Wann er an diesen Wendepunkt in seinem Leben kam, weiss Markus Granziol nicht mehr auf den Tag genau. Es muss an einem dieser Unterrichtstage im Jahr 1984 gewesen sein. 32 Jahre war er da alt. Seinen Jugendtraum, eine akademische Karriere, hatte er verwirklicht. Karl Brunner, der führende Schweizer Ökonom jener Zeit, hatte ihm ein Stipendium im Monetaristen-Mekka Chicago besorgt. Seine Dissertation hatte er über Wechselkursschwankungen geschrieben. Er war Dozent an der Universität Zürich. Er galt als die grösste Schweizer Nachwuchshoffnung der noch jungen Finanzwissenschaft. Der Professorenposten war ihm sicher. Doch jetzt reichte es ihm.

Markus Granziol: Der neue Warburg-Dillon-Read- Chef hat sich gegen die Amerikaner durchgesetzt.

«Immer nur diese unendlichen Theorien zu studieren, ohne sie jemals anzuwenden – das war nichts mehr für mich», erinnert er sich. Transaktionen mit Geld hatten ihn schon immer fasziniert. Jetzt wollte er nicht mehr nur theoretisieren, sondern es auch wirklich verdienen. Radikal änderte er sein Leben – hinaus aus der Sicherheit der Universität, hinein in die rauhe Handelsszene der Finanzwelt. Nach zwei Jahren bei der Nationalbank begann er 1987 wieder ganz von vorn, als Assistent des Börsenchefs beim Bankverein. Zwölf Jahre später rückt der 47jährige am 3. Mai als neuer Chef der UBS-Investment-Bank Warburg Dillon Read in die Konzernleitung der grössten Schweizer Bank auf. Und er gilt bereits als Geheimfavorit für ihren Chefposten, wenn Marcel Ospel in drei Jahren von Alex Krauer das UBS-VR-Präsidium übernehmen sollte. Niemand in der siebenköpfigen UBS-Konzernleitung steht Ospel so nah wie Granziol. Und niemand, der Granziol näher kennt, traut ihm nicht auch die Führung der Gesamtbank zu.

Bereut hat er den Wechsel nie. Dem Managerleben hat er sich mit der gleichen Radikalität verschrieben wie früher der Wissenschaft, daran lassen seine exakt dem Berufsethos entsprechenden Antworten keinen Zweifel. Wieviel ist er unterwegs? «Die Hälfte der Zeit bin ich in London, ein Viertel in New York, den Rest dazwischen.» Was macht er, wenn er abends Zeit hat? «Mit Mitarbeitern ausgehen.» Wie regeneriert er sich? «Mit Ausdauersportarten wie Joggen oder Langlaufen.» Doch die wissenschaftliche Prägung bleibt. Er überlegt lange, bevor er Fragen beantwortet, und sagt dann Sätze wie: «Da gibt es drei Punkte zu bedenken.»

Methodisch sehr gut, extrem systematisch sei er, sagt ein früherer Generaldirektor des Bankvereins, dabei sehr gradlinig und unemotional. «Er ist einer der ganz wenigen, die Theorie und Praxis wirklich verbinden», befindet auch der St. Galler Professor Heinz Zimmermann vom Schweizer Institut für Banken und Finanzen. In den frühen achtziger Jahren war er hoch beeindruckt von den finanzwissenschaftlichen Publikationen Granziols. «Das hat mich schon überrascht, dass jemand mit diesem Potential aus der Wissenschaft ausscheidet – er wäre einer der jüngsten Professoren der Schweiz geworden.» Mitte April sahen die beiden sich wieder, auf einer Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Finanzmarktforschung, einer Vereinigung hochkarätiger Finanzvertreter, der Granziol seit einem Jahr angehört und zu der unter dem Vorsitz von Nationalbank-Vize Bruno Gehrig unter anderem die Finanzchefs Mario Corti (Nestlé) und Erwin Heri («Winterthur») oder die Professoren Claudio Loderer (Bern) und Rajna Gibson (Lausanne) zählen. Für Granziol war es seit seinem Rückzug aus der Wissenschaft das erste Mal, dass er die früheren Weggefährten aus der Hochschulwelt wieder traf. Dafür nahm er sich sogar einen ganzen Tag Zeit.

 

Radikal änderte Markus Granziol sein Leben – hinaus aus der Sicherheit der Universität, hinein in die rauhe Handelsszene der Finanzwelt.

 

Sonst hat er ausserhalb der Bank keinen beruflichen Kontakt mit der Schweiz. Verwaltungsratsmandate lehnt er prinzipiell ab, wie Ospel. Selbst in Managerkreisen ist er ausserhalb der Finanzgemeinde weitgehend unbekannt. Seit 1995, nach einem Jahr Hongkong, lebt er mit seiner Tessiner Frau und zwei Kindern, einem siebenjährigen Sohn und einer einjährigen Tochter, sehr zufrieden in London. Seinen Schweizer Wohnsitz hat er in Oberägeri in seinem Heimatkanton Zug unter der Adresse seines Bruders Leo Granziol, eines renommierten Wirtschaftsanwalts, der so prominente Firmen wie den Handelskonzern Metro zu seinen 38 Verwaltungsratsmandaten zählt.

Granziol übernimmt die UBS-Investment-Bank in einer schwierigen Phase. Da ist nicht nur der Milliardenverlust beim Hedge-Fonds LTCM vom vergangenen September, der Warburg Dillon Read als einziges der fünf UBS-Geschäftsfelder für 1998 rote Zahlen ausweisen liess. Das UBS-Investment-Banking steht noch immer in der Kritik. Zahlreiche Analysten fordern im Einklang mit dem UBS-Grossaktionär Martin Ebner eine weitere Konzentration auf das Private Banking, also den Verkauf des Investment Banking. «Ein Verkauf stand nie zur Diskussion», betont Granziol zwar. Doch er schliesst ihn auch nicht kategorisch aus: «Wenn wir letztlich unsere Ziele nicht erreichen, sind solche Überlegungen legitim, wie in jedem Bereich.» Zwar ist die 14 000-Mitarbeiter-Investment-Bank Warburg Dillon Read aus der Fusion der früheren Bankverein-Investment-Banking-Tochter SBC Warburg Dillon Read mit der alten UBS als führende Investment-Bank Europas hervorgegangen. Sie liegt in der letzten «Euromoney»-Rangliste – sie umfasst Handel, Emissionsgeschäft und Beratung – klar auf dem ersten Platz, auch wenn sie im Kerngeschäft der Fusions- und Übernahmeberatung (M&A) nur die Nummer drei ist.

 

Analysten fordern den Verkauf des Investment Banking der UBS. Warburg-Dillon-Read-Chef Granziol schliesst dies nicht kategorisch aus.

 

Doch noch immer fehlt in diesem Schlüsselgeschäft eine starke Präsenz in den USA, und weil dort mehr als die Hälfte der weltweiten Einnahmen dieses Gebiets anfallen, liegt die UBS weltweit nur auf dem neunten Platz (siehe Tabelle unten). «Wenn die UBS eine globale Bulge-bracket-Firma werden will, braucht sie eine grosse Akquisition in den USA», sagt Raphael Soifer, Analyst bei der New Yorker Privatbank Brown Brothers Harriman. Doch den UBS-Investment-Bankern sind die Hände gebunden: Eine Übernahme, wenn überhaupt gewollt, wäre im momentan kritischen Umfeld und mit dem konservativen VR-Präsidenten Krauer nicht machbar. Zudem gibt es kaum geeignete Kandidaten. So bleibt nur der Weg des langsamen Aufbaus, wie der jüngste Einkauf des 35köpfigen Health-Care-Teams von Salomon Smith Barney. Doch damit war schon die alte UBS, wie alle anderen nichtamerikanischen Häuser, gescheitert.

So wirkt die neue UBS von aussen zuweilen, als hätte sie eher das behäbige Statusdenken der alten UBS als das aggressive Aufholdenken des alten Bankvereins übernommen, auch wenn dieses Bild von innen nicht stimmen mag. Vor der Fusion war Ospel Chef eines Teams für Angriffskriege. Seit er sein Ziel erreicht hat, muss er sich in der Defensive behaupten.

Das ist auch für Granziol neu. Als er beim Bankverein einstieg, war Ospel gerade von seinem zweijährigen Gastspiel bei Merrill Lynch zurückgekommen und hierarchisch über ihm als Direktor eingestiegen. Ospel baute den Wertschriftenverkauf auf, Granziol profilierte sich bei der Risikoüberwachung. Näher kamen sie sich, als der Bankverein erste Gespräche mit dem Derivatehaus O’Connor in Chicago aufnahm. «Uns verband, dass wir trotz Widerstand innerhalb der Bank erkannten: Das war eine Riesenchance, aus der mehr werden musste als eine lockere Kooperation», erinnert sich Granziol.

Granziol wurde zu einer Art theoretischem Gewissen Ospels, der sich immer als Praktiker bezeichnete und sein Studium bei einem HWV-Abschluss in Basel beliess. «Wir ergänzten uns gut: Neben seinen ausgeprägten strategischen Fähigkeiten war er schon immer stark in Richtung Kunden, Verkauf und Marketing ausgerichtet, mich hatte bis dahin vor allem das Risk-Management und der Handel interessiert.» Schnell stieg Granziol Ende der achtziger Jahre zum Handelschef auf und hinterliess auch dort bleibende Spuren. Damals gab es bloss zum Quartalsende einen Überblick über die Gesamtheit der Handelspositionen. «Ich will das jeden Tag haben», forderte Granziol und setzte sich durch. Als das internationale Bankverein-Geschäft unter Ospels Führung von O’Connor übernommen wurde, war er der einzige Schweizer, der es mit den Amerikanern aufnehmen konnte. «Zwei Dinge haben mir geholfen: Mit mathematischen Gleichungen konnte man mich nie erschrecken. Und ich wollte mit der Theorie Geld verdienen.» Das war genau die Kultur der jungen O’Connor-Garde. «Markus war uns auf vielen Gebieten sogar überlegen, und deswegen wollten wir, dass er möglichst viel Verantwortung übernimmt», sagt ein hochrangiger Bankverein-Investment-Banker und früherer O’Connor-Mann.

So bildete Granziol für den Bankverein die Brücke zu der elitären O’Connor-Mannschaft und wurde zum wichtigsten Schweizer Ratgeber für Ospel. Zusammen konzipierten sie die Expansion: Kauf der englischen Investment-Bank Warburg, des US-Vermögensverwalters Brinson, des New Yorker Corporate-Finance-Hauses Dillon Read. Granziol etablierte sich als wichtigster Spartenchef. Als er 1994 das Aktiengeschäft übernahm, lag es mit Erträgen von 430 Millionen Franken hinter den andern Hauptkategorien, dem Zinsen- und Devisengeschäft, zurück. 1997, dem Jahr vor der Fusion, hatte Granziol die Erträge fast verfünffacht und die anderen Kategorien hinter sich gelassen.

Auch war er schon zu Beginn der neunziger Jahre überzeugt, dass nur zwei Schweizer Grossbanken international überleben würden. Schon früh tat er alles, um seine Bank aus der Fusion als Sieger hervorgehen zu lassen. Als Übernahmeziel war die SBG ausgemacht. Während sich Ospel und der letzte SBG-Chef Cabiallavetta privat annäherten, tauschte sich Granziol zuweilen mit Werner Bonadurer aus, als Stabschef und späterer Handelschef der engste Vertraute Cabiallavettas und wie er im Oktober ein Opfer des LTCM-Debakels. Für sein Gebiet, das Investment Banking, hat die Fusion wenig gebracht. «Die Überschneidungen waren zu gross.» Bis dahin entschied er immer strikt nach dem Leistungsprinzip. Das hatte ihn fasziniert an Karl Brunner, dem Schweizer Monetaristen, dem er als Student begeistert zugehört hatte und den er heute als sein einziges Vorbild nennt – auch Brunner liess Titel oder Herkunft nicht gelten, für ihn zählte nur Leistung. Doch jetzt konnte er dieses Prinzip nicht anwenden. Damit das Geschäft reibungslos weiterlaufen konnte, musste er schnell entscheiden. Er wählte fast ausschliesslich eigene Teams. «Sie müssen Leute schnell und oberflächlich beurteilen – furchtbar.»

 

Fachwissen, Sicherheit in der Kommunikation, internationale Erfahrung: Granziol bringt alles mit für die Führung der Gesamtbank.

 

Doch die Fusion wurde für ihn noch aus einem anderen Grund zu einem Problem. «Das ist eine Altlast der SBG», schmunzelt er, wenn er auf das Bild des Bündner Künstlers Dea Murk in seinem engen Büro in der Schweizer Warburg-Dillon-Read-Zentrale in Zürich-Opfikon schaut. Es ist die einzige Altlast, die er gern übernommen hat. Er musste das desaströse Aktienderivatgeschäft des langjährigen UBS-Starmanagers und Cabiallavetta-Vertrauten Ramy Goldstein abwickeln. «Er war geschockt, als er die Positionen sah», berichten Nahestehende. Er selbst drückt es diplomatischer aus. «Ich war schon überrascht.» Einige dieser Transaktionen waren auch seiner Abteilung angeboten worden. Er hatte sie als zu gefährlich abgelehnt. 1,4 Milliarden Franken Verlust fielen insgesamt aus der Abwicklung dieses Bereichs an, zusätzlich zu dem LTCM-Verlust von 950 Millionen. Dass Ospel über den direkten Draht zu Granziol immer genau Bescheid wusste über das Risikoversagen der einst so stolzen Triple-A-Bank, dürfte intern die Position der alten UBS-Manager kaum verbessert haben.

Seine Nominierung war unbestritten. Nach dem LTCM-Debakel übernahm er auch das darniederliegende Zinsengeschäft und hatte zuletzt zwei Drittel der Erträge von Warburg Dillon Read unter sich. Der Zeitpunkt war allerdings überraschend, auch wenn der bisherige Warburg-Dillon-Read-Chef Hans de Gier seit einiger Zeit Pensionsgelüste äusserte. Der neue VR-Präsident Alex Krauer dürfte jedoch gerade jetzt die Nominierung des Risikokontroll-Spezialisten Granziol an der Spitze der UBS-Investment-Bank gefördert haben. Was wird sich ändern? «Ich werde in der Konzernleitung sehr präsent sein», unterstreicht er. De Gier setzte stärker auf Autonomie. Auch wird er direkter in das Geschäft eingreifen – einen Chief Operating Officer, einen Chef für das Tagesgeschäft, gibt es nicht mehr, Granziol wird alle Kernfunktionen direkt an sich rapportieren lassen. Und auch bei der Öffentlichkeitsarbeit wird es einen Wandel geben. De Giers Vorbild war die verschwiegene Goldman-Sachs-Spitze. Mit der Fusion jedoch verschlechterte sich gerade die Londoner Presse stark, und dazu trug die defensive Haltung de Giers sicherlich bei. «Wenn es der Bank nützt, trete ich auf», sagt Granziol.

Kein zweifel: wenn die Märkte nicht einbrechen, wenn der Euro ein Erfolg wird und wenn Markus Granziol dadurch die Verkaufsgerüchte zum Verstummen bringt – dann ist er der aussichtsreichste Kandidat für die Ospel-Nachfolge. Der bisherige Finanzchef Peter Wuffli, unlängst als Chef des Asset-Managements in heikler Mission nach Chicago befördert, hat eine deutlich kleinere Geschäftssparte. Zudem gilt er nicht als wirklicher Ospel-Vertrauter, denn es war dessen Vorgänger Georges Blum, der ihn zum Bankverein holte. Der Italiener Rudi Bogni, als Chef der wichtigsten Geschäftssparte Private Banking ein weiterer Anwärter, hat nur begrenzte Deutschkenntnisse, noch immer ein bedeutendes Handicap. Granziol dagegen bringt alles mit: Fachwissen, internationale Erfahrung, Kommunikationssicherheit.

Der Ausstieg aus der Wissenschaft, der Abschied von seinem Jugendtraum, war der prägende Einschnitt in seinem Berufsleben. Seit er ihn gemeistert hat, bewältigt er das sich stets beschleunigende Tempo im Investment Banking fast mühelos: «Ich bin mit zunehmendem Alter mit Veränderungen immer besser klargekommen.» Natürlich verbietet er sich, über die nächste mögliche grosse Veränderung, die Ospel-Nachfolge, auch nur zu spekulieren. Und es spricht alles dafür, dass sich Markus Granziol auch innerlich mit dieser Frage nicht befasst, bevor sie nicht aktuell wird. Dazu verändert sich seine Branche viel zu schnell.

 

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