Ganz selbstverständlich ist es nicht, dass Hans Lerch (50) seinen lerchenhaften Steigflug derart rasch krönen konnte. Jedenfalls präsentierte sich die Situation im Frühling vergangenen Jahres reichlich grotesk: Riccardo Gullotti, Kuoni-Chef und ursprünglich als neuer CEO der heiratswilligen Reiseriesen Kuoni und First Choice Holidays angekündigt, bekam das darauf folgende undurchsichtige Gerangel um Posten und Positionen satt. Er liess sich ausbezahlen, räumte sein Büro in der Zürcher Konzernzentrale – und als der geplante Deal mit dem britischen Ferienveranstalter bachab ging, stand der Schweizer Branchenprimus buchstäblich mit abgesägter Hose da; Kuoni hatte nicht bloss gegen 27 Millionen Franken verloren, sondern auch seinen erfolgreichsten Konzernchef seit den Zeiten des legendären Jack Bolli.

Als Nachfolger Gullottis schien Lerch zwar gesetzt; schliesslich gilt der ausgefuchste Branchenprofi bei vielen als der versierteste und innovativste Schweizer Touristiker, seit Bruno Tanner (Vögele, TUI Group) sich zurückgezogen hat. Etwas anders sah es bloss einer: Daniel Affolter. Plötzlich, vielleicht auch schon seit längerer Zeit, gelüstete es den VR-Präsidenten von Kuoni, in die Fussstapfen von Berufskollege Gullotti zu treten, der Mitte der Neunzigerjahre, ebenfalls als VR-Präsident, das Juristenpult mit dem operativen Chefsessel bei den Ferienmachern getauscht hatte. Nach dem Rücktritt Gullottis griff Affolter noch vor dem Scheitern der Fusion vorsorglich schon mal nach dem zusätzlichen Amt des VR-Delegierten. Im vergangenen Sommer bekannte er Farbe und meldete seinen Anspruch auf den prestigeträchtigen Job des CEO an.

Zurückgepfiffen wurde der Protégé des greisen Alfred Kuoni schliesslich vom eigenen Verwaltungsrat. Dieser respektierte zwar Affolters unbestrittene Verdienste um das Unternehmen ebenso wie seine Qualitäten als VR-Präsident, die Führung des Konzerns indes mochte man ihm nicht anvertrauen. Affolter habe hoch gepokert und verloren, sagt ein VR-Mitglied, aber er habe die Niederlage akzeptiert. Hans Lerch selbst schweigt eisern zu diesem Thema. Der Entscheid des Kuoni-Verwaltungsrates, den eigenen Präsidenten zu brüskieren und sich hinter Lerch zu stellen, war mutig – und vor allem weise. Denn unter Lerch, der das Scheitern der Fusion mit First Choice als «Schock in Raten» erlebte, reifte in den führenden Kuoni-Köpfen rasch die Überzeugung, das Unternehmen könne durchaus gestärkt aus diesen Wirren hervorgehen. Überdies legte der neue CEO von Beginn weg ein derart horrendes Tempo vor, dass gar nie ein Fusionskater aufkommen konnte.

Als Erstes akquirierte Lerch im vergangenen September den hochprofitablen US-Luxusveranstalter Intrav. Es folgte die 45-Prozent-Beteiligung an der skandinavischen Apollo, die im nächsten Jahr auf 75 Prozent aufgestockt werden soll. Dank der Übernahme von Dane Tours und Kisbye Rejser in Dänemark operiert Kuoni künftig in Nordeuropa aus Dänemark, Schweden und Norwegen und hat in diesem wichtigen Markt eine Grösse erreicht, die ein Wachstum aus eigener Kraft ermöglicht. Dann übernahm Kuoni in New Delhi mit Sita World Travel das grösste indische Reiseunternehmen mit den Geschäftsbereichen Outbound-Ferienreisen, Geschäftsreisen und Incoming-Services, und in der Schweiz wurde die Position dank der überraschenden 49-Prozent-Beteiligung an der TUI Suisse verstärkt. Satte 570 Millionen Franken hat Kuoni in den vergangenen zwölf Monaten für Übernahmen und Beteiligungen ausgegeben und so seine Marktstellung auf drei Kontinenten massiv verstärkt.

Die Kooperation von Kuoni mit der deutschen Touristik Union International (TUI) gilt als eigentliches Husarenstück Lerchs. Als die TUI vor wenigen Jahren den Einstieg in der Schweiz suchte, war es nämlich ausgerechnet der damals für den heimischen Markt zuständige Kuoni-Generaldirektor Lerch, der auf Konfrontationskurs zu Europas Nummer eins ging: Kuoni boykottierte den Verkauf der ITV-Produkte – das Konstrukt aus Imholz, TUI Suisse sowie Vögele – und schnitt so dem deutschen Riesen, unterstützt von Hotelplan, massgeblich die Luft ab.

Heute steht mit Martin Wittwer ein früherer Kuoni-Mann und Lerch-Vertrauter an der Spitze der neuen TUI Suisse. Der gegenseitige Vertrieb wurde wieder aufgenommen, Chartermaschinen werden gemeinsam genutzt, und in seinen Katalogen darf Kuoni dafür wieder die rund um den Globus gelegenen Hotels der TUI Group anbieten. Die Zusammenarbeit zwischen Schweizern und Deutschen funktioniert, die Verluste von TUI Suisse sollten heuer massiv reduziert werden können, und im kommenden Jahr wird das gemeinsame Unternehmen gemäss Lerch «eine solide schwarze Null schreiben». Anschliessend will er bei der zu erwartenden Dividende mitverdienen.

Ein Schmunzeln entlockt es ihm freilich schon, dass er heute, zumindest in der Schweiz, im selben Boot sitzt mit dem mächtigen Konkurrenten TUI. Und dass die C&N-Gruppe (Condor, Neckermann), im europäischen Markt die erbittertste Konkurrentin von TUI, diese Zusammenarbeit goutiert. Aber umgekehrt akzeptiert TUI schliesslich auch stillschweigend, dass Kuoni in Österreich mit C&N zusammenspannt.

«Wir sind ein Unikat zwischen den beiden deutschen Riesen», sagt Lerch. «Sie lassen uns gewähren, weil wir uns in Nischen bewegen und weder im deutschen noch im britischen Massengeschäft tätig sind.» Dabei wird es aller Voraussicht nach auch bleiben. Zwar bot Kuoni jüngst in Deutschland mit, als die Reisetochter der Deutschen Bahn (DER) zum Verkauf stand, doch wie viele Bietverfahren in der von Fusionsfieber und Kaufwut geschüttelten Branche wurde auch dieses in astronomische Höhen hochgeschaukelt. Als die deutsche Rewe schliesslich zum Handkuss kam, lag der Preis um über 400 Millionen Mark höher als die Kuoni-Limite.

«Wenn TUI es nicht geschafft hat, im Schweizer Massengeschäft Fuss zu fassen, so wird dies Kuoni in Deutschland erst recht nicht gelingen», sagt Lerch illusionslos. Er setzt deshalb ganz auf die altbewährte Kuoni-Strategie: Bestehende Gesellschaften sollen durch Übernahmen so verstärkt werden, dass sie in ihren Märkten die kritische Grösse erreichen, und beim Eintritt in neue Märkte will er so lange zukaufen, bis dieses Ziel ebenfalls erreicht ist. Unter Lerch, das haben die vergangenen zwölf Monate gezeigt, verfolgt Kuoni diese Linie aggressiver denn je. Auch wenn die Akquisitionen nicht sonderlich spektakulär waren: Strategisch waren sie ausserordentlich geschickt, tönt es sogar anerkennend aus der Konzernzentrale der TUI Group in Hannover.

Derzeit sieht Lerch eine seiner Hauptaufgaben darin, die Zukäufe zu integrieren und ihre Resultate weiter zu verbessern. Handlungsbedarf besteht nach wie vor in Spanien und Holland, wobei ein Abstossen dieser Geschäfte nicht auszuschliessen ist. Als «heiklen kulturellen Wurf» bezeichnet er die Fusion der zwei Firmen in Indien, «denn in diesem Wachstumsmarkt wollen wir auch in fünf Jahren noch die Nummer eins sein.»

Und dann ist da natürlich der E-Commerce. Derweil bei diesem Schlagwort manche in Goldgräberstimmung verfallen, bleibt Lerch cool. Kuoni-intern sind Spezialisten daran, ein neues E-Commerce-Projekt aufzugleisen. Das Internet geniesst einen hohen Stellenwert, doch für Lerch stellt sich primär die Frage, welcher Anteil wann elektronisch gebucht wird. Derzeit setzt der Konzern im Internet knapp 50 Millionen Franken um, rund 1,5 Prozent des Umsatzes. Experten gehen davon aus, dass in fünf Jahren 15 bis 20 Prozent des heutigen Volumens via E-Commerce vertrieben werden, und dieser Prognose trägt Lerch Rechnung: «Es kommt gar nicht in Frage, dass wir einfach 100 Millionen für Investitionen in die Hand nehmen.» Für ihn ist E-Commerce ein zusätzlicher Distributionskanal – nicht mehr und nicht weniger. «Wir haben Ideen, tätigen Investitionen und sind am Ball, falls plötzlich ein Schalter angedreht wird», sagt Lerch, «aber wir haben auch den Mut, das richtige Mass zu vertreten.»

Am Ball bleibt Lerch insbesondere dann, wenn es darum geht, den Konzern beziehungsweise dessen Gesellschaften zu stärken. Der Hunger nach Akquisitionen ist bei weitem nicht gestillt: «Wer spektakuläre Übernahmen erwartet, wird enttäuscht», sagt Lerch zwar, «aber wenn wir Angebote erhalten, die in unsere Strategie passen, sind wir weiter dabei im Akquisitionskarussell.» Geld dafür ist auch vorhanden. Um die Kriegskasse wieder zu füllen, hat Kuoni das Kapital von 16 auf 160 Millionen Franken erhöht; dem Konzern wird so rund eine halbe Milliarde Franken zufliessen.

Und daran, dass Lerch im richtigen Moment das Richtige tut, zweifelt niemand. «Er erspäht überall und in jeder Situation eine Chance», sagt etwa Kurt Heiniger. «Lerch riecht es förmlich, wenn ein Geschäft in der Luft liegt, und er ist überdies ein ausgesprochenes Marketingtalent.» Heiniger war ein Vierteljahrhundert lang in allen möglichen Funktionen Lerchs Vorgesetzter und kennt den heutigen Konzernchef besser als jeder andere. Zwischendurch haben die beiden sich auch mal das eine oder andere Scharmützel geliefert, unter dem Strich aber bildeten sie ein überaus erfolgreiches Gespann. Heiniger freut sich auch darüber, dass mit Lerch ein Mann an die Spitze gelangte, der nicht von Unternehmesberatern oder Aktionären dorthin katapultiert worden ist: «Lerch ist aus dem Unternehmen herausgewachsen und ein Paradebeispiel dafür, dass einer mit Intelligenz, Führungseigenschaften, Know-how und der Bereitschaft zur Weiterbildung noch immer seinen Weg machen kann.»

Lerchs Weg begann im bernischen Roggwil, wo sein Vater im Personalwesen der Firma Gugelmann tätig war. Er absolvierte eine Lehre im Import-/Exportwesen und trat dann in Winterthur seine erste Stelle an. Dort lernte er einen Kollegen kennen, dessen Schwester bei Kuoni arbeitete. Dass diese ständig nach Thailand und an andere reizvolle Destinationen reisen konnte, beeindruckte den jungen Lerch zutiefst. Schliesslich hatte er es als Zwanzigjähriger erst ein einziges Mal ins Ausland – an die Adria nach Jesolo – gebracht. Also rief er den Kuoni-Personalchef in Zürich an, durfte an einem Samstag vorbeigehen, wurde umgehend eingestellt und verdiente als Sachbearbeiter im Incomingbereich mit 1700 Franken erst noch 400 Franken mehr als zuvor.

Zwei Jahre später hätte er sich nach Paris versetzen lassen können, «um endlich richtig Französisch zu lernen» (Lerch), doch dann wurde jemand in Tokio gebraucht. Der Aufstieg begann. Zwar musste Lerch anfänglich, um überhaupt in Englisch korrespondieren zu können, alte Briefe von Kollegen als Vorlage hervorkramen, doch er lernte rasch. Mit 22 war er Leiter der Niederlassung Tokio, Hongkong und Singapur und wurde später Kuoni-Regionalleiter Far East.

Nach 14 Jahren im Fernen Osten holte Jack Bolli (Lerch: «Ein unglaublich charismatischer Pioniergeist und Patriarch, der den Konzern aus dem Bauch heraus führte») ihn als Direktor des Departementes Incoming nach Zürich zurück. Auch Bollis glückloser Nachfolger Michel Crippa («Er hat manches falsch, aber auch vieles richtig gemacht») und Peter Oes («Mit ihm kehrte Ruhe ein, aber allzu lange durfte es nicht so ruhig bleiben») erkannten Lerchs Fähigkeiten. Er erhielt das Topdepartement Tour-Operating Schweiz, und unter Riccardo Gullotti wurde er Generaldirektor und Mitglied der Konzernleitung. «Hut ab vor Gullotti», sagt Lerch. «Er brachte einen neuzeitlichen Führungsstil in die Firma, und dank seiner natürlichen Autorität musste er sich nie mit Befehlen behelfen.» Nicht zuletzt habe Gullotti es verstanden, erstklassige Führungspersönlichkeiten auszuwählen, die sich voll entfalten konnten.

Genau das ist auch eine ganz grosse Stärke von Lerch. In all seinen Funktionen hat er stets Topleute um sich geschart, die für ihn durch dick und dünn gingen und denen er alle Freiheiten gewährte. So auch jetzt. Lerchs junge Führungscrew gilt als verschworene Gemeinschaft, in deren Zusammensetzung er sich ganz auf seinen Instinkt verliess. Als er etwa unbeirrt auf Walter Brüllhart setzte, schüttelten manche den Kopf. Heute füllt der Badeferienchef die Maschinen der profitablen Edelweiss-Fluggesellschaft, die als eine der besten europäischen Charter-Airlines gilt.

Kuoni ist Lerchs Leben. Gesellschaftlich ist er so gut wie inaktiv, und aus Zeitgründen nimmt er auch keine externen VR-Mandate an. Denn Zeit für die Familie bleibt schon jetzt zu wenig. Das gilt auch fürs Joggen. Auf den 28,3 Kilometern, die er heute pro Woche noch abspult, geniesst er es, wenn die zehnjährige Tochter ihn auf dem Velo begleitet, «Denn bald», ahnt Lerch, «wird sie so häufig am Telefon hängen wie der 17-jährige Sohn.»

Bis dann, in rund fünf Jahren, soll Kuoni nach Lerchs Vorstellung nicht wesentlich anders funktionieren als heute. Aber der Konzern wird international, auch in den neuen Märkten, noch breiter abgestützt sein, das Incoming wird weltweit intensiver betrieben, und der Geschäftsreisenbereich wird einen hohen Stellenwert einnehmen. Und schliesslich verrät Mister Dynamit auch noch etwas über das Tempo, das er einzuschlagen gedenkt: «Im Jahr 2005 wird Kuoni doppelt so gross sein wie heute.»

 

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