Eine Bekannte von mir hat eine auffällige Angewohnheit. Wenn wir durch die Stadt gehen, bleibt sie immer wieder kurz vor einem Schaufenster stehen. Sie blickt im Glas auf ihr Spiegelbild und streicht dann mit der Hand eine Falte an ihrer Jacke oder ihrem Jupe zurecht.

Für uns Männer ist das ein Zeichen von weiblicher Eitelkeit. Wir liegen damit falsch, wie der sogenannte Spiegeltest beweist.

Der Spiegeltest ist in der Biologie die verbreitete Methode, um zwischen intelligenten und nichtintelligenten Lebewesen zu unterscheiden. Der Test geht so: Man bringt auf einer Person oder einem Tier ein auffälliges äusseres Merkmal an, meist einen roten oder gelben Punkt, den man im Gesicht oder am Hals fixiert.

Dann stellt man die Test-Kreaturen vor einen Spiegel. Nun beobachtet man, ob sich die Personen oder Tiere im Spiegel erkennen können. Das ist dann der Fall, wenn sie den farbigen Punkt mit der Hand, der Pfote oder einem anderen Körperteil berühren oder ihn beseitigen wollen.

Der Spiegeltest zeigt, ob die kognitive Fähigkeit vorhanden ist, sich selber erkennen zu können. Nur sehr hoch entwickelte Lebewesen haben diese Form von übergeordneter Intelligenz.

Kleinkinder zum Beispiel bestehen den Spiegeltest etwa nach 20 bis 24 Monaten ihres Lebens. Vorher sehen sie ihr eigenes Abbild nicht.

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Kluge Raben, Delfine und Affen

Noch interessanter ist das Phänomen bei den Tieren. Haustiere wie Hunde, Katzen und Pferde etwa können sich im Spiegel nicht erkennen. Sie glauben, das Spiegelbild sei ein Artgenosse, und greifen ihn mitunter an. Sie gehören damit nachweislich zu den eher dümmlichen Viechern.

Bei drei Tierarten ist es wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen, dass sie den Spiegeltest problemlos bestehen. Es sind die smarten Raben, die klugen Delfine und die cleveren Affen.

Die Raben sind die Intelligenzbestien unter den Vögeln. Am talentiertesten vor dem Spiegel ist dabei die Untergruppe der Elstern. Die Vögel versuchen, rote und gelbe Flecken zu entfernen, die man auf ihrem Gefieder angebracht hat. Elstern gehen vor der glänzenden Glasfläche ausnehmend selbstgefällig auf und ab und blicken interessiert auch hinter den Spiegel.

Stark in der Selbstwahrnehmung sind auch die Delfine. Wenn man mit ihnen den Fleckentest durchführt, dann sehen sie sofort, dass mit ihrer Aussenhaut etwas nicht stimmt. Besonders schlaue Delfinbabys bestehen den Spiegeltest bereits mit sieben Monaten, also deutlich schneller als der Nachwuchs des Homo sapiens. Delfine stossen vor dem Spiegel auch Luftblasen aus, weil das einen amüsanten Effekt ergibt.

Es ist nicht Eitelkeit, es ist Intelligenz

Fast keinen Unterschied vor dem Spiegel gibt es zwischen uns und den Menschenaffen. Vor allem Schimpansen und Orang-Utans sind in der Selbstbespiegelung völlig vergleichbar. Sie können sich auch in reflektierenden Schaufenstern sehen. Sie wissen, dass man näher an die Spiegelfläche heranrücken muss, wenn man Details wie die eigene Nase in der Nahaufnahme betrachten will, und dass man zurücktreten muss, um den Gesamteindruck einzufangen. Orang-Utans sind jene Tierart, die auch am besten mit einem Handspiegel umgehen kann. Sie kontrollieren damit den Zustand ihres Fells, ihrer Augen und ihrer Zähne.

Wir Männer müssen also umdenken. Wenn Frauen sich gerne in spiegelnden Schaufenstern betrachten oder den Handspiegel aus der Tasche ziehen, haben wir das fälschlicherweise für weibliche Eitelkeit gehalten. Es ist nicht Eitelkeit, es ist Intelligenz.