Kaum eine Tätigkeit oder Branche, für die es keine Rangliste gibt: die 10 erfolgreichsten Unternehmer, die 20 mächtigsten Politiker, die 50 schnittigsten Autos, die 100 erotischsten Frauen oder Männer, die 300 reichsten Schweizer, die meistverkauften Bücher, die wichtigsten Popsongs, die erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Wer bekommt einen Oscar? Wer holt den Grand Slam? Wer wird «Music Star»? Überall will man nur noch die Erfolgreichsten, Schönsten und Besten, obschon niemand bestreiten wird, dass sich die angestrebte Klassifizierung in den meisten Fällen gar nicht leisten lässt.

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Besonders knifflig ist das Erstellen von Ranglisten auf dem Gebiet der bildenden Kunst – eines Metiers, das keine vorgegebenen Muster oder Abläufe kennt.

Malerei, Skulptur, Installations- oder Videokunst beziehen ihre Energie aus einer unerschöpflichen Vielfalt von Inspirationsquellen. Darf man sie dennoch einer Bewertung unterziehen? Ist der Versuch legitim, Fantasie, Ausdruckskraft und gestalterisches Können anhand eines Punkteschemas zu erfassen? Oder verstösst es gegen Geschmack und Sitten, die umjubelten Exponenten der Kunstszene nach ähnlichen Massstäben zu klassifizieren wie Hollywoodstars, Popgrössen oder Spitzensportler? Als sich die BILANZ 1993 aufmachte, einen der faszinierendsten, gleichzeitig aber auch intransparentesten aller Märkte zu durchleuchten, war die Irritation in der Szene gross. Galeristen und Künstler reagierten mit einer Mischung aus Mitleid und Empörung: Kunst, schnöde klassiert und in eine Tabelle gegossen? Unverschämt!

Seither veröffentlichen wir alljährlich kurz vor Beginn der Kunstmesse «Art Basel» eine Rangliste mit den Namen der 50 «wichtigsten» lebenden Künstlerinnen und Künstler der Schweiz. Diese Liste, die 2007 bereits zum fünfzehnten Mal in Folge erscheint, hat sich mit den Jahren zu einer anerkannten und breit rezipierten Orientierungsgrösse in einem sich immer schneller verändernden und damit zunehmend unübersichtlichen Markt entwickelt. «Es ist ein alljährlicher lustiger Vor-‹Art›-Moment, am Kiosk die BILANZ in die Hand zu nehmen, mit leicht nervösen Fingern Seite 154 aufzuschlagen, seine Platzierung mit Freuden oder Schreck hinzunehmen, um dann das Heft wieder zurückzulegen», beschreibt der Künstler Claudio Moser seinen persönlichen Umgang mit diesem branchenspezifischen Popularitäts-Check, der von einer Vielzahl Beteiligter – Kuratoren, Sammler, Galeristen und Künstler – jedes Jahr aufs Neue mit Spannung erwartet oder zumindest amüsiert zur Kenntnis genommen wird. «Und mit den Jahren», weiss Moser, «sind die Hände auch weniger feucht.»

Solche Probleme kennen die Stars auf den vordersten Rängen der Rangliste nicht: Schon beinahe als «ewige Spitzenreiter» zu bezeichnen sind Peter Fischli und David Weiss, die in den fünfzehn Jahren, seit es das BILANZ-Künstler-Rating gibt, nicht weniger als dreizehn Mal zuoberst auf der Liste gestanden haben (mit Ausnahme von 2005 und 2006). Dass sich das gefeierte Künstlerduo 2007 erneut an vorderster Stelle positionieren konnte, lässt sich, abgesehen von einer vorbildhaften Werkqualität, auch mit seinem Siegeszug durch europäische Museumsinstitutionen begründen. Wichtige Häuser in London (Tate Modern) und Paris (Musée d’Art Moderne) warteten in letzter Zeit mit Fischli/Weiss-Retrospektiven auf. Bis Anfang September 2007 sind ausgewählte Werke und Werkgruppen, mit denen das Duo Kunstgeschichte geschrieben hat, nun auch im Zürcher Kunsthaus zu bewundern. Für viele sind die als Virtuosen des Nebensächlichen und Banalen gefeierten Ranglisten-Ersten, deren ironisch-hintergründiges Werk zahlreiche Nachahmer gefunden hat, denn auch schlicht «die besten Gegenwartskünstler des Landes».

Auf Rang zwei figuriert der ebenfalls weit über die Landesgrenzen hinaus geschätzte Objekt- und Performancekünstler Roman Signer. Mit einer Stringenz und Beharrlichkeit, die in der Kunstszene ihresgleichen sucht, erforscht der Appenzeller Tüftler seit über dreissig Jahren die Aggregatzustände und kämpft dabei systematisch gegen Luftwiderstand, Zentrifugalkraft und Wellenschlag. Bei seinen Aktionen, die er fotografisch und auf Video dokumentiert, jagt Signer Aktenkoffer durch den Eiskanal, bringt Spazierstöcke zum Tanzen und katapultiert Fahrräder durch die Luft. Bronze geht an den Vorjahressieger Christoph Büchel aus Basel, einen Installationsvirtuosen mit subversivem Flair, zu dessen Markenzeichen minuziös inszenierte Chaoslandschaften gehören.

In die Spitzengruppe aufgerückt ist der Exilschweizer Thomas Hirschhorn. Der zornige Mann mit der Hornbrille war vor zwei Jahren als Mitinitiant der «Pinkelattacke» gegen Christoph Blocher in aller Munde, was seiner Wertschätzung als Künstler offensichtlich nicht geschadet hat. Im Gegenteil. Dahinter folgen John Armleder, ein nimmermüder Kreateur und Impulsgeber, der sich seit fünfzehn Jahren mit beeindruckender Konstanz auf den vordersten Tabellenplätzen hält, die Rheintaler Videospezialistin Pipilotti Rist, die im Vergleich zum Vorjahr etwas an Terrain preisgeben musste, und die beiden Senkrechtstarter Gianni Motti und Urs Fischer (siehe «Senkrechtstarter, Dauerbrenner und gefallene Engel» auf Seite 66). In die Top Ten geschafft haben es auch der welsche Installations- und Objektkünstler Fabrice Gygi und das schillernde Multitalent Ugo Rondinone.

Im Unterschied zur BILANZ-Rangliste, die sich auf die Klassierung von Künstlern beschränkt, die entweder Schweizer sind oder hauptsächlich in der Schweiz (respektive Liechtenstein) leben und arbeiten, verfolgt der deutsche «Kunstkompass» einen internationalen Ansatz. Dieses seit 1970 vom Wirtschaftsmagazin «Capital» regelmässig erhobene und publizierte Ranking bemüht sich nach eigenen Angaben, «so objektiv wie möglich Ruhm und Rang der Künstler weltweit» abzubilden. Da sich die Qualität von Kunstwerken per se aber weder messen noch miteinander vergleichen lässt, erfasst das «Capital»-Rating die Ausstellungs- und Publikationserfolge gewichtet nach einem Punkteschema und nimmt dann jeweils die Summe der Bonuspunkte als Indikator für das Renommée der einzelnen Künstler. «Unter der Voraussetzung, dass Ruhm und Qualität hochgradig korrelieren, könnte man die hundert Grossen auch als die hundert besten Künstler der Gegenwart titulieren», heisst es dazu auf der Website des Magazins. Als ruhmreichsten und somit womöglich «besten» Schweizer Künstler des Jahres 2006 führt der «Kunstkompass» die St. Galler Videokünstlerin Pipilotti Rist auf Rang 21. Ausser ihr haben es nur Fischli/Weiss und Thomas Hirschhorn in die letztjährige «Capital»-Weltauswahl gebracht.

Einen methodisch ähnlichen Weg beschreitet Artfacts.Net. Ausgehend von der Idee, dass die «Ausstellungsvita eines Künstlers dessen Marktkarriere determiniert», können auf dem Internetportal www.artfacts.net nach einem allerdings nur schwer überprüfbaren Schema Leistungspunkte für einschlägige Museums- und Galerieauftritte gesammelt werden. In Anlehnung an die Theorie der sogenannten «Ökonomie der Aufmerksamkeit», erläutern die Macher im Jargon von Volkswirtschaftlern, «nimmt der Kurator die Rolle des Investors ein, der sein Kapital (Galerien, Museen) demjenigen Künstler zur Verfügung stellt, von dem er sich eine ökonomisch nutzbringende, quasi zinsbringende Vermehrung seines Kapitals in Form von grösserer Aufmerksamkeit, Ruf, Bekanntheitsgrad verspricht». Zu den hundert weltweit erfolgreichsten Gegenwartskünstlern des Jahres 2006 gehören laut Artfacts.Net Fischli/Weiss (Rang 16), Pipilotti Rist (24), Sylvie Fleury (60), Thomas Hirschhorn (69), John Armleder (92).

BILANZ hat sich für ein einfacheres, wenn auch nicht weniger zielführendes Vorgehen entschieden. Anstatt mit gestaffelten Bonuspunkten und komplizierten Gewichtungsfaktoren zu hantieren, beruht das Schweizer Künstler-Rating auf dem Urteil einer mit kompetenten Fachleuten besetzten Jury (siehe «Die Jury» auf Seite 69). Dahinter steht die Auffassung, dass ein repräsentativ zusammengesetztes Expertengremium ähnlich wie ein grosses Brennglas wirkt, in dem sich alle relevanten Infos, so zum Beispiel auch die wichtigsten Galerieauftritte der Künstler, relativ zuverlässig bündeln. Obschon die Expertenrunde gegenüber der letzten Befragung um 16 Personen auf neu 51 Juroren aufgestockt wurde, blieb die Zusammensetzung der Spitzengruppe davon weitgehend unberührt. Auch im Mittelfeld kam es in diesem Jahr zu keiner grundlegenden Umwälzung, sieht man von ein paar wenigen markanten Positionsverschiebungen ab. Unter dem Strich scheint die hohe Stabilität, welche das BILANZ-Künstler-Rating über die Jahre hinweg kennzeichnet, für die Verlässlichkeit und Relevanz der gewählten Befragungsmethodik zu sprechen.

Diese Annahme wird auch von den Untersuchungen des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK) gestützt. Ähnlich wie bei «Gault Millau» werden zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler vom SIK nach einem Punkteschema bewertet. Ob jemand fünf, vier, drei, zwei, einen oder gar keinen Stern zugesprochen erhält, wird von den Zürcher Kunstwissenschaftlern anhand «objektiver Kriterien» – Publikations- und Ausstellungstätigkeit, Auszeichnungen, Stipendien, Sammlungsankäufe usw. – sowie «kunsthistorischer Gesichtspunkte» entschieden. 49 von 50 in der aktuellen

BILANZ-Liste vertretenen Künstlern wurden auch vom SIK mit einem Rating versehen: Fünf Sterne gebühren demnach Fischli/Weiss, Roman Signer und Pipilotti Rist. Mit dem höchstmöglichen Prädikat (Kriterium: «unverwechselbares Œuvre, das im Kunstdiskurs eine anhaltend exemplarische Position einnimmt») wird sonst nur noch Markus Raetz beehrt (siehe auch www.sikart.ch).
Unabhängig von Kriterien und Massstab, die angelegt werden, lässt sich nicht verhindern, dass Kreative mit hoher Ausstellungskadenz und entsprechender Medienpräsenz in der Beurteilung durch eine Fachjury tendenziell besser abschneiden als andere. Wer eine überdurchschnittliche Visibilität erreicht, weil er oder sie es versteht, sich auf dem Markt der Eitelkeiten effektvoll in Szene zu setzen, ist gegenüber demjenigen im Vorteil, der sich in seinem Atelier selbstvergessen und still zwischen Sperrmüllobjekten und Farbtöpfen vergnügt. Auch Künstler, die ein verqueres, kompliziertes, allzu intellektuelles, mehr auf Forschung und Wahrnehmung als auf vorzeigbare Produktionen ausgelegtes Werk verfolgen, laufen Gefahr, von Kuratoren und Kritikern vernachlässigt zu werden.

Im Übrigen wäre es naiv zu glauben, dass sogenannt freie Kuratoren und Kunstkritiker und in öffentlichrechtliche Institutionen eingebundene Ausstellungsmacher und Museumsleute in ihrem Urteil wirklich «unabhängig» seien. Gerade jene, die sich professionell mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen, tagtäglich darüber diskutieren, lesen, publizieren und andere auf diesem Gebiet beraten, haben klare individuelle Präferenzen und Abneigungen, pflegen mit ausgewählten Künstlern Kontakte und persönliche Freundschaften. Eine gewisse Berechtigung kann man dem Einwand von Josef Felix Müller deshalb nicht absprechen: «Ist es eventuell so, dass die beurteilenden Ausstellungsmacher/-innen immer die Künstler wichtig finden, die sie selber ausstellen, um über die BILANZ-Liste ihr eigenes Tun zu legitimieren?», fragt sich der Ostschweizer Maler, Zeichner und Holzskulpteur, der zwischen den Jahren 1993 und 1997 vom Rating erfasst worden war, bevor er vom Radarschirm der Juroren verschwand.

So wie Josef Felix Müller ergeht es vielen Künstlern, darunter solchen, die sich bewusst aus dem Vermarktungskarussell ausgeklinkt haben, kaum mehr Neues produzieren, nur sehr selten ausstellen oder aus einem anderen Grund in Vergessenheit geraten sind. Speziell erwähnt seien hier der Bildhauer Hans Josephson, der Eisenplastiker Bernhard Luginbühl und die Malerin Miriam Cahn, die es – obschon alles grosse Künstler – nicht unter die Favoriten der Jury geschafft haben. Dasselbe Schicksal teilen Helmut Federle, Daniel Spoerri, Hugo Suter, Anselm Stalder, Alex Hanimann, Not Vital, Albrecht Schnider, Ian Anüll, Christian-Philipp Müller, Christoph Rütimann, Rémy Markowitsch, Stefan Banz, Eric Hattan, Marie-José Burki und viele andere mehr.

Auch Vertreter der jüngeren Generation, darunter eine Reihe durchaus beachtenswerter Talente, sind durch das Präferenzraster der befragten Juroren gefallen. Eine Klassierung in den ersten fünfzig Rängen nur um Haaresbreite verfehlt haben etwa Marc Bauer, Zilla Leutenegger, Costa Vece, Moser/Schwinger, Markus Müller und Uwe Wittwer. Sieben Künstlerinnen und Künstlern ist der Vorstoss unter die fünfzig «Wichtigsten» 2007 derweil geglückt. Im Fall von Balthasar Burkhard und Beat Streuli, zwei international arrivierten Fotografen, handelt es sich allerdings um Wiederaufsteiger, die früher schon einmal in den Top 50 waren. Die eigentlichen Newcomer des Jahres heissen Elodie Pong, Jules Spinatsch, Christine Streuli, David Renggli und Vidya Gastaldon.

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