Erste Überraschung: Marcel Fässler hat Rennanzug und Helm für mich mitgebracht. Ich biete ihm an, den Anzug gereinigt zurückzubringen. Nicht notwendig. «Den kann man bei 30 Grad waschen», er wirft ihn zu Hause einfach in die Maschine. Für den Helm entschuldigt sich Fässler fast: Der sei «ein bisschen speziell», aber er hatte gerade keinen anderen. Sympathisch und unkompliziert, dieser Le-Mans-Sieger.

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Zweite Überraschung: Bevor ich mir überlegen kann, ob ich mein Notizbuch im Handschuhfach oder in der Türablage verstaue, haben wir das Ende der langen Geraden erreicht. Fässler tritt auf die Bremse, und das Problem hat sich erledigt: Das Notizbuch ist mir aus der Hand unter den Beifahrersitz gerutscht.

Wir sitzen zwar nicht in seinem Audi R18 Turbodiesel von Le Mans; der hat nur einen Sitz und vermutlich kein Handschuhfach. Aber auch der Zehnzylinder des offenen R8 gehört zur Motorisierungskategorie der Supersportwagen: 525 Pferde mobilisieren ein bulliges Drehmoment von 530 Newtonmetern – das heisst, der Audi schiebt brutal an, die nächste Kurve ist jedes Mal schneller erreicht, als ich gehofft hatte.

«Situation» für die einen, «akuter Notfall» für die anderen. Die ersten Runden fährt der Profi, und mir schwirrt der Kopf. Weniger, weil es mir beim Beschleunigen auf der Geraden die Augäpfel in den Hinterkopf drückt, sondern eher, weil Fässler praktisch ununterbrochen erklärt, was an dieser und jener Stelle zu tun ist – viele feine Details bei hohem Tempo, die er selber auf der engen Strecke im neuenburgischen Lignières alle berücksichtigt. Auf der langen Geraden das Auto erst nach links in der Spur versetzen, weil die Strecke ganz hinten etwas nach rechts zieht. «Damit wir das Auto vor dem Bremsen gerade stellen können, fahren wir den Bremspunkt von links an», erklärt er. Dann macht es woff, woff, als ob ein heiserer Drache Luft holte – Fässler hat in den ersten Gang zurückgeschaltet, mit Zwischengas.

Der Scheitelpunkt der Kurve kommt hier sehr spät. Lenkung etwas aufmachen, zweiter Gang, das Steuer ist noch nicht wieder gerade. Fässler schaltet gern mit den Lenkradpaddles, denn «mit zwei Händen am Lenker kann man viel besser reagieren, wenn man mal eine Situation hat». Er sagt tatsächlich «Situation». Für Normalfahrer wie mich – ohne Rennlizenz und ohne fahrerische Selbstüberschätzung – heisst das übersetzt vermutlich «akuter Notfall».

Nach der engen Kurve folgt ein Geschlängel, bevor eine sehr lange Linkskurve kommt, die tückischerweise nach hinten etwas zumacht. Lange wartet er auf quasi mittlerem Gasniveau, «innen bleiben, innen bleiben», erst als das Kurvenende sichtbar wird, beschleunigt er wieder. «Immer dahin schauen, wohin man fahren möchte», sagt er. Unvermittelt kommt die Haarnadelkurve, hier ist es sehr schwierig, das Auto zum Bremsen gerade hinzustellen. Zum Einlenkpunkt schauen, Geduld haben, Kurvenausgang suchen, Scheitelpunkt – und erst jetzt Gas.

In der letzten, offenen Rechtskurve früh einlenken, innen über die Randabweiser, dann noch eine Linkskurve, bei der man sich überlegen kann, «ob ich früher reingehe und dann am Kurvenende etwas warten muss» oder «ob ich anfangs etwas investiere und dafür früher wieder am Gas bin». Eine der Varianten zu beherrschen, würde mir schon reichen. Er fährt eher die zweite.

Fässler hat das Rennfahren im Gokart gelernt, als Siebenjähriger sass er zum ersten Mal in einem. «Zwei, drei Jahre» habe er gebraucht, um fahrerisch ein «akzeptables» Niveau zu erreichen. Was er für akzeptabel hält: Mit 16 besuchte er die berühmte Rennfahrerschule im französischen Le Castellet, schloss als einer der Jahrgangsbesten ab, war in diversen Formel-Klassen erfolgreich und wechselte dann in die DTM, die Deutsche Tourenwagen-Meisterschaft. Meister wurde er zwar nicht, errang aber diverse Rennsiege und fuhr über Jahre hinweg an der Spitze mit. 2005 wechselte er zu den Langstreckenrennen. Auch hier erzielte er bald Siege, etwa mit verschiedenen Autos auf der schwierigen Strecke in Spa.

Der bisherige Höhepunkt seiner Karriere datiert vom 12. Juni 2011: Zusammen mit André Lotterer und Benoît Tréluyer gewann Fässler die 24 Stunden von Le Mans – ein Titel, dem höchstens noch eine Formel-1-Weltmeisterschaft das Wasser reichen kann. In einem der knappsten Finishs aller Zeiten hielten Fässler und seine Mitfahrer, als letzter verbliebener Audi von drei gestarteten, den Ansturm von vier Erzkonkurrenten in Peugeot 908 in Schach. Wie fühlte sich das an, auf der Siegertreppe? «Der Druck, der da weggeht, ist kaum zu beschreiben. Das war wie auf dem Podium schweben.» Tage, sagt Fässler, habe er gebraucht, um zu verstehen, dass nun etwas vollbracht war, «worauf ich mehrere Jahre hingearbeitet hatte». Noch heute gratulierten ihm Leute zum Sieg, die Begeisterung, freut er sich, sei enorm in der Schweiz: «Es freut mich, dass sich so viele Leute mit mir freuen.»

Dank seiner breiten Erfahrung ist Fässler ein ziemlich kompletter Fahrer: Im Kart lernte er, ein nervöses Gefährt mit sehr kurzem Radstand zu beherrschen, in den Formel-Klassen, wo die Räder gefährlich freistehen, rund und sauber zu fahren, ausserdem «hatte ich zum ersten Mal richtig viel Masse um mich herum und war fest angezurrt, das fühlte sich anfangs komisch an». Hier lernte er auch die berühmte Spitze-Hacke-Technik zum Schalten mit Zwischengas, bei welcher der rechte Fuss gleichzeitig bremsen und leicht Gas geben muss. Die Schaltung war zudem noch eine H-Schaltung, «das alte Rührwerk», grinst Fässler.

In der DTM kam das Fighten dazu. Und in der schnellsten Kategorie, derjenigen der Langstreckenfahrzeuge, die Geschwindigkeiten von 330 Kilometern pro Stunde erreichen und eine Formel-1-ähnliche Technologie aufweisen, nur eben mit abgedeckten Rädern und geschlossenem Fahrer-Monocoque, kommen viele dieser Techniken zusammen: hohes Tempo, Hightech, Positionskämpfe mit gleich starken Fahrern. Zugleich die Gefahren durch Amateure auf der Strecke, die langsame Autos fahren und die kleinen Signale der Profis nicht beherrschen, wann ein Überholender noch sicher vorbeifahren kann oder wann er vor der Kurve besser zurückzucken sollte.

Wie frisch gebügelt. Die ersten Runden neben ihm sitzend, kann ich seine Kunst studieren. Seine Bewegungen bleiben sehr ruhig, auch wenn die Reifen quietschen. Der Audi allerdings bewegt sich im Grenzbereich, ich spüre den Zug nach aussen in den Kurven, aber nur ein, zwei Mal muss Fässler etwas zu viel an Fliehkraft mit leichtem Gegenlenken korrigieren – und das macht er, lange bevor das Auto ausbricht. Diese Gefahr realisieren Normalfahrer meistens erst, wenn sie das Heck ihres Autos schon überholt hat. Fässler handelt schon, wenn das Heck ein Ausbrechen in Erwägung zieht.

Manchmal, etwa am Ende der Geraden, bremst er für meine Begriffe irritierend früh. Aber ich merke bald, warum: Er vernichtet längst nicht so viel Geschwindigkeit wie ich, sondern fährt quasi beim Bremsen weiterhin schnell, löst den Druck vom Pedal sehr früh wieder, aber auch dies kontrolliert: Er geht «progressiv» von der Bremse, nimmt so viel Tempo mit in die Kurve, dass er das Auto eben im Grenzbereich um die Ecke bringt. Bisher hatte ich nur vom progressiven Gasgeben gehört.

In einer Kurve fragt er völlig unvermittelt: «Willst Du jetzt mal fahren?» Klar.

Das Ende der Geraden ist gefühlt noch schneller erreicht als auf dem Beifahrersitz. Marcel Fässler spricht leider noch mehr als auf seiner ersten Runde; ich mache wohl haarsträubende Fehler. Die Linie finden, die er so eingehend beschrieben hat? Tja. Das Auto vor dem Bremsen gerade stellen, damit es auf allen Rädern gleichmässig belastet ist und nicht ausbricht? Geduld haben in der Kurve? Puh … Die vielen Einzelschritte überfordern mich bei diesem Tempo. Jedes Detail muss ich gedanklich bearbeiten. Da ist die nächste Kurve längst da, dabei war ich in der letzten schon zu langsam. Dann hab ich zu viel Gas gegeben und den nächsten Einlenkpunkt weiträumig verfehlt. Fässler erklärt mir in aller Ruhe alles, während ich am Steuer schwitze. Er kann das beinahe wissenschaftlich sezieren. Meine Hoffnung, dass auch er ins Schwitzen kommt, stirbt am Ende, als er seinen Rennanzug öffnet: Der weisse Pullover, den er darunter trägt, glänzt wie frisch gebügelt.

Und dann auch noch schalten. Das ist mir erst mal zu viel, ich bin oft im falschen Gang. Ich sage zu Fässler: «Ich gehe erst mal auf Automatik, um mich auf den Rest zu konzentrieren.» Zwei Kurven später merke ich, dass Fässler mit der linken Hand für mich schaltet: Das gehe schneller als mit Automatik. Demütigend: Nicht mal anständig schalten kann ich. In der Endlos-Linkskurve, die zur Haarnadel führt, gebe ich dann zu viel Gas, der R8 drängt nach aussen. Immerhin reagiert der Allrad gutmütig. Ich lupfe kurz den Gasfuss, das Auto dreht von selber etwas in die Kurve ein.

Fässler kennt das von den Privatstunden her, die er gelegentlich in Le Castellet gibt. Viele Fahrer spüren, dass sie am Kurveneingang zu langsam sind, zu viel Tempo zusammengebremst haben. «Was machen sie dann? Einfach pinseln», sagt Fässler. Stattdessen brauche man Geduld. «Wenn du mehr Gas gibst, treibt es dich immer mehr nach aussen. Und dann, wenn du Gas geben solltest, kannst du nicht, weil du schon zu weit aussen bist. Da verlierst du viel, und das kumuliert sich dann bis zur nächsten Kurve.» Ich ging zwar früher vom Gas, und das Auto lenkte ein. «Aber das», grinst Fässler, «ist natürlich auch nicht schnell.»

Immerhin, nach vier, fünf Runden stellen sich Verbesserungen ein: Gefühlt geht es allmählich flüssiger. Ab und zu finde ich die Linie und treffe die Bremspunkte, die Fässler mir immer wieder zeigt. In Kurven gedulde ich mich mit dem Beschleunigen. Bis zu dem Punkt, den Fässler, ein hervorragender Instruktor, mir eingeimpft hat: erst aufs Gas, wenn man das Lenkrad wieder öffnen kann, also im Kurvenausgang. Und das aber «nicht digital, also Pedal unten oder Pedal oben, sondern progressiv aufs Pedal gehen»: Synchron mit dem Zurückstellen des Lenkrads auf geradeaus wird das Gaspedal gedrückt. Nur dann können die Räder die ganze Kraft aufnehmen und in die gewünschte Fahrtrichtung umsetzen. Einlenkpunkt, Scheitelpunkt und zur richtigen Zeit Gas geben, das sind «schon 80 Prozent der Technik», sagt Fässler.

Nur keine Schrammen produzieren. Ausserdem muss das Auto «richtig platziert sein», wie er es ausdrückt. Tatsächlich: Das schräge Anfahren des Bremspunkts am Ende der Geraden kommt mir nur so lange als Umweg vor, bis ich es erstmals hinkriege: Das Auto steht gerade beim Bremsen, alle vier Räder sind belastet, es gibt keine «Querbeschleunigung». Die folgende scharfe Linkskurve kann ich zügiger angehen. «Die Bremsphase», sagt Fahrlehrer Marcel Fässler, «macht den guten Fahrer aus. Gas geben kann jeder.» Den Bremspunkt erwischen und die Fähigkeit, möglichst viel Geschwindigkeit mit in den Scheitelpunkt hineinzunehmen, das sei die grosse Schwierigkeit. Denn zu wenig Tempo lässt sich eben nicht durch frühes Gasgeben korrigieren.

Jetzt noch ein paar gezeitete Runden – um wie viel wird der Profi den Amateur deklassieren? Fässler schlägt vor, dass wir beide jeweils allein fahren – aber ich möchte ihm natürlich gern vom Beifahrersitz zuschauen. Da wird mir klar: Womöglich fürchtet er, der Ehrgeiz lasse mich zum Digital-Fahrer werden, der wie ein Fallbeil auf Gas und Bremse latscht, und dabei möchte er nicht unbedingt bei mir im Auto sitzen. So ganz vertraut er meinen Fahrkünsten noch nicht. Ich frage ihn direkt, und wie zur Bestätigung lacht er sich halb kaputt. Aber ich kann ihn beruhigen: Den 250 000 Franken-Audi zu verschrammen, wäre mir zu peinlich.

Er fährt zuerst. Wieder werden die Unterschiede deutlich: Eine weite 90-Grad-Kurve nimmt er viel enger und früher als ich. Damit spart er jede Menge Weg. Bei ihm quietschen oft die Reifen, aber das Auto zieht sauschnell um die Kehren. Nicht frühes Gasgeben oder spätes Bremsen ist die Killertugend, sondern es laufen zu lassen. In der Endlos-Linkskurve hänge ich als Beifahrer ziemlich weit rechts in meinem Sitz.

Auch Profis wie Fässler tasten sich bei unbekannten Autos nach und nach an den Grenzbereich heran. Er fährt die ersten Kurven «vielleicht mit 70 Prozent» und legt dann zu. Manchmal stimmt die Abstimmung nicht, «einmal habe ich mich kaum getraut einzulenken», erzählt er – und manchmal habe er sofort ein Supergefühl. «Wenn du das Gefühl hast, du seist zu langsam, dann bist du richtig schnell.» Dann sei man als Fahrer «in der Antizipation quasi vor dem Auto», könne regelrecht spielen mit dem Fahrzeug. Die Fahrtechnik beherrschen die Rennfahrer unterbewusst – anders als ich, der jedes Detail im Kopf bearbeitet. «Wenn du denken musst, bist du zu langsam.»

Der gelernte Innendekorateur Fässler gehört nicht zu denen, die mit Tempo-Exzessen auf öffentlichen Strassen auf sich aufmerksam machen. Gekämpft und um Hundertstelsekunden gerungen wird auf der Rennstrecke, im Strassenverkehr seien die Gefahren viel zu gross, und «gerade in der Schweiz sind die Bussen empfindlich», lacht er – und betont, dass «auf dem Heimweg vom Rennen viel mehr passieren kann als auf der Rennstrecke». Rennfahrer hätten ausserdem eine Vorbildfunktion: «Wer richtig schnell ist, muss es nicht auf der Strasse beweisen.»

Dabei denkt Fässler sicher auch an seine Frau und die vier gemeinsamen Töchter. Er ist ausserdem noch ganz woanders schnell: Beim berüchtigten Inferno-Skirennen in Mürren landete er mehrere Male ganz vorne, 2004 gewann er sogar. Neben der Abfahrt bewegt er sich inzwischen auch, ganz wie beim Autofahren, auf Langstrecken: Mit einem Coach hat er seine Skilanglauf-Technik verfeinert.

Dann fahre ich. Wenn es bei mir quietscht, habe ich meistens was falsch gemacht. An einigen Stellen hebt Marcel Fässler den Daumen. An anderen merke ich selber, was nicht gepasst hat. In der Haarnadelkurve sagt er einmal, ich solle «bitte nicht noch später bremsen». Macht er sich doch Sorgen? Vermutlich ist es idiotisch, dass mich das zum Grinsen bringt. Egal, noch eine gezeitete Runde. Hinter der Haarnadel stehen am Aussenrand der Kurve hohe Absperrungen. Deshalb (250 000 Franken!) bin ich hier beim Beschleunigen zu vorsichtig – und entsprechend langsam. Ich könnte mich totärgern über meine Feigheit.

Wir rollen aus. Kein Angstschweiss auf Fässlers Stirn. Er habe mich mit seinen Tipps ja ein Stück weit im Griff gehabt, ausserdem sei «die Handbremse ganz nah», grinst er. Ermutigender für mich klingt sein Fazit: Nach den typischen Anfängerfehlern sei es schnell besser geworden, «ich habe selten gesehen, dass jemand meine Vorgaben so schnell hat umsetzen können». Das ist doch was. Wir feiern mit einem Plastikbecher-Automaten-Cappuccino. In meinem fortgeschrittenen Alter (ich bin viereinhalb Jahre älter als der erfahrene Rennfahrer Fässler) ist es jedoch zu spät, das möglicherweise schlummernde Talent zum Blühen zu bringen.

Dritte Überraschung: die Zeiten. Ich habe mich zum Schluss stetig gesteigert, von 58 auf letztlich 55 Sekunden. Fässler wurde bei 52 Sekunden gestoppt. Nur drei Sekunden langsamer, das klingt ja sensationell. Einerseits. Andererseits würde ich damit bereits an der 107-Prozent-Abstandsregel kratzen – und mit meinem vermeintlichen Glanzresultat am Ausscheiden wegen Langsamkeit entlangschrammen. Ich glaube ausserdem, Marcel Fässler hätte noch ein, zwei Sekunden mehr herausholen können. Auf der allerletzten Rille ist er in den letzten Runden nicht gefahren. Am Anfang schien er mir entschlossener – aber vielleicht nur, weil ich damals noch so langsam war? Gehen wir mal von Letzterem aus.

Dirk Ruschmann
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