Zürich Oerlikon, Ende August 2000. Nach einer Stunde Interview die letzte Frage: «Herr Lindahl, wenn Sie in ein paar Jahren abtreten, wofür möchten Sie in Erinnerung bleiben?» Die spontane Antwort: «In ein paar Jahren – come on! Ich bin erst 55. Sie wollen mich wohl loswerden?»
Was Göran Lindahl damals spasseshalber gesagt hatte, ist acht Wochen später ernst geworden. Zur allgemeinen Überraschung, auch der engeren Mitarbeiter, trat er vom Chefposten bei ABB zurück. «Wir haben erst die Hälfte des Weges zurückgelegt», hatte der Schwede im Hinblick auf seine Restrukturierungsmassnahmen nur wenige Wochen zuvor noch gesagt. Doch dann verliess er sein Zürcher Büro Knall auf Fall, wollte nicht einmal die letzten zwei Monate bis zur offiziellen Stabsübergabe warten. «Es gab schon seit Frühling Diskussionen, dass ich zurücktrete», sagt Lindahl heute. Und: «Ich habe dem Verwaltungsrat meinen Rücktritt aus eigenem Antrieb vorgeschlagen.» Doch dass ausgerechnet der machtbewusste Lindahl plötzlich amtsmüde sein soll, das mag so recht niemand glauben. Viele, unter anderem zwei Topmanager, die direkt an ihn rapportierten, sind der Überzeugung, dass sein Abgang weder geplant noch freiwillig war. Dass der Umbau vom Industrie- zum Wissenskonzern den schwedischen Grossaktionären zu langsam ging, Lindahl dem Druck nicht mehr gewachsen war, scheint je länger, je mehr der wahrscheinlichste Grund. Ähnliches hat VR-Präsident Percy Barnevik im kleinen Kreis auch bereits geäussert (siehe auch «Ebner im Nacken» auf Seite 33).
Dafür spricht auch das enorme Tempo, mit dem Lindahls Nachfolger ans Werk geht: Jörgen Centerman (Bild) heisst der Mann, der durch den überhasteten Chefwechsel in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gespült wurde. Vorher hatten ihn ausserhalb des Unternehmens nur die wenigsten zur Kenntnis genommen. Doch: «Intern war er schon seit einiger Zeit der Spitzenkandidat», sagt Lindahl. Und kaum ist der 49-jährige Ingenieur eine Woche offiziell an der Macht, schon baut er mit lautem Getöse den 160 000-Mann-Konzern um. «Ich will meine eigenen Fussspuren hinterlassen», sagt er – keine leichte Aufgabe angesichts der gewaltigen Vorgaben seiner beiden Vorgänger Göran Lindahl und Percy Barnevik.
Wer also ist Jörgen Centerman? Eigentlich hiesse er ja Jörgen Pettersson, wenn sein Vater nicht den Namen hätte ändern lassen, um der Anonymität von Hunderttausenden anderen schwedischen Petterssons zu entgehen. Äusserlich sieht Pettersson alias Centerman seinem Vorgänger Lindahl ähnlich, ist gross und von bulliger Statur, trägt immer einen korrekten Seitenscheitel, hat ein wettergegerbtes Gesicht und einen äusserst festen Händedruck. Emotionaler als der inzwischen distinguierte Barnevik soll er sein, aufgeschlossener als der unnahbare und bisweilen verkrampft wirkende Lindahl.
Vor allem gilt Centerman als Turbo: nicht nur, dass er den Sprung an die Spitze nach nur zweieinhalb Jahren in der Konzernleitung geschafft hat. Nicht nur, dass auf seiner Visitenkarte schon im Dezember, also vor dem offiziellen Amtsantritt, der Titel «President and CEO» prangte. Bei allem, was er macht, kann es ihm nie schnell genug gehen.
Bei seinen Mitarbeitern gilt er als extrem zielgerichtet, aber auch als ungeduldig und bisweilen überfordernd: «Er gibt den Leuten zu wenig Zeit, die Dinge zu akzeptieren», sagt Lars-Erik Lindbäck, ein inzwischen pensionierter Topmanager bei ABB Schweden, der mit Centerman während Jahren auf verschiedenen Positionen zusammengearbeitet hat. «Wenn man wirklich etwas verändern will, muss man ungeduldig sein. Und sehr entschieden gegenüber den Leuten, die sich dauerhaft dagegen wehren», rechtfertigt sich Centerman.
Entsprechend radikal teilt er seine Mitarbeiter in zwei Kategorien, die er «Why-not-ters» und «Yes-butters» nennt. Erstere sind aufgeschlossen gegenüber jeder Art für Veränderung und reagieren auf entsprechende Vorschläge mit «Why not?». Die zweite Gruppe, die neue Ideen mit «Yes, but» abblockt, hat es bei ihm unendlich schwer. «Der Druck Richtung permanenter Veränderung wird für ABB noch sehr stark wachsen», sagt Centerman. Und er stellt klar: «Wenn es unter Lindahl keine heiligen Kühe gab, wird es auch bei mir keine geben.»
Das hat zuerst die Konzernleitung erfahren müssen: Den langjährigen Lindahl-Vertrauten Sune Karlsson hat Centerman direkt nach Amtsantritt aus dem obersten Gremium geschoben, ebenso Forschungschef Markus Bayegan, den Lindahl erst im August berufen hatte. Die Spartenstruktur des Konzerns, ebenfalls ein Werk Lindahls, ersetzt er durch eine dreifach gegliederte Organisationsform: Versorgungsunternehmen, verarbeitende Industrie, Fertigungs- und Konsumgüterin- dustrie sowie Öl-, Gas- und Petrochemie heissen die neuen Hauptorganisationseinheiten, sind also nach Kunden gegliedert. Von den bisherigen Produktsegmenten bleiben nur noch die Bereiche Energie- und Automationstechnik übrig. Hinzu kommen konzernübergreifende Funktionen, die für die Umsetzung der neuen Struktur, für E-Business-Projekte oder Finanzen zuständig sind. Die Idee dahinter: Die verschiedenen, bisher selbstständigen Unternehmensbereiche sollen stärker zusammenarbeiten und beispielsweise die gleichen Bauteile und Produkte verwenden. «Damit können wir die Kosten für Entwicklung und Marketing massiv senken», sagt Centerman. Gleichzeitig müssen sich Grosskunden, die bisher von verschiedenen ABB-Sparten bedient wurden, nicht mehr mit mehreren Ansprechpartnern herumschlagen.
Was der Ingenieur aus Karlskrona da macht, ist nicht wirklich neu. In der Automationssparte, jenem Bereich, den er die letzten zweieinhalb Jahre geleitet hatte, hat er dieselbe Übung schon einmal durchgezogen. Mit Erfolg: «Früher hat jeder Bereich sein eigenes Süppchen gekocht», erinnert sich Lars Bergström, der Chef der schwedischen Automationssparte. «Erst durch Centerman sind wir eine Einheit geworden.»
Als Spartenchef verdiente sich Centerman jene Lorbeeren, die ihm schliesslich zum Platz auf dem Chefsessel verhalfen. Bei seinem Amtsantritt 1998 war die Automationssparte, die ihr Geld mit dem Bau und der Steuerung von Robotersystemen und Fertigungsstrassen verdient, nur ein Bereich unter vielen. Doch kurze Zeit später begann Lindahl, die bislang im Konzern dominanten Bereiche Kraftwerksbau und Verkehrstechnik abzustossen. Parallel dazu wurde Automation als neues Kerngeschäft definiert und durch den Kauf der holländischen Elsag Bailey und der schwedischen Alfa Laval massiv verstärkt. Es gilt als Centermans Verdienst, dass die Integration der unterschiedlichen Systemplattformen – essenziell für das Automationsbusiness – schnell und reibungslos gelang und auch die kulturellen Friktionen zwischen den 43 000 bisherigen und den 12 000 neuen Mitarbeitern einigermassen gering ausfielen. Heute ist Automation mit einem Drittel Umsatzanteil der wichtigste Bereich der ABB-Gruppe.
Doch nicht nur die Bedeutung der Sparte änderte sich unter Centerman, sondern vor allem ihre Philosophie. Konsequent wurden alle Produkte auf elektronische Intelligenz getrimmt. Was früher präzise, aber relativ dumme Robotersysteme waren, lässt sich heute über Internet fernwarten oder in die betrieblichen Softwaresysteme der Kunden einbinden. Einen ähnlichen Philosophiewechsel plant Centerman nun für den ganzen Konzern: Industrial IT lautet das Schlagwort, unter dem jedem einzelnen Produkt aus dem Hause ABB bis hinunter zum kleinsten Ventil die Fähigkeit gegeben werden soll, sich in intelligente Steuersysteme einzuklinken und mit anderen ABB-Erzeugnissen Daten auszutauschen. Gleichzeitig möchte Centerman ABB als globale E-Business-Drehscheibe zwischen industriellen Lieferanten, Produzenten und Endkunden etablieren. Dafür erwarb ABB im Oktober die Mehrheit am amerikanischen Softwarehersteller Skyva.
Die Neufokussierung auf Industrial IT soll, neben der Reorganisation nach Kundengruppen, das zweite grosse Kunststück des Jörgen Centerman werden. Von Lindahls Vision des Wissenskonzerns (siehe BILANZ 10/2000), jahrelang gebetsmühlenhaft wiederholt, spricht plötzlich niemand mehr. Sie war den Aktienmärkten sowieso kaum zu vermitteln. Doch ob Centermans Message, die ebenso unmöglich in einem Satz zusammenzufassen ist, besser goutiert wird, bleibt fraglich.
Dabei ist es kein Wunder, dass Centerman so stark auf das Thema IT setzt. Schliesslich hat er sein Leben lang fast nichts anderes gemacht. «Ich hatte das Glück, gerade an der Universität anzufangen, als die ersten Mikrocomputer auf den Markt kamen», erinnert er sich. Dies im Gegensatz zu Lindahl, der stets damit kokettierte, aus der Analog-Generation zu stammen. Und während Lindahl die 400 höchsten Manager des Konzerns dazu verdonnerte, sich jeweils von einem jungen Computerspezialisten über die neuesten Internettrends auf dem Laufenden zu halten, war Centerman entschuldigt: «Lindahl war diesbezüglich nie hinter mir her», schmunzelt er.
1976 kam Centerman nach dem Studium als Verkaufsmanager für Industrieelektronik zur damaligen Asea in Västerås. Bald wurde der damalige Asea-Chef Percy Barnevik auf ihn aufmerksam. 1984 wechselte Centerman zur amerikanischen Allan-Bradley, wo er seine Marketingfähigkeiten aufpolieren wollte. Nur elf Monate später holte ihn Barnevik zurück und gab ihm den Posten des ABB-Länderchefs in Singapur. «Er musste diesen asiatischen Wachstumsmarkt kennen», erinnert sich Barnevik an seine Entscheidung.
Als Asea und BBC 1988 zu ABB fusionierten, war Centerman wieder in Västerås, zuständig für Prozessautomation. In diesem Bereich versprach die Zusammenführung der beiden Unternehmen besonders viel Zündstoff, weil der noch wenig bedeutende, aber zukunftsträchtige Hightech-Bereich von beiden Seiten besonders gehegt wurde. Die Technologie von Asea setzte sich schliesslich gegenüber BBC durch und damit auch Centerman. Der Bereich wurde auf neutralem Grund in Mannheim angesiedelt, und Centerman gelang es schnell, aus den beiden Lagern eine Einheit zu bilden. «Er hat den Kampf der Ländergesellschaften in seinem Bereich sofort unterbunden; früher, als dies in den meisten anderen Konzernbereichen der Fall war», erinnert sich Lindbäck. Centerman, das bescheinigen ihm Mitarbeiter aus allen Karriereetappen, war immer neutral, liess sich von keiner Seite vereinnahmen und wurde daher von allen akzeptiert. «Er hat die Leute immer sehr schnell hinter sich scharen können», sagt einer, der ihn seit seinem ersten Tag bei Asea begleitet.
Dieses Talent zeigte sich schon sehr früh. Bereits als 15-Jähriger leitete er einen Tischtennisklub (Centerman: «Mein zweites Zuhause») und trainierte als junger Spieler den noch jüngeren Nachwuchs. Was er dabei gelernt hat? «Tischtennisspielen», lautet die trockene Antwort (typisch für seinen Humor), und nachdem sein lautes Gelächter (ebenfalls typisch für ihn) verklungen ist: «Mich um andere zu kümmern und die Menschen für ein gemeinsames Ziel zusammenzubringen.»
Heute bleibt ihm für derartige sportliche Betätigung keine Zeit mehr. Dafür ist inzwischen Weinkunde sein grosses Hobby. Wie Centerman dazukam, verrät einiges über seinen Charakter: Anfang der Achtzigerjahre musste er als Gastgeber in Västerås für eine französische Kundengruppe den Wein auswählen. Dass er davon nicht die geringste Ahnung hatte, war ihm so peinlich, dass er sich eine Woche später mit einem Freund in einen Kurs für Weinkunde einschrieb. Heute ist Centermans Flaschensammlung ähnlich international zusammengesetzt wie seine Führungscrew. Genauso konsequent ist Centerman in anderen Bereichen: Als er 1990 in Stamford ein Haus kaufte, dessen Garten noch brachlag, liess er nicht einfach einen Gärtner kommen. Stattdessen besorgte er sich einen Stapel Bücher über Hortikultur und legte die Rasen, Hecken und Beete schliesslich selbst an. Und als er eines Tages wegen der vielen Geschäftsessen Figurprobleme bekam, machte er nicht einfach eine Diät, sondern wurde Experte in Trennkost. «Auch privat ist Jörgen in allem, was er tut, extrem fokussiert», sagt Lindbäck.
Mit ähnlicher Entschlossenheit baute Centerman im Laufe der Jahre das Automationsgeschäft von einer Randaktivität zur Hauptstütze des Konzerns aus. Als ABB die amerikanische Combustion Engineering kaufte, zügelte Centerman mit seinem Team von Mannheim nach Stamford. Wiederum klappte die Integration relativ reibungslos. Dass die Automatisierungssparte heute trotz den vielen Akquisitionen und dem schnellen Wachstum als sehr homogen gilt, ist Centermans Verdienst: Vor fünf Jahren initiierte er ein Programm mit Namen «Tops». Diese «Bibel des Automationsgeschäftes» (Bergstöm) hat die internen Prozesse für alle Automationsbereiche rund um den Globus neu definiert und vereinheitlicht. «Das ist wahrscheinlich der schwierigste Job, den ich je gemacht habe», sagt Centerman. Die Skala ist nach oben offen: Unter dem Namen «Corporate Processes» wird er nun das Ganze auf Konzernebene wiederholen, um die verschiedenen, bisher völlig getrennten Unternehmensbereiche einander näher zu bringen.
Die Internationalität hat Centerman geprägt, und entsprechend umgibt er sich mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe. In seinem Führungsteam als Automationschef waren 13 Nationalitäten vertreten; in der von ihm neu zusammengesetzten 11-köpfigen Konzernleitung sind es 7. Centerman kann es mit allen Kulturen gleich gut. Dennoch ist er kein Mann der Kompromisse: «Er beginnt jedes Meeting mit den freundlichen fünf Minuten», sagt ein Mitarbeiter. «Dann grillt er die Leute regelrecht und ist wahnsinnig fordernd. Am Schluss entlässt er jeden wieder mit einem freundlichen Lächeln.»
Lächeln, grillen, lächeln – damit soll Centerman das erreichen, woran Lindahl am Schluss wahrscheinlich gescheitert ist: den Aktienkurs pushen und Wachstum generieren, diese beiden Ziele hat ihm Barnevik vorgegeben. Dazu will sich der Altmeister auch selber wieder vermehrt bei ABB einschalten. Denn schliesslich, argumentiert Barnevik, habe Centerman erst zweieinhalb Jahre Erfahrung in der Konzernleitung. Aber er stellt klar, dass es sich dabei nur um eine vorübergehende Schützenhilfe handelt: «Ich werde ABB nicht schwächer oder stärker beaufsichtigen als bisher.» Damit tritt er Spekulationen entgegen, bei ABB dauerhaft wieder die Macht ausüben zu wollen.
Die ABB-Mitarbeiter sind Reorganisationen gewohnt: Schon unter Barnevik und Lindahl kam das Unternehmen nie zur Ruhe. Centerman erhöht das Tempo jetzt noch einmal. Er weiss, dass die Neuausrichtung Zeit braucht, um auch mental verarbeitet zu werden: «Wenn mir einer sagt, er könne die Kultur einer 160 000 Mann starken Organisation in zwei Jahren umkrempeln, dann habe ich ein bestimmtes Wort dafür.» Welches, sagt er nicht, aber seiner Miene ist zu entnehmen, dass es kein freundliches sein dürfte. Mit fünf bis sechs Jahren müsse man rechnen, bis ABB komplett auf Industrial IT refokussiert sei.
Dem Tempomacher aus Karlskrona müssen sie wie eine Ewigkeit vorkommen.
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