Die Eingangshalle im General Motors Building in New York: Wände, Boden, Empfangsdesk, alles weiss und steinern. Die Raumtemperatur beträgt gefühlte null Grad Celsius. 42 Stockwerke darüber, im Headquarter des Kosmetikkonzerns Estée Lauder, ein völlig anderes Klima: Die Böden sind mit weichem Teppich ausgelegt, die Wände mit moderner Kunst behängt, und der Empfang ist herzerwärmend: «Hiiiii, how are you! You look great! Please come.»

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Nächste Station ist das grosse Sitzungszimmer der Kosmetikmarke Estée Lauder. Es ist riesig und fensterlos. Fein säuberlich sind die aktuellen Produkte auf mit Hochglanz lackierten und mit Spots ausgeleuchteten Konsolen entlang den Wänden ausgestellt. Im Raum selbst ist aber alles durcheinandergeraten – für das Fotoshooting mit Leonard Lauder, Sohn von Estée Lauder, jahrzehntelang CEO und Chairman des drittgrössten Luxusgüterkonzerns der Welt.

«Raumfüllender Mensch»

Alles ist bereit: die Kulisse, die Kamera, der Fotograf. Dann schwingt die Tür auf, Leonard Lauder tritt ein, lächelt in die Runde. Dieser Mann, das wird sofort klar, gehört zur Sorte «raumfüllender Mensch». Nicht seiner Grösse wegen, nicht seiner Stimme wegen, nicht seines Status wegen. Sondern wegen seiner Zugewandtheit.

Mit seinem Erscheinen dreht die nervöse Anspannung im Raum in Heiterkeit, das Fotoshooting wird zum reinen Vergnügen. Wider Erwarten. Leonard Lauder steht an sich nicht gern vor der Kamera. Dass er es heute doch tut und erst noch so hingebungsvoll, hat einen Grund: In der Schweiz feiert die Marke Estée Lauder heuer das 50-Jahr-Jubiläum. Und es war Lauder höchstselbst, der die Marke in die Schweiz, nach England der zweite Markt ausserhalb der USA, gebracht hat.

Dass er die Schweiz gewählt hat, um die Expansion ins Ausland voranzutreiben, erklärt er so: «Ich sagte mir, wenn ich es gut mache in der französischen Schweiz, kann ich danach nach Frankreich, von der italienischen Schweiz aus nach Italien und von der Deutschschweiz aus nach Deutschland.» Es sind schliesslich die Grieders und Brunschwigs, die Estée-Lauder-Tiegel in die Schweiz einführen und bei Bongénie Grieder in Genf verkaufen. «Vieles, was ich über den Schweizer Markt und die Schweizer Frau weiss, weiss ich von ihnen», sagt Lauder.

Eine Kostprobe? «Wenn eine Amerikanerin damals 2000 Dollar für einen Mantel ausgab, wollte sie, dass er nach 4000 Dollar aussieht», erzählt Lauder, «eine wohlhabende Schweizerin bezahlte gern 4000 Dollar für einen Mantel, aber der durfte höchstens nach 2000 Dollar aussehen.» Die Marke Estée Lauder betritt den Schweizer Markt auf entsprechend leisen Sohlen.

Nummer eins in der Schweiz

Auf Grieder folgen weitere diskrete Adressen: eine Parfümerie in Zürich, eine in Luzern. «Das waren alles sehr persönliche Beziehungen», sagt Leonard Lauder und erzählt, wie er erst Klinken geputzt, dann Beziehungen geknüpft und die daraus entstandenen Freundschaften schliesslich über Jahrzehnte auch gepflegt hat. Und zwar von allem Anfang an mit Erfolg, die Frauen hätten auf etwas wie Estée Lauder gewartet. Ein Blitzerfolg? Leonard Lauder verwirft beide Hände und rutscht ganz nach vorn auf dem Sessel, in dem er fürs Interview Platz genommen hat. «Nichts im Leben ist ein Blitzerfolg», sagt er, «der Erfolg von heute ist der Nährboden für den Erfolg von morgen, Erfolg wächst aus Erfolg.»

Was vor 50 Jahren mit ein paar Tiegeln anfing, ist seit 1972 die Nummer eins der Schweiz – im margenstarken Geschäft mit Prestigekosmetik: Gemäss Marktforschungsinstitut Nielsen beträgt der Marktanteil von Estée Lauder über alles gesehen 10,7 Prozent. Wird nur die Gesichtspflege allein betrachtet, sind es sogar 19 Prozent. Die Nummer zwei in Sachen Gesichtspflege ist Clarins, mit einem Marktanteil von 13,6 Prozent. Das sind schöne Zahlen, aber die allerschönste, die Florence Maraval, Chefin von Estée Lauder Schweiz, an der Pressekonferenz vom August präsentierte, war die: Der Markt mit Luxuskosmetik ist in der Schweiz im laufenden Jahr zwar mit zwei Prozent rückläufig. Estée Lauder aber ist auf Vorjahresniveau, dank 340 Verkaufsstellen und 60 eigenen Counters.

Ein starker Pfeiler im Hause Estée Lauder ist Advanced Night Repair. Vor über 30 Jahren erfunden, ist das Serum seither ein Topseller – weltweit: 25 Patente, 65 Auszeichnungen. Jede Minute werden acht dieser braunen Fläschchen verkauft, jahrein, jahraus. Es ist ein Diamant im Portefeuille der Marke Estée Lauder, die weltweit seit 2009 von Jane Hertzmark Hudis geführt wird (siehe Interview links).

Klein anfangen, aber richtig.

Josephine Esther «Estée» Lauder gründete die Marke 1946 mit ihrem Mann Joseph. Und zwar mit gerade mal vier Pflegeprodukten, die ihr Onkel John Scholz, ein Chemiker, für sie elaboriert hatte. Mit dem Satz «Jede Frau kann schön sein» und der Kraft innerer Überzeugung baute sie ihr Geschäft in New York im gleichen Stil auf, wie es Leonard Lauder rund 20 Jahre später auch in der Schweiz tat: «Start small, become important to one customer, then to two, then to three.» Klein anfangen, aber richtig, Schritt für Schritt und vor allem: von Mensch zu Mensch, über persönliche Beziehungen.

Er habe immer ins Unternehmen gewollt, erzählt Leonard Lauder, und immer gewusst, was er dort bewirken wolle: Es sollte international werden, und zwar mit mehreren Marken, nicht nur mit einer. Was heute gang und gäbe ist – die Ansammlung von Luxusmarken unter einem Dach –, war zu seiner Zeit neu.

Einfall als Marineoffizier auf einem Flugzeugträger

Den Einfall dazu hatte er als Marineoffizier auf einem Flugzeugträger der US-Navy: «Als wir in See stachen, waren wir umringt von kleineren Schiffen, die uns beschützten», erzählt er, «das gab mir das Konzept, dass jede Marke und alles, was wir taten, Schutz von innen brauchte.» In diesem Sinne hat er den Estée-Lauder-Konzern zu einer Riesenflotte ausgestaltet, eigene Kosmetikmarken wie Clinique und Aramis wurden gegründet, andere wie MAC, Bobbi Brown und La Mer akquiriert, und mit wieder anderen – grossen Namen aus der Modeindustrie – wurden Lizenzen ausgehandelt, etwa mit Tom Ford und Michael Kors. Heute gehören dem Konzern 28 Brands. Leonard Lauder nennt das Konstrukt allerdings nicht Flotte, sondern «eine grosse Familie, in der jeder jeden beschützt – aber auch herausfordert».

Er startete neue Verkaufs- und Marketingprogramme, installierte das erste Labor für Forschung und Entwicklung, holte professionelle Manager und initiierte die internationale Expansion, die 1960 bei Harrods in London ihren Anfang nahm. Heute setzt der Konzern mit über 40 000 Mitarbeitern in 130 Ländern 10,2 Milliarden Dollar um. «Wir sind die drittgrösste Luxusgüterfirma der Welt», sagt er, «und das mit Crèmes, Lippenstiften und Make-ups. Für ein Kleid, das die Nummer eins der Welt [LVMH, Anm. der Red.] verkauft, muss ich mindestens 50 Lippenstifte verkaufen.»

Lippenstifte

Leonard Lauder hält inne, greift sich sein Handy, wählt, wartet und beauftragt den Menschen am anderen Ende der Leitung, einen zu bringen. Dann nimmt er den Faden zur Schweiz wieder auf, nennt sie «bis heute wichtig, denn wir wissen, wenn wir es dort gut machen, machen wir es auch in den umliegenden Ländern gut». Dann fügt er an: «Ich bin auch emotional stark mit diesem Land verbunden.» Wegen der Freundschaften, die er hier nun schon seit Jahrzehnten pflegt. Und weil die Schweiz das Projekt von ihm und seiner Frau Evelyn gewesen sei. Er war der Türöffner, sie die Instruktorin. «Wir haben viel Zeit dort verbracht», sagt er, «insbesondere in unserem Apartment in Lachen.» Dieses löse er gerade auf, sagt er. «Evelyn ist 2011 leider gestorben.»

Leonard Lauder ist heute der Chairman Emeritus des Konzerns. Sein Sohn, William, ist Verwaltungsratspräsident, Fabrizio Freda, Ex-Topmanager von Procter & Gamble, der CEO im Konzern. Leonard Lauder, der das Unternehmen zu dem gemacht hat, was es ist, sitzt auf dem Ehrenplatz. Offiziell. Intern ist er nach wie vor die Person, die von allen konsultiert wird. Seine Agenda ist vollgestopft mit Terminen wie eh und je. «Sehen Sie», sagt er und zieht aus der Tasche seines Jacketts ein gefaltetes A4-Blatt mit seinem Wochenplan. Eine Bleiwüste, kaum weisse Stellen. Das macht Spass? «Oh ja, ich würde dafür bezahlen, diesen Job machen zu dürfen», sagt er, faltet das Blatt wieder zusammen und steckt es zurück an seinen Ort.

Nehmen und geben

Der 81-Jährige ist ein gefragter Mann, aufgrund dessen, was er an Zählbarem erreicht hat, auch wegen der unzähligen sozialen und kulturellen Engagements, die er pflegt mit der Begründung: «Es ist sehr wichtig, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.» Und er ist ein Mann, zu dem viele aufblicken – wegen seiner Auffassung von Leadership. Lauder war der Spiritus Rector im Milliardenkonzern – und ist es noch. Einer seiner Glaubenssätze heisst: «You are only as good as the people in the company want you to be.» («Du bist nur so gut, wie dich die Belegschaft haben will.») Lauder war sehr gut.

Es klopft an die Tür. Der Lippenstift. Die Augen des Grand Old Man blitzen auf. «Hören Sie mal», sagt er, hält den Lippenstift in die Höhe, öffnet ihn und lässt ihn wieder zuschnappen. Ein tiefes Plopp. «Genau diesen Sound wollte ich haben.» Um solche Dinge kümmert er sich? «Das ist Teil meiner DNA», sagt er, zuckt die Schultern und blickt auf die rote Swatch an seinem Handgelenk. Die Zeit ist um, er muss zum nächsten Termin. «Es bedeutet mir viel, dass Sie gekommen sind», sagt er, «danke.» Dann strebt er zur Tür, hinaus auf den Gang mit weichem Teppich und moderner Kunst an der Wand. Bevor er aus dem Sichtfeld verschwindet, bleibt er nochmals stehen, dreht sich um, schaut in die Runde, lächelt und sagt: «Don’t forget me – vergessen Sie mich nicht.» Versprochen.

Iris Kuhn Spogat
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