Die Euphorie kennt keine Grenzen. Die Medien überschlagen sich von rechts («starke Frau», NZZ) bis links («unbestechliche Macherin», WoZ) mit Huldigungen. Freisinnige und CVPler singen das hohe SP-Lied der hoch qualifizierten Kandidatin: einer arbeitswütigen Intellektuellen mit Herz, Härte und praktischem Sachverstand, kurz: eines neuen, coolen Frauentypus, massgeschneidert für magere Zeiten. Dabei ist die 57-jährige Politologin Micheline Calmy-Rey (MCR) ein typisches Produkt des gern zelebrierten Genfer Egoismus. Noch kaum ein Regierungsmitglied hat vor seiner Wahl so wenig für den nationalen Zusammenhalt getan wie die künftige Aussenministerin. So verkündete MCR, dass sich der «reiche» Kanton in der EU besser entfalten könnte als in der Eidgenossenschaft. Sie bekämpfte den Neuen Finanzausgleich, weil Genf künftig mehr zahlt. In schweizerischen Gremien wie der Finanzdirektoren-Konferenz oder dem Bankrat der Nationalbank liess sie sich selten blicken. Dem Verwaltungsrat der Crossair, dem sie von 1998 bis 2001 angehörte, erwies sie kein einziges Mal die Ehre ihrer Anwesenheit. Wenn man sich das Swissair-Debakel vor Augen hält, so war ihr Verhalten geradezu fahrlässig. Ihr Leistungsausweis als Finanzdirektorin hingegen ist unbestritten: Die KMU-Frau zeigte in der Kantonalbank-Krise Leadership, baute Schulden ab und senkte die Steuern vorab für Familien mit kleinen Einkommen. Für produzierende Unternehmen blieb Genf allerdings trotz Calmy-Rey steuerlich ein sehr hartes Pflaster.
Ihre Genossinnen und Genossen Patrizia Pesenti war wegen ihrer Popularität in der Deutschschweiz anfänglich Calmy-Reys gefährlichste Konkurrentin. Doch der gespaltene Bürgerblock war zu schwach, um die von Parteichefin Christiane Brunner abservierte reformfreudige Tessiner Regierungsrätin im Parlament durchzudrücken. Tief verletzt ging ihre Genfer Kollegin Liliane Maury Pasquier aus der fraktionsinternen Ausmarchung hervor. Ruth Lüthi schaffte es bis in den Schlussgang, doch die gebürtige Grenchnerin war chancenlos, zumal ihr Kanton Freiburg mit Joseph Deiss schon in der Regierung vertreten ist. Im Parlament weibelte die Zürcher Genossin Vreni Hubmann für MCR, bei den SP-Frauen die Genfer Ex-Nationalrätin und Nachbarin Maria Roth-Bernasconi. Blind versteht sie sich mit Christian Brunier, dem Genfer SP-Fraktionschef. Kühl ist das Verhältnis zu ihrer Vorgängerin Ruth Dreifuss, der Pesentis Ausbootung missfiel; sie favorisierte danach genauso wie Ex-Fraktionschef Franco Cavalli die Freiburger Staatsrätin.
Ihre Walliser Wiege Die ehemalige Klosterschülerin, die sich als Existentialistin bezeichnet, brachte es ausgerechnet im Rom von Calvin zur Regierungspräsidentin. MCR stammt ursprünglich aus einer alten Unterwalliser CVP-Familie. Ihr Vater brach als Gewerkschafter mit der Tradition und war SP-Gemeinderat in St-Maurice. Von ihm geerbt hat sie Volksnähe und Bescheidenheit. Im Genfer Vorort Grand- Lancy lebt die dreifache Grossmutter seit Jahrzehnten in der gleichen Blockwohnung. Eine steile SP-Karriere machte auch ihr Cousin Jean-Noël Rey, der es zum Post-Chef brachte, ehe ihn SP-Bundesrat Moritz Leuenberger in die Wüste schickte. Ihre Schwester Eliane sitzt für die Liberalen in der Exekutive von Lausanne. In der FDP-Fraktion hatte sie einen mächtigen Fürsprecher: den neuen Bundespräsidenten Pascal Couchepin. Die welsche Presse taxiert die beiden Unterwalliser Dickschädel bereits als «stärkste Persönlichkeiten» der Regierung.
Ihre Seilschaften Aus Angst, im nächsten Jahr den zweiten Sitz im Bundesrat zu verlieren, tanzte die CVP-Führung nach der Pfeife der SP. Vizepräsident François Lachat und Fraktionschef Jean-Michel Cina, der Freund und Feind mit SP-Rhetorik überraschte, gingen für MCR durchs Feuer, ebenso der liberale Nationalrat Jacques-Simon Eggly (Liberale) sowie die Bauernvertreter Marcel Sandoz und John Dupraz (FDP), der am selben Tag wie MCR geboren wurde (8. Juli 1945). Die beiden schworen die Vertreter des Nährstandes auf sie ein, so auch den Schweizer Bauerngeneral Hansjörg Walter (SVP). In Genf unterstützte sie mit Claude Marcet sogar ein SVP-Grossrat. Die härteste Abwehrfront bildeten die ehemaligen Finanzdirektoren um den Schaffhauser Ständerat Peter Briner, die sie genauso vor den Kopf stiess wie Finanzminister Kaspar Villiger. Da die Genfer Regierung sich nicht für die Expo.02 erwärmen konnte, war das Verhältnis zu deren Generaldirektorin Nelly Wenger gespannt.
Ihre Bankaffäre MCR gilt als Retterin der angeschlagenen Banque Cantonale de Genève (BCGe). Allerdings war sie wie andere Genfer Politiker selber Teil des Problems. Sie sass bereits in den Achtzigerjahren im Verwaltungsrat der moribunden Caisse d’épargne, die später mit der Banque hypothécaire zur BCGe fusionierte. In jener Zeit versickerten Gelder in den Firmen von Léon Gaon und vom Immobilienspekulanten Jürg Stäubli (80 Millionen). Auf ihre Rolle als VR angesprochen, verschanzte sie sich hinter dem Bankgeheimnis. Doch Regressklagen könnten für MCR noch zum Problem werden. Demnächst muss die Bundesrätin in der Causa BCGe, wo alt CVP-Nationalrat Dominique Ducret am Pranger steht, als Zeugin vor Gericht erscheinen. Schätzen gelernt hat sie die Genfer Bankenvertreter Ivan Pictet und Bénédict Hentsch. In der Frage des Bankgeheimnisses stellte sie sich hinter den Bundesrat, womit sie bei FDP-Rechten wie Hans-Rudolf Merz punktete. Der Genfer SP-Nationalrat Jean-Nils de Dardel bezeichnete sie deshalb als «opportuniste».
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