Der Urologe sprach Klartext: «Sie haben noch drei Jahre zu leben, im besten Fall.» Die Diagnose: Prostatakrebs mit Metastasierung in die Knochen. Für Otto Schmittiger* (63) brach eine Welt zusammen. Das war vor knapp vier Jahren. Seit einem Jahr zeigt die Computertomografie keine Metastasen mehr an. «Der Röntgenologe», sagt Schmittiger, «der die Aufnahmen auswertete, war sprachlos.»

Dass er heute vielleicht nicht als Geheilter, aber dennoch als Gesunder durchs Leben geht, verdankt er seiner Hartnäckigkeit. Und einem Cocktail aus verschiedenen medizinischen Methoden. Anstatt sich passiv den Vorschlägen des Arztes zu überlassen und auf eine Chemotherapie zu hoffen, machte sich Schmittiger im Internet schlau und wurde in der Homöopathie fündig.

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Er stiess auf eine Therapie, die schulmedizinische Chemotherapie mit Homöopathie kombiniert. Daneben meldete sich Schmittiger bei Sinomed in Zürich an, der Abteilung für chinesische Medizin der Privatklinikgruppe Hirslanden. «Ich wurde mein eigener Krankheitsmanager», erinnert er sich. Mit Erfolg: Das dreiteilige Heilungskonzept hat Schmittiger Lebensqualität und einen Rückgang der Metastasen gebracht.

Schmittiger steht für das, was viele Schweizer Patienten wollen: eine Medizin, in der Schul- und Komplementärmedizin Hand in Hand gehen. Sie wollen die Nebenwirkungen herkömmlicher Medikamente nicht länger ertragen. Oder suchen Hilfe bei chronischen Krankheiten, bei denen die Schulmedizin versagt. Fündig werden sie bei therapeutischen und diagnostischen Massnahmen wie traditioneller chinesischer Medizin (TCM), Homöopathie, Phytotherapie, Anthroposophie oder Neuraltherapie, die allesamt kein Bestandteil der Schulmedizin sind.

Gemäss einer Umfrage der Stiftung für Komplementärmedizin hat sich bereits jeder dritte Schweizer von einem Arzt mit komplementärmedizinischen Methoden behandeln lassen. 10,2 Prozent der Bevölkerung, so ergab eine Befragung des Bundesamtes für Statistik, nahmen innerhalb eines Jahres eine komplementärmedizinische Behandlung in Anspruch. Das war 2002, mittlerweile dürfte der Anteil weiter gestiegen sein.

Bestätigt wird dieser Trend durch den zunehmenden Konsum von Arzneien der Komplementärmedizin. 2004 lag deren Umsatz laut dem Schweizerischen Verband für komplementärmedizinische Heilmittel (SVKH) bei knapp 100 Millionen Franken. Für 2005 liegen diese Zahlen gemäss SVKH-Geschäftsführer Walter Stüdeli um einiges höher.

Ein Gesinnungswandel vollzieht sich. Die früher übliche Bezeichnung Alternativmedizin implizierte, dass deren Therapieformen eine Alternative zur Schulmedizin darstellen. Ihr gegenüber will sich die Komplementärmedizin von heute nicht abgrenzen, sondern sie will sie ergänzen. Reinhard Saller, Professor für Naturheilkunde an der Universität Zürich: «Sie basiert nicht nur auf den Schwächen des Patienten, sondern auch auf dessen Stärken. So wird er in seinem Selbstbewusstsein gestärkt und kann beim Genesungsprozess aktiv mithelfen.»
Den Patienten in seiner ganzen Komplexität erfassen, ihm zuhören, sich Zeit nehmen – Komplementärmediziner setzen darauf, eine Krankheit als Ausdruck eines integralen Organismus zu betrachten. Für manche Patienten ein neues Gefühl, in der Praxis ernst genommen zu werden. «Mein Hausarzt», sagt Werner Kurmann, «hatte wenig Einfühlungsvermögen. Ich hatte stets das Gefühl, er hört mir nicht zu, ist ungeduldig.» Ganz anders die Anamnese beim Neuraltherapeuten, den er heute beizieht: «Der nahm sich zu Beginn Zeit für mich.»

Wie viele Patienten, die bei Komplementärmedizinern landen, hat auch Kurmann eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Der Rentner hatte seit einer Operation vor 20 Jahren, bei der Knochensplitter aus dem Becken ins Knie versetzt wurden, Schmerzen im Unterbauch, deren Herkunft bis heute ungeklärt sind. Nach Untersuchungen durch Schulmediziner – sie fanden keine Erklärung – galt er als hoffnungsloser Fall. Bis ihm ein Neuraltherapeut empfohlen wurde. Nach zweijähriger Behandlung geht es ihm nun gut.

Den Anspruch, dem Patienten in seiner Ganzheit und nicht nur seiner Krankheit zu begegnen, haben inzwischen zehn Prozent der 18 000 in eigener Praxis tätigen Schweizer Schulmediziner. Sie bieten zusätzlich komplementärmedizinische Heilmethoden an.

Beispielsweise Andreas Beck. Der Berner Mediziner, der zunächst als Chirurg arbeitete, hat sich seit Beginn der achtziger Jahre auf Neuraltherapie spezialisiert und gilt heute als Kapazität. «Ohne ein schulmedizinisches Studium», sagt er, «ist Komplementärmedizin nicht möglich.» Oder Rainer Knaack, Arzt in der zur Hirslanden Gruppe gehörenden Klinik Birshof in Münchenstein. Der Anästhesist suchte nach einer Ergänzung der Methoden in der Schmerztherapie und kam auf Akupunktur und Neuraltherapie. Manche Schmerzen, etwa bei Migräne, behandelt er nur noch mit Akupunktur. Den Nutzen der fernöstlichen Therapie sieht er pragmatisch: «Als naturwissenschaftlich orientierter Mediziner wähle ich das aus, was für mich brauchbar und wirksam ist.»

Derart offen ist allerdings nicht jeder Arzt und nicht jede staatliche Instanz, die mit Komplementärmedizin zu tun hat. Das Thema ist heikel, sorgt immer wieder für Emotionen. Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss hatte die wachsende Vorliebe für komplementäre Medizin realisiert und entsprechend reagiert. Per Juli 1999 nahm sie fünf der Heilmethoden – traditionelle chinesische Medizin, klassische Homöopathie, anthroposophische Medizin,
Phytotherapie und Neuraltherapie – provisorisch in den Leistungskatalog der Grundversicherung auf. Als Nachfolger Pascal Couchepin im Juni 2005 entschied, dass diese Leistungen in Zukunft nicht länger über die Grundversicherung abgerechnet werden, hagelte es Kritik.

Der Entscheid macht den Bundesrat angreifbar. Komplementärmedizin verteuere das Gesundheitssystem, ausserdem sei die Wirksamkeit einiger Methoden nicht erwiesen, liess Couchepin verlauten. Zu diesen Schlussfolgerungen kommt er durch seine Interpretation der Studie «Programm Evaluation Komplementärmedizin» (PEK). Die unter der Leitung des BAG und in Zusammenarbeit mit den Fachgesellschaften der Komplementärmediziner erstellte PEK kam im April 2005 nämlich zu positiven Schlüssen für die Komplementärmedizin. «Der reale Kostenanstieg durch den Einschluss der fünf KM-Disziplinen in die Grundversicherung erwies sich als deutlich geringer als erwartet.» Und: «Die jährlichen Gesamtkosten pro zertifizierten KM-Arzt liegen deutlich unter dem Durchschnitt der konventionellen Versorgung.»

Jenseits der Kosten aber – auch das hat die PEK festgestellt – sind komplementärmedizinisch versorgte Patienten zufriedener mit dem Resultat einer Behandlung als jene, die sich konventionell behandeln liessen. «Ich rannte mit meinem Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule jahrelang vom Rheumatologen zum Wirbelsäulenspezialisten und zurück», sagt Agnes Krämcher*. An manchen Tagen konnte die heute 67-Jährige vor Verkrampfungen im Rücken kaum aufstehen. Schmerzmittel gehörten zum Alltag. Bis sie von einer Freundin von der Kraniosakral-Therapie hörte.

Die selbstbewusste Geschäftsfrau war skeptisch. Von Handauflegerei und alternativen Heilmethoden hielt sie nichts. Doch dann, nach der ersten Sitzung bei der Therapeutin, kam sie aus dem Behandlungsraum und fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren «frei und erleichtert». Ihre Beschwerden schwanden innert zwei Jahren. «Es gibt Tage, an denen ich vergesse, dass ich einen Rücken habe», sagt sie heute, «das war früher undenkbar.» Inzwischen geht sie auch einfach zur Entspannung in die Therapie.

Wie gross das Interesse an komplementärmedizinischen Leistungen in der Schweiz mittlerweile ist, zeigt auch, dass über 80 Prozent aller Krankenversicherten separat eine Versicherung für Komplementärmedizin abgeschlossen haben. «Die Bevölkerung findet Komplementärmedizin immer attraktiver», sagt Reinhard Saller. Saller ist der erste Schweizer Professor in diesem Bereich, sein Zürcher Lehrstuhl entstand 1994. 1992 hatte auch der Kanton Bern über einen Lehrstuhl für Komplementärmedizin abgestimmt. 1995 begann dann die Kollegiale Instanz für Komplementärmedizin (Kikom) ihre Lehrtätigkeit mit vier Dozenten in den Bereichen Homöopathie, TCM, Neuraltherapie und anthroposophische Medizin.

Bis heute sind die Lehrstühle Bern und Zürich die einzigen in der Schweiz geblieben. Am Anfang kämpften beide mit Akzeptanzschwierigkeiten. Gross war die Skepsis auf Seiten der Schulmediziner. Das hat sich inzwischen geändert, immer mehr Ärzte studieren zusätzlich Methoden der Komplementärmedizin, immer mehr Studenten belegen schon im Grundstudium komplementärmedizinische Kurse. Saller, der den Wandel vom kritisch beäugten Alternativmediziner zum anerkannten Komplementärmediziner in den letzten elf Jahren miterlebt hat, konstatiert auch einen Prozess innerhalb der Komplementärmedizin. «Es ist eine reflektierte Komplementärmedizin entstanden, die als ein Teil der modernen Medizin akzeptiert wird. Ähnlich wie die Hausarztmedizin oder die Psychosomatik konnte sie sich als eine Art Querschnittsmedizin etablieren.»

Augenscheinliches Beispiel für diese Akzeptanz von Heilmethoden ausserhalb der Schulmedizin ist der Erfolg der traditionellen chinesischen Medizin (TCM). Die Nachfrage ist derart gross, dass der Anteil an TCM-Zentren in den vergangenen Jahren exponentiell gestiegen ist, rund 380 sind es heute. Längst haben auch privatwirtschaftlich orientierte Kliniken die TCM entdeckt.

Die Privatklinikgruppe Hirslanden eröffnete seit 2001 fünf Sinomed-Zentren (Zürich, Bern, Weinfelden, Lausanne, Rapperswil), weiter ist sie an der TCM-Gruppe MediQi beteiligt. Das Privatspital Zollikerberg offeriert seit 2003 die Akademie für traditionelle chinesische Medizin (ATCM) als integralen Bestandteil.

Hongwei Liu-Schupp, Ärztin bei Sinomed, arbeitet seit acht Jahren in der Schweiz. Die in TCM ausgebildete Ärztin begann ihre Arbeit einst als nicht deutsch sprechende Chinesin beim ersten TCM- Zentrum der Schweiz in Bad Ragaz. «Damals», erinnert sie sich in ihrer Zürcher Praxis, «wussten die Leute nichts über chinesische Medizin.» Inzwischen habe sich das drastisch geändert, die Patienten seien häufig sehr gut informiert.

Für Hirslanden ist die Integration von TCM-Leistungen ein logischer Schritt in die Zukunft. «Damit haben wir ein wichtiges Spektrum der Komplementärmedizin abgedeckt», meint Sinomed-Geschäftsführer Teo Albarano, der von der «Wirksamkeit der chinesischen Medizin überzeugt» ist. Das ausschliesslich aus chinesischen Ärzten bestehende Team spricht Deutsch, Englisch oder Französisch. Betreut werden die Sinomed-Zentren von Schulmedizinern.
Die Akzeptanz bei den Patienten ist hoch. In einer aktuellen Sinomed-Umfrage bezeichneten 83 Prozent TCM als wirksam. Inzwischen entfallen von den 800 Millionen Umsatz der Hirslandengruppe deren 4 auf Sinomed.

Für Otto Schmittiger war die Behandlung durch die chinesische Ärztin von Sinomed fast schon eine Offenbarung. «Ich vertraue ihr», sagt der an Prostatakrebs Erkrankte. In den letzten Jahren ist er wöchentlich in die Therapie gegangen «Die Ärztin machte Checks, ging auf meine Psyche ein und behandelte mit Akupunktur speziell Knochen und Prostata.» Schmittiger ist überzeugt, dass er die Chemotherapie ohne TCM weder physisch noch psychisch so gut überstanden hätte. «Ich schlafe wieder hervorragend und arbeite voll.»
Davon überzeugt, dass sie ihn geheilt haben, sind allerdings neben den Schulmedizinern auch die Homöopathen. Er zuckt die Achseln: «Was letztlich geholfen hat, weiss ich nicht.» Für Schmittiger ist klar, dass man sich nicht auf eine Methode fixieren sollte. Er rät jedem, sich Schulmediziner zu suchen, die bereit sind, zusätzlich komplementäre Methoden einzusetzen. Aber um «Gottes willen» nie auf Schulmediziner zu verzichten.

Das will auch Brigitte von Wenzl nicht. Die Kraniosakral-Therapeutin aus Zürich hat es sich zur Maxime gemacht, «grundsätzlich nie einen Patienten zu behandeln, der ohne ärztliche Überweisung kommt.» Sonst laufe man Gefahr, dass ein Arzt gar nie davon erfahre, dass der Patient sich einer solchen Behandlung unterziehe. Sie will sicherstellen, dass die Ärzte von den Möglichkeiten komplementärer Methoden wissen und diese auch nutzen. «Die Offenheit ist heute bei den Schulmedizinern viel grösser, aber der Weg war lang.»

Kein Wunder, dass die Komplementärmediziner im bundesrätlichen Nein zur
Integration einiger Bereiche der Komplementärmedizin in die Grundversicherung ein politisches Signal sehen. Und sich in ihren Bemühungen um Anerkennung zurückgeworfen fühlen. «Im ärztlichen Bereich waren wir bis zum Entscheid Couchepins in Europa komplementärmedizinisch gesehen an der Spitze», sagt Saller, «nun sind wir ins Mittelfeld abgerutscht.» Er vermutet, dass Teile der zuständigen Behörden und Versicherer noch immer einen zu tiefen Wissensstand bezüglich Komplementärmedizin haben. «Nur wenn auch sie dies begreifen, können wir wieder eine spitzenmässig integrative Medizin betreiben.»

Andreas Beck sieht die Sache profaner: «Couchepin ging vor der Pharmaindustrie in die Knie», mutmasst er. Der einstige Professor an der Kikom der Universität Bern führt seinen ganz persönlichen Kampf gegen den Entscheid aus dem Bundeshaus. Nächstes Jahr, so hofft er, kommt die Initiative «Ja zur Komplementärmedizin» vors Volk. Und da dieses Komplementärmedizin will, habe die Vorlage, so glaubt der Neuraltherapeut, eine grosse Chance, angenommen zu werden.