen Marketingaktionen den schnellen Erfolg zu suchen, erneuerte er im Laufe der Jahre das Unternehmen grundlegend. Insgesamt rund 750 Millionen Franken investierte Lindt seit 1993 in Produktionsanlagen. Nicht wenige Maschinen wurden speziell für das Kilchberger Unternehmen entwickelt; ihretwegen ist Lindt heute in der Massenfertigung flexibler als die grossen Schokoladenhersteller. Vor allem ermöglichen sie einen enormen Innovationsrhythmus: Über 2000 verschiedene Produkte führen die Chocolatiers im Sortiment, der Grossteil davon wird jedes Jahr verändert oder erneuert. Dabei blieb Lindt immer auf das Premiumsegment fokussiert, das für die Grosskonzerne im Schokoladenmarkt wegen des vergleichsweise kleinen Absatzmarktes wenig lukrativ ist.

Das Schlüsselstück in Tanners Strategiemosaik freilich ist die Internationalisierung. Unter seinem Vorgänger, Rudolph R. Sprüngli, dem letzten Familienvertreter an der Spitze des 156-jährigen Traditionsunternehmens, machte das Unternehmen drei Viertel seines Umsatzes in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland. Heute ist Lindt eine Weltmarke, in 80 Ländern vertreten und in allen wichtigen europäischen Ländern der Marktführer. Am meisten Schokolade verkauft Lindt jedoch in den USA. Auf die Eroberung dieses weltgrössten Schokoladenmarktes hat sich Tanner die letzten sieben Jahre fokussiert. Heute ist man dort mit 80 eigenen Shops präsent (70 weitere sollen folgen) und dank der Akquisition der amerikanischen Edelmarke Ghirardelli der zweitgrösste Anbieter für Premiumschokolade. Die Saat ist gesetzt, die nächsten fünf bis zehn Jahre kann Lindt nun die Ernte in Form doppelstelliger Wachstumsraten einfahren. Auch die Ereignisse des 11. September beeinflussen das Geschäft bislang nur wenig. «Unser Shop in der 5th Avenue läuft fantastisch», sagt Tanner. Als Nächstes sollen Osteuropa und Russland erschlossen werden. «Wir sind nicht so gross, dass wir überall gleichzeitig expandieren können, ohne dass eine Bruchlandung droht», sagt er in Anspielung auf die Hunter-Strategie und ihre Folgen für die Swissair.

Dass Tanner den amerikanischen Markt aus eigener Erfahrung sehr gut kennt, kommt ihm bei der Expansion zugute. Von 1982 bis 1990 lebte er in den Staaten, zuerst als Leiter einer Firma für Spitalprodukte, später als Chef über sechs internationale Gesellschaften am Hauptsitz. «Er ist in dieser Zeit härter geworden», urteilt einer, der ihn davor und danach erlebt hat, entschlussfreudiger auch bei Entscheidungen mit negativen Konsequenzen. Und verkaufsorientierter, nicht nur was seine eigene Person betrifft. Als «absoluten Marketingprofi» bezeichnet ihn Armin Meyer, Chef von Ciba SC und mit Tanner privat befreundet. Auch im Freundeskreis wird Tanner nicht müde, die Vorzüge seiner Pralinés zu rühmen. «Er lebt auch im Privaten zu 100 Prozent für seine Produkte», sagt Meyer.

Tanner ist ein jovialer Typ. In seiner J&J-Zeit tourte er jeweils freitags nachmittags für ein Schwätzchen durch die Büroräume und arbeitete so an seinem Beziehungsnetz. Auch mit den einfachen Mitarbeitern am Fliessband oder im Lager findet er mühelos Anknüpfungspunkte. Dann ist er wieder der Bauernsohn – «down to earth» nennt es ein ehemaliger Untergebener. Das Ergebnis: «Man hat für Ernst Tanner Dinge getan, weil es für Tanner war und nicht für Meier oder Müller», sagt Hans Raeber, ein ehemaliger Weggefährte und heute beim Zahnpastahersteller Gaba. Davon zeugen die zahllosen ehemaligen J&J-Angestellten, die Tanner im Lauf der Jahre nach Kilchberg gefolgt sind. Dort sind sie ihm treu geblieben: Die Fluktuationsrate im Management ist ausgesprochen gering; die Mitglieder der Konzernleitung und die wichtigen Länderchefs haben in all den Jahren nicht gewechselt. Kein Zufall, sondern Folge der Akribie, mit der Tanner seine Mitarbeiter auswählt. Dass Qualifikation und Chemie stimmen, reicht nicht; wer die Unternehmenswerte nicht leben will, braucht erst gar nicht anzufangen. Und wenn ein Mitarbeiter kündigt, «rede ich ein sehr ernstes Wort mit dessen Vorgesetzten» (Tanner). Denn, so seine Philosophie, wenn jemand auf seinem Posten überfordert ist, ist es die Schuld desjenigen, der ihn an diese Stelle gesetzt hat.

Dass Tanner so viel Wert auf die Unternehmenswerte legt, ist kein Zufall. Auch hier hat ihn die aussergewöhnlich starke J&J-Kultur geprägt. Verantwortung für den Kunden, Achtung von Mitarbeiter und dessen Familie, Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen sind die Maximen des J&J-Kredos; der Gewinn des Aktionärs ergibt sich erst danach als logische Konsequenz aus der Einhaltung dieser Grundsätze. «Alte Schule» nennt es Tanner. Ein in Aufbau und Inhalt ähnliches Kredo hat er nach seinem Amtsantritt bei L&S eingeführt. Folgerichtig, dass sich Lindt nicht nur für wohltätige Zwecke, sondern auch für die neue nationale Airline engagiert. Angefragt wurde Tanner dafür nicht. Er musste von sich aus die Initiative ergreifen, bis Niklaus Schneider-Ammann, Nationalrat und mit Tanner im Swatch-VR, den Klingelbeutel vorbeischickte. Drei Millionen steckte Lindt hinein. Auch privat lebt Tanner nach dem Kredo, denn es deckt sich mit seinem persönlichen Wertekompass.

Der Mann, der bei J&J mit 32 der jüngste Länderchef überhaupt war und später in Arlington der erste Ausländer an der Spitze einer US-Tochter, ist ein Lebensoptimist. So sehr, «dass er manchmal Mühe hat, schlechte Nachrichten zu glauben, und sie verdrängt», sagt Rolf Bänziger, der mit ihm lange Jahre bei J&J arbeitete. Seine Ziele jedoch verfolgt Tanner mit einer Hartnäckigkeit, die für manche seiner Wegbegleiter schon fast an Sturheit grenzt. Eine Anekdote aus den frühen Neunzigerjahren mag dies verdeutlichen. Damals entschied sich Tanner für einen anthrazitfarbenen Mercedes S400 als neuen Dienstwagen. Das Problem: Dieses Modell exportierte Daimler-Benz nicht in die Schweiz. Doch ein anderes Auto wollte er nicht. Nach langem Suchen fand er heraus, dass lediglich für den Bundesrat ein Sonderkontingent von sieben derartigen Fahrzeugen in die Schweiz geliefert werden sollte. Also setzte Tanner alle Hebel in Bewegung, um im Windschatten der bundesrätlichen Bestellung noch ein weiteres Fahrzeug einführen zu dürfen. Es gelang. «Wenn man etwas will, findet man Wege, wie man dazu kommt», lautet Tanners Leitspruch.

Nicht in kreativen Eruptionen wie bei Swatch, wo Tanner im VR sitzt, sondern mit der Systematik eines Uhrwerks werden bei Lindt & Sprüngli die Erfolge erarbeitet. Die Methoden, die er bei J&J im Lauf der Jahre kennen lernte und weiter zu verfeinern half, wendet Tanner auch in Kilchberg an. Ob systematische Marktforschung und demografische Studien, ob tiefenpsychologische Tests über den Schokoladenkonsum oder das Reporting auf Monatsbasis: Das mittelgrosse Unternehmen aus Kilchberg hat seinen Apparat perfektioniert wie ein Grosskonzern. Der Aufwand zahlt sich aus. Unter allen neu lancierten Produkten der letzten Jahre verbuchte Lindt lediglich mit den Schokoladenbisquits Pralinelli einen Flop – äusserst ungewöhnlich in einer Branche, in der mehr als die Hälfte der Neuigkeiten nach kurzer Zeit wieder aus den Regalen verschwindet.

Keine Frage: Tanner ist minutiös in der Planung, pingelig in der Exekution. Einen «selbst für einen CEO überdurchschnittlichen Einsatz» konstatiert Urs Riedener, früher Geschäftsleitungsmitglied bei Lindt und heute bei der Migros tätig. Frühaufsteher Tanner kennt nichts anderes: Mit einem einfachen KV-Abschluss ins Berufsleben gestartet, hat er sich sein Management-Know-how über Jahre in Business-Schools und Abendkursen angeeignet. Tanner mag ein Chrampfer sein, ein Asket ist er nicht. Er schätzt edle Weine und piemontesische Trüffelspezialitäten; die Blancpain an seinem Handgelenk gibt es weltweit nur einhundertmal; in seiner Freizeit spielt er mit Frau und Sohn Golf (Handicap 26 – «Aber ich spiele es wenigstens!») oder vergnügt sich in seinem Motorboot auf dem Vierwaldstättersee. Alles andere als ein Genussmensch wäre auch schlecht denkbar an der Spitze eines Luxusschokoladen-Herstellers. Aber Tanners Lebenslust blüht im Verborgenen: In seinem BMW-Z8-Cabrio würde er sich nie an den Kilchberger Firmensitz trauen. Beinahe angestrengt vermittelt er ein Bild der Bescheidenheit, Interviews zu seiner Person hat er bislang standhaft abgelehnt. «Und, gell, machen Sie mich bitte nicht zum Helden», gibt er dem Journalisten mit auf dem Weg. Fast scheint es, als sei ihm der Erfolg ein wenig peinlich.

Tanner motiviert, indem er delegiert. Die Umsetzung jedoch kontrolliert er akribisch. Er ist, wie es in seiner zweiten Heimat USA heissen würde, ein «Hands on»-Typ, degustiert jedes Produkt, kennt die Umsatzzahlen jedes einzelnen Ladens, prüft vor Ort, wie die Produkte präsentiert sind. Dafür sammelt er 150 000 Flugmeilen im Jahr. «Ich lasse mir nicht gerne vom lokalen Management vermitteln, wie die Dinge liegen», sagt er. Auch wenn ihm im Gegensatz zu seinem Vorgänger Rudolph R. Sprüngli das Unternehmen nicht gehört: Es hat etwas Patriarchalisches, wie er den Schokoladenkonzern mit 5900 Mitarbeitern führt. Dafür sorgt auch die Ämterkumulation: Tanner wirkt als VR-Präsident, als CEO und ausserdem als Präsident des Fonds für Pensionsergänzungen, der mit 22,3 Prozent grösster Einzelaktionär von Lindt & Sprüngli ist (die verschiedenen Mitglieder der Familie Sprüngli halten zusammen keine fünf Prozent mehr). Selbst eine klare Nummer zwei ist nicht erkennbar. «In einem Unternehmen dieser Grösse braucht es eine starke Person an der Spitze», weist Tanner Kritik an seiner Machtballung zurück. «Wir sind kein Jekami-Klub» (Jekami: Jeder kann mitmachen. Die Red.). Für ihn sowieso eine Diskussion um des Kaisers Bart: Die nächsten fünf bis sieben Jahre denkt er nicht daran, das Zepter abzugeben.

Schliesslich er hat noch eine Mission zu erfüllen. «Bislang gab es zwei Unternehmen, die im Ausland das Schweizer Image repräsentierten», sagt er. «Jetzt müssen wir den Job alleine machen.» Eine Duplizität der Ereignisse ist indes vorerst kaum zu erwarten. «Bei uns gibt es kein Grounding», sagt Tanner. «Wir sind immer mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben.» Und haben trotzdem einen Höhenflug hingelegt.

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