Die Anreise muss man sich verdienen. Halbe Ewigkeiten kurvt man durch Fichtenwälder, entlang schmaler Flüsschen, an Bauernhöfen vorbei. Bisweilen lotst einen das Navigationssystem gar über Feldwege. Namen wie Busenweiler, Herrenzimmern oder 24-Höfe tragen die Ortschaften, die man passiert. Dann, zwei Stunden nach dem Grenzübergang bei Schaffhausen, endlich das gelbe Ortsschild. Willkommen in Baiersbronn, einem 15 000-Seelen-Dorf im tiefsten Schwarzwald. Aus Zufall kommt hier keiner hin.

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Dafür kommen umso mehr absichtlich. 870 000 Logiernächte pro Jahr zählt Baiersbronn. Das Dorf ist ein Tourismusmekka. Man kommt hierher wegen der guten Luft, des milden Klimas, zum Wandern, Mountainbiken oder Langlaufen. Aber vor allem kommt man zum Schlemmen: Zwei Restaurants mit drei Sternen und eines mit einem Stern finden sich hier – einmalig in Deutschland und für ein Nest dieser Grösse sogar einmalig in der Welt.

Wohlfahrt: Einer der Besten

«Wir Süddeutsche sind Genussmenschen», sagt Heiner Finkbeiner (63). «Und wir liegen nahe am Elsass, da sind gutes Essen und guter Wein besonders wichtig.» Er muss es wissen, denn er führt mit der «Traube Tonbach» das erste Haus am Platz – mindestens historisch: 1789 eröffnete Tobias Finkbeiner eine Besenwirtschaft. 223 Jahre später hat das Hotel fünf Sterne und ist in der achten Generation noch immer im Besitz der Familie.

Sie war es auch, die Baiersbronn auf die Landkarte der Gourmets brachte: 1977 holten die Finkbeiners den damals noch unbekannten Küchenchef Harald Wohlfahrt in ihre «Schwarzwaldstube». Nach sechs Monaten wurden die Tester des «Guide Michelin» aufmerksam und zeichneten ihn mit einem Stern aus, ein Jahr später folgte der zweite – eine Sensation in der damaligen kulinarischen Wüste Deutschland. «Mein Vater fuhr jeden Morgen nach Strassburg, um auf dem Markt Fisch zu kaufen und ihn dann über die Grenze zu schmuggeln», erinnert sich Finkbeiner. Seither wurde Wohlfahrt mit Auszeichnungen überhäuft, als bester Koch Deutschlands und als einer der besten der Welt. Den dritten Stern hält er seit 20 Jahren, auch das ist einmalig. «Es ist nicht leichter, die drei Sterne zu verteidigen, als sie zu bekommen», sagt der 57-Jährige mit ernstem Gesicht, «aber schöner!»

«Wohlfahrt war immer der Beste», gibt Claus-Peter Lumpp (48) neidlos zu. Anerkennung aus berufenem Munde, denn Wohlfahrt ist sein härtester Konkurrent in Baiersbronn: Seit 20 Jahren kocht Lumpp im Hotel Bareiss, seit fünf Jahren ist auch er mit drei Sternen dekoriert. Gelernt hat er sein Handwerk bei André Jaeger in der «Fischerzunft» in Schaffhausen und bei Horst Petermann in den «Kunststuben» in Küsnacht ZH. Und er bildete den derzeit besten Schweizer Koch aus, Andreas Caminada vom «Schloss Schauenstein». «Ich habe mit ihm gewettet: ‹Es dauert keine fünf Jahre, bis du die höchsten Weihen erreichst hast›», sagt Lumpp. «Ich habe die Wette gewonnen.»

Von Wurstsalat bis Gänseleber 

Auch das Fünfsternehotel Bareiss ist ein Familienbetrieb, 1951 von der Kriegswitwe Hermine Bareiss eröffnet, mittlerweile in der dritten Generation von Hermann Bareiss auf eine sehr persönliche und individuelle Art geführt: «Manche nennen uns das facettenreichste Hotel Europas», sagt der 68-Jährige auf seine bedächtig-distinguierte Art.

Jörg Sackmann ist der David zwischen den beiden Goliaths. Sein gleichnamiges Hotel, ebenfalls ein Familienbetrieb in der dritten Generation, ist das kleinste der drei, und die kulinarischen Weihen sind mit einem Stern noch nicht so hoch. «Ein zweiter Stern liegt drin», sagt der 52-Jährige, und vielleicht hätte er ihn auch schon, würde er nicht zwei Hüte tragen: neben der Kochhaube auch noch den des Hoteldirektors. Und würde er mit seinem Team ausser dem Gourmetrestaurant Schlossberg nicht auch noch zwei einfachere Lokale im Haus mit regionaler Küche bekochen. «Von Wurstsalat bis Gänseleber», so bezeichnet er sein Spektrum.

Der Fernsehkoch («ARD-Buffet») ist der experimentierfreudigste der drei Küchenchefs. Auffallend viele verschiedene Aromen, Texturen, Farben zieren seine Teller, und immer wieder mischen sich asiatische Einflüsse in die jahreszeitenorientierte Küche: Die Dorade etwa serviert Sackmann mit Limonenschaum und Reiscrackern, das Wurzelgemüse mit Thunfisch-Sashimi und einem Wachtelei.

Harald Wohlfahrt hingegen kredenzt in der «Schwarzwaldstube» französische Küche, ohne in Traditionen zu ersticken: Der Pinzettenkünstler schöpft etwa von der Milch die Haut ab, trocknet sie und dekoriert sie dann mit Pistazien und Pilzen zu einer Art Waldboden. Am derzeit unvermeidlichen Wasabi oder an Espumas kommt auch er nicht vorbei. Lumpps Küche im «Bareiss» wiederum ist klassischer, regional inspiriert, sie ist nicht so filigran wie diejenige Wohlfahrts, sondern kräftig wie der Koch selbst: Er kombiniert etwa Geschmortes vom Kaninchen mit Parmaschinken und Salbei und serviert dazu Lavendelgriess.

Auch wenn man sich im Dorf quasi über die Schulter schauen könnte: Kopieren ist verpönt. «Aber wenn es etwas gibt, das dem Gast dient, hält es sowieso überall Einzug», sagt Wohlfahrt. Alle drei führen einen exzellenten Weinkeller. Im «Bareiss», dessen Sommelier Jürgen Fendt als einer der besten des Landes gilt, umfasst er 25 000 Flaschen.

Bodenhaftung 

Wie kommt ein abgelegenes Dorf mit löchrigem Handyempfang zu solch geballter Spitzenkulinarik? Besuch bei Bürgermeister Michael Ruf (35) parteilos – eine Ausnahme im tiefschwarzen Schwabenland. Auch sonst: Er trägt offenes Hemd, Chucks, Jeans und empfängt an einem Samstag um 19 Uhr. «Die Gegend war jahrhundertelang arm, aber die Leute waren immer fleissig», erzählt er. Früher lebte man vom Holz; über die aufgestaute Murg und den Rhein wurde es bis nach Amsterdam für den Schiffsbau geflösst. Bis der Schwarzwald im 19. Jahrhundert komplett abgeholzt war. Dann kam der Tourismus und brachte Wohlstand. Erst durch das Kurwesen: Statt Arbeitern bewirteten die Gasthäuser nun Patienten. Dann durch die deutsche Touristenwelle nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Einheimischen sogar ihre Kinderzimmer an Gäste vermieteten.

Seither wächst das Angebot an Hotels und Restaurants ständig. Heute lebt eine ganze Zulieferindustrie von den grossen Häusern. Trotzdem bleibt man schwäbisch vorsichtig: «Wir haben nie auf zu grossem Fuss gelebt», sagt Ruf, «deshalb sind wir gut durch die Krisen gekommen, auch durch die jüngste.» Noch heute stammen die meisten Gäste aus Deutschland oder Frankreich; Russen hingegen, die das nahe gelegene Baden-Baden überfluten, findet man hier nicht.

Natürlich sind die drei Hotelierfamilien eminent wichtig als Aushängeschild für Baiersbronn. Und als Meinungsträger. Kann man hier politisch etwas bewegen, wenn die drei Patrons dagegen sind? «Schwer», sagt Ruf und lächelt. Auch weil die Familien seit Generationen freundschaftlich verbunden sind. Die Söhne der Finkbeiners gehen mit denen der Familie Bareiss jagen, Jörg Sackmann liess seinen Sohn Nico in Harald Wohlfahrts Küche ausbilden. Der wiederum kam mit seiner Küchenmannschaft zum Gratulieren, als Claus-Peter Lumpp den dritten Stern verliehen bekam, Sackmann schickte Blumen. Ehrensache, dass man sich aushilft, wenn mal die Trüffel ausgehen oder eine Sous-vide-Maschine den Geist aufgibt. Dennoch bleibt man vor allem Konkurrent. «Hier strengt sich jeder an, damit er von den anderen nicht überrundet wird», sagt Hermann Bareiss. «Ohne diesen Wettbewerb wären alle drei Hotels nicht dort, wo sie heute sind.»

Wettrüsten auch im Wellness

Ständige Erneuerung ist daher Pflicht – jedes Haus renoviert oder erweitert jährlich seine Anlagen. Über 70 Bauabschnitte waren es etwa im «Bareiss» im Lauf der Jahrzehnte, wobei man den klassisch-eleganten Landhausstil konsequent beibehalten hat. Ähnlich ist es bei der «Traube Tonbach»: «Wir wollten schon den Baukran auf unsere Visitenkarte drucken», scherzt Finkbeiner. Er allerdings versucht sein Haus, bei dem der traditionelle Schwarzwaldstil mit schwerem Holz und viel Schnitzereien überwiegt, durch die Renovationen schrittweise zu verjüngen. Bei Sackmann ist es ähnlich.

Das Wettrüsten zeigt sich auch im Wellnessangebot: Sackmann hat seinen 1000 Quadratmeter grossen Spa-Bereich vor vier Jahren komplett erneuert. Durchdesignt mit viel Glas, crèmefarbenem Naturstein und afrikanischen Hölzern, basiert er auf der Idee, den kulinarischen Aspekt auch im Wellnessbereich widerzuspiegeln. Deshalb bringt Sackmann täglich frische Gräser ins Kräuterbad, eine Saunawand ist aus Himalayasalz gehauen, und im Ruheraum thronen gewaltige Gewürzphiolen.

Fruchtbarer Boden 

Im «Bareiss» wurde dieses Jahr der Wellnessbereich komplett renoviert, seither stehen zehn Pools und fünf Saunen auf 2400 Quadratmetern zur Verfügung. Und die «Traube Tonbach» glänzt sogar mit 4500 Quadratmetern Spa und 3000 Quadratmetern Aussenschwimmbädern. Hier hat man gerade den Beautybereich renoviert. «Wenn man die Konkurrenz direkt vor der Haustür hat, sieht man die eigenen Stärken und Schwächen besser», sagt Finkbeiner. So erkannte er Nachholbedarf beim Familienangebot. Deshalb eröffnete er kürzlich das Gästehaus Kohlwald, das sich mit seinen 41 kombinierbaren Zimmern speziell an Drei-Generationen-Familien richtet. Damit hat er die Messlatte fürs Erste gelegt im Mikrokosmos Baiersbronn. «Wir werden nachziehen müssen», ist sich Hermann Bareiss bewusst.

Im Schatten der drei grossen Häuser gedeihen andere ambitionierte Hotels in der Schwarzwaldgemeinde, der «Engel» etwa, der «Heselbacher Hof», das «Lamm», die «Sonne». Die «Michelin»-Sterne aber sind über ihnen noch nicht aufgegangen, diese bleiben den Platzhirschen vorbehalten. Wo also sollte man hier einkehren? Die Antwort ist einfach: Man fängt oben an und isst sich durch in Richtung noch weiter oben. Zum Einstieg geht man also in Jörg Sackmanns Restaurant Schlossberg mit seinen 17 «Gault Millau»-Punkten. Dann in die Dreisternehäuser: zuerst ins «Bareiss» mit 18 Punkten. Und als Abschluss in die «Schwarzwaldstube» (19,5 Punkte). Der Unterschied in der Raffinesse der Speisen und der Perfektion des Service ist jedes Mal spürbar, beim ersten Schritt deutlicher, beim zweiten subtiler. Alle drei, so viel ist klar, sind ein Erlebnis.

Bleibt noch die mühsame Rückfahrt. Doch Heiner Finkbeiner weiss Rat: «Tricksen Sie das Navi aus, und fahren Sie in die andere Richtung nach Horb am Neckar», empfiehlt er. «Die Strecke ist zwar länger, aber danach ist alles Autobahn.» Na also, geht doch!

Sternenhimmel in Baiersbronn: