Nun also doch. Wochenlang wurde bereits Ende vergangenen Jahres über eine Kanzlerkandidatur von Martin Schulz spekuliert. Der wortgewaltige EU-Politiker hatte im November seinen Wechsel in die Bundespolitik angekündigt. Mindestens Aussenminister oder gleich Kanzlerkandidat der SPD - zugetraut wurde ihm vieles.

Am Dienstagnachmittag dann sickerte in Berlin die Nachricht durch: Die SPD schickt Schulz im September ins Rennen gegen Kanzlerin Angela Merkel. Parteichef Sigmar Gabriel verzichtet.

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Wochen voller Vermutungen und Spekulationen

Hinter Gabriel, Schulz und der SPD liegen Wochen voller Vermutungen und Spekulationen. Gabriel hatte als Parteichef das erste Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur, Schulz wurden die besseren Chancen eingeräumt.

Jetzt macht Gabriel Platz für seinen Vertrauten. Schulz habe «die eindeutig besseren Wahlchancen», sagte der Parteichef dem «Stern». Umfrage auf Umfrage hatte das in den vergangenen Wochen nahegelegt.

Politische Laufbahn nicht in die Wiege gelegt

Dabei war dem 61-Jährigen Schulz eine politische Laufbahn nicht in die Wiege gelegt. Der Polizistensohn wurde im Dezember 1955 im nordrhein-westfälischen Eschweiler geboren, seit über 40 Jahren lebt der Vater zweier erwachsener Kinder in der Kleinstadt Würselen bei Aachen.

Als Jugendlicher wollte er eigentlich Profifussballer werden. «Ich hab' nur noch Fussball gespielt, mich interessierte nichts anderes mehr», sagte er vor einigen Jahren der Zeitschrift «Bunte». Doch sein Traum platzte nach einer schweren Knieverletzung. Zum Abitur schaffte er es nicht, nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit machte er eine Ausbildung zum Buchhändler.

Steile Karriere nach schwierigem Start

Offen spricht Schulz über seine Alkoholprobleme als junger Mann, die er mit Hilfe seines Bruders überwand. «Irgendwann sagte ich mir: Entweder mache ich einen radikalen Schnitt oder ich gehe kaputt. Ich wollte mein Leben nicht wegwerfen: Mit 27 hatte ich dann meine eigene Buchhandlung, von da an ging's bergauf», sagte Schulz der «Bunten». Mit 31 Jahren wurde er in Würselen zum Bürgermeister gewählt.

Mitglied bei den Sozialdemokraten ist Schulz bereits, seit er 19 Jahre alt ist. Ins EU-Parlament wurde er erstmals 1994 gewählt, dort erklomm er beharrlich die Karriereleiter. Chef der sozialistischen Fraktion wurde er 2004, seit Januar 2012 ist er Präsident des EU-Parlaments. Im Juli 2014 wurde er als erster EU-Parlamentspräsident der Geschichte für eine zweite Amtszeit wiedergewählt.

Auf dem internationalen Parkett tritt Schulz selbstbewusst auf. Er spricht fliessend Englisch und Französisch und ist bestens vernetzt. Schulz kennt viele der einflussreichen Akteure in den 28 EU-Staaten - und mit nicht wenigen ist er per Du. Regelmässig telefonierte er auch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).

Kein Blatt vor den Mund

In Krisen mischte sich der umtriebige Politiker als Parlamentspräsident gerne persönlich ein. So reiste Schulz als erster hoher Vertreter der EU nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei nach Ankara. Auch in die belgischen Wirren um das zwischen der EU und Kanada ausgehandelte Freihandelsabkommen Ceta schaltete er sich ein.

Als Parlamentspräsident nahm Schulz kein Blatt vor den Mund und prangerte etwa Demokratieabbau in Polen oder Ungarn an. Im Februar 2014 kritisierte er bei einem Besuch im israelischen Parlament die Lebensbedingungen der Palästinenser im Gaza-Streifen, worauf die Abgeordneten der nationalreligiösen Siedler-Partei Jüdisches Heim unter lauten Protestrufen den Saal verliessen.

Eigentlich wäre Schulz gerne in Europa geblieben - doch eine weitere Amtszeit an der Spitze des EU-Parlaments war mit der konservativen Europäische Volkspartei nicht zu machen. Schulz tritt bei der Bundestagswahl auf Platz eins der SPD-Landesliste Nordrhein-Westfalen an.

(sda/ccr)