Der linke Haken kam ansatzlos. Krachend landete der Schlag am Kinn von Ingemar Johansson. Der schwedische Titelhalter rappelte sich noch einmal hoch. Wenige Augenblicke später schlug ihn Exweltmeister Floyd Patterson k.o. 61 Jahre lang hatte bei den Boxern der Schwergewichtsklasse das ungeschriebene Gesetz «They never come back» gegolten – bis zu jener Nacht am 20. Juni 1960 im Madison Square Garden von New York.

Szenenwechsel. Ein schwülwarmer Sommerabend Anfang Juli in Zürich. Kurz nach 19 Uhr piepsen rund um die Hauptquartiere von UBS und Credit Suisse die Handys. Per SMS verbreitet sich innerhalb von Minuten die Nachricht vom Revirement in der Führung der Credit Suisse. «Der Verwaltungsrat hat Oswald J. Grübel mit sofortiger Wirkung zum Mitglied der Geschäftsleitung der Gruppe und Chief Executive Officer der Credit Suisse Financial Services ernannt», verkündet die Pressemitteilung sec. Und weiter: «Thomas Wellauer wird das Unternehmen Ende September 2002 verlassen.»

Oswald Grübel? Jener Oswald Grübel, den Lukas Mühlemann erst vor acht Monaten abserviert hatte, unzeremoniell und mit der Brutalität des angeschlagenen Konzernlenkers?

«They never come back» – keinen hätte es gewundert, hätte Grübel dem Verwaltungsrat jetzt die kalte Schulter gezeigt. Denn gross war die Demütigung, dass Mühlemann ausgerechnet ihm den farblosen McKinsey-Aufsteiger Thomas Wellauer vor die Nase gesetzt hatte. Peinlich jener Moment beim traditionellen Jahresend-Nachtessen der Credit Suisse im Zürcher Hotel Savoy, als er und Wellauer auf Befehl von Mühlemann demonstrativ ihre Freundschaft bekunden mussten. Wenige Tage später warf er den Bettel hin. Ausgesorgt hat er längst, dank erfolgreichen Goldinvestments in den Achtzigern; auf 100 Millionen Franken wird sein Vermögen geschätzt, das er im Kanton Schwyz versteuert. Trotzdem hat Grübel sein Büro im ersten Stock des CS-Hauptsitzes am Zürcher Paradeplatz nie geräumt. Als hätte er geahnt, dass die Zeit für die Pensionierung noch nicht reif ist.

Dass es eng würde für das Tandem Mühlemann/Wellauer, war schon lange klar gewesen. Wochenlang hatten die Medien über die Führungskrise bei der Credit Suisse spekuliert. Seit Anfang des Jahres war der CS-Kurs um 43 Prozent abgesackt. Der Finanzkonzern steckt in der Klemme: Das Investment-Banking ist zu teuer, die Winterthur-Versicherung eine Enttäuschung, die Europa-Expansion des Private Banking ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Je desolater die Situation um den Chief Executive und Verwaltungsratspräsidenten Lukas Mühlemann wurde, desto kraftvoller schossen die Gerüchte ins Kraut: Als der deutsche Börsenbrief «Prior» die bevorstehende Übernahme der Credit Suisse durch die Deutsche Bank vermeldete, reagierte der Verwaltungsrat umgehend und beschloss einen Machtwechsel in kleinen Schritten – und mit einem Gewinner: Oswald Grübel.

Ortstermin am Zürcher Paradeplatz. Grübel – eine Masse Mensch, die da plötzlich vor einem steht. Der Geruch von Zigarrenrauch – so etwas wie das Signum der Macht in der Beletage des CS-Hauptquartiers – wabert aus seinem Büro herüber ins Sitzungszimmer, in dem er empfängt. Das Büro selbst ist Grübel heilig, kaum einer hat es je betreten. Es heisst, es gleiche mehr einem Trading-Room denn einem gediegenen Chefbüro. Grübel arbeite am liebsten im schummrigen Halbdunkel – zu viel Licht würde den Blick auf die x PCs, die zusammen mit x Papierstapeln jeden Quadratzentimeter seines riesigen Pultes besetzen, nur behindern.

Grübel spricht langsam, lehnt sich zurück, verströmt den selbstgewissen Habitus von einem, dem das Terrain bestens vertraut ist. Nein, sagt er mit einer gutturalen Stimme, in die sich pfälzischer Zungenschlag und ostdeutsche Klänge der Kindheit mischen, so dramatisch sei das alles gar nicht gewesen. Als Mitte letzten Jahres die neue Organisationsstrukur bekannt gegeben wurde, sei ihm einfach nur klar geworden, dass es ihn nicht mehr brauche. «Deshalb bin ich zurückgetreten, in bestem Einvernehmen mit dem Verwaltungsrat, da gab es keine schlechten Gefühle.» Im Gegenteil, eine Abschiedsparty hätten sie für ihn organisiert, wunderbar sei die gewesen. Rainer E. Gut, der ehemalige CS-Verwaltungsratspräsident, hatte die Rede gehalten und erklärt, Grübel sei ein Mensch, der ihn «nie im Stich gelassen hat».

Gut versteht sich bestens mit Swiss-Re-Chef Walter Kielholz, der im CS-Verwaltungsrat sitzt. Kielholz holte Grübel im April in den Verwaltungsrat des Rückversicherungskonzerns – als Nachfolger von Lukas Mühlemann. Der Masterplan für Grübels Rehabilitierung war damals schon in Vorbereitung. Wenn Grübel jemals Gefühle des Triumphes, ja der Rache verspürt haben sollte, weil sie ihn jetzt zurückholen mussten, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, versteckt er sie glänzend.

Warum er, warum jetzt? «Ich nehme mal an, dass sich der Verwaltungsrat angesichts des sich rapide verschlechternden Marktumfelds nach jemandem umgesehen hat, von dem man glaubte, dass er Erfahrung mit solchen Situationen hat. Und wenn man so lange wie ich in einem Unternehmen arbeitet, empfindet man natürlich eine gewisse Verbundenheit. Da kann man eine solche Bitte nur schwer abschlagen.»

Grübel spricht selten in der ersten Person, meist bleibt es bei diesen anonymen «man». So schafft er einen Sicherheitsabstand zu sich selbst. Sein Privatleben ist tabu, nur so viel: die Gattin in Frankfurt, eine Tochter in London, Meilensammeln auch am Wochenende. Was Grübel von sich preisgibt, ist die professionelle Fassade, dieses seit dreissig Jahren kultivierte Bild des Machers, des Polterers, des Vollbluthändlers mit der schnellen Auffassungsgabe und der unerschütterlichen Coolness in Stresssituationen. «Grübel besitzt ein grosses Mass an Rücksichtslosigkeit», beschreibt ihn einer seiner ehemaligen Mitarbeiter.

Der bald 60-jährige Grübel tat seinem Spitznamen «The Assassinator» stets alle Ehre. Unzimperlich schritt er zur Tat, als er 1998 Klaus Jenny, einen Veteranen der Bank, als Chef des Private Banking ersetzte. In der ersten von ihm geleiteten Managementkonferenz scheuchte er mit Sprüchen wie «jetzt müsst ihr zum ersten Mal arbeiten», «wer schneller rennt, macht das Business» oder «quantitativ sind wir chancenlos, aber qualitativ haben wir es in der Hand, die Nummer eins zu werden» die verwöhnten Privatkundenberater auf und vertrieb manchen aus der Bank. Mit seiner Forderung, der Kundschaft des CS-Private-Banking nicht mehr nur CS-eigene Produkte zu verkaufen, sondern ihr via CS Fundlab das gesamte Angebot zur Auswahl zu stellen, brachte er auch das CS-Asset-Management gegen sich auf – die Private Banker waren bis dato die wichtigsten Abnehmer der bankeigenen Fonds. Grübel fackelte auch nicht lange, als der Analyst Christopher Chandiramani die CS in eine unmögliche Situation brachte, als er im Juli 2000 die Swissair totsagte: Grübel feuerte den Mann und entschuldigte sich umgehend beim damaligen SAir-Konzernchef Philippe Bruggisser «für das unprofessionelle Verhalten unseres Mitarbeiters».

Der frischgebackene Chef über 55 000 Mitarbeiter gilt als aufbrausend, knallhart und derart sarkastisch, dass viele Mitarbeiter mit Angstschweiss auf der Stirn vor ihn treten. Grübel hält derlei für trockenen Humor, geprägt durch zwanzig Jahre England. Der Analyst Christoph Ritschard von der Zürcher Kantonalbank kann dem Stil Grübels durchaus etwas abgewinnen. «Seine unkonventionelle Art war anfangs sehr gewöhnungsbedürftig, später aber ungemein auflockernd.» Sicher ist: Zum Diplomaten taugt der Spitzenbanker nicht.

«Mit Grübel gibt es keine langen theoretischen Diskussionen», erinnert sich ein ehemaliger Untergebener. Er geniesst intern viel Respekt, weil er seine Meinung stets deutlich sagt, rasch Entscheidungen fällt und dann konsequent durchzieht. Es heisst, er misstraue allem, was via Dienstweg zu ihm gelange, halte es für geschönt und mache regelmässig eigene Checks bei den entsprechenden Mitarbeitern.

Grübel ist einer, der sich hochackern musste, quasi aus dem Nichts. Aufgewachsen in Ostdeutschland bei seiner Grossmutter, konnte er bei der Deutschen Bank in Mannheim eine Lehre machen und arbeitete damals vor allem im Aktien- und Obligationenhandelsbereich. «Diese ersten zehn Jahre haben mich geprägt», sagt er. Es war die Zeit unter Hermann Josef Abs, «da herrschte aus heutiger Sicht eine hohe Ethik in diesem Geschäft». Grübel wühlte sich durch, lernte das Geschäft in der Wertpapierabteilung der Deutschen Bank in Frankfurt, sammelte bei White Weld in London erste Investment-Banking-Erfahrungen. Als die CS White Weld übernahm, entdeckte Rainer E. Gut den jungen Deutschen und machte ihn 1978 zum Chef der Investment-Bank. Gut protegierte Grübel in der Folge väterlich, schickte ihn 1985 zur Investment-Bank First Boston, an der sich die Credit Suisse inzwischen ebenfalls beteiligt hatte (heute: CS First Boston), und berief ihn 1991 schliesslich in die Geschäftsleitung der CS. Von 1998 bis Ende letzten Jahres leitete er das Private Banking und brachte es mit seiner tempobetonten, unprätentiösen Art einen grossen Schritt vorwärts. Als Grübel ging, hatte das Geschäft nach Ansicht von Heinrich Wiemer, Analyst bei der Bank Sal. Oppenheim, schon seinen Zenit überschritten. «Ich habe ihm damals im Scherz gesagt, dass er zum genau richtigen Zeitpunkt gegangen ist. Heute scheint diese Vorhersage durchaus zutreffend.»

Grübel sei ein anständiger Mensch, lobt ein Weggefährte aus Londoner Tagen. Seine Karriere sei ihm nicht in den Kopf gestiegen. Im Gegenteil: Zu einem Golfkurs habe er sich als Chef des Private Banking nur dank viel Überredungskünsten bewegen lassen, in die Oper habe ihn bislang noch keiner gebracht, und wenn er sich je im Hardturmstadion eingefunden habe, sei ihm die Langeweile im Gesicht gestanden. Grübel ist durch das viele Geld, das er angehäuft hat, so wenig Gesellschafts- wie Luxusmensch geworden – von den edlen Zigarren, die er schmaucht, und den schnellen Autos, mit denen er sich als Formel-1-Fan gerne beschäftigt, mal abgesehen. Mitarbeiter beschreiben ihn als distanziert, aber grosszügig. Bei Bonusauszahlungen war Grübel in den Jahren des Booms nie knausrig. Seine Günstlinge hat er fürstlich belohnt. Ansonsten setzt Grübel in puncto Führung und Motivation vor allem auf seine wuchtige Persönlichkeit. Er ist ein Mann von Prinzipien, das muss reichen. «Wenn ein Unternehmen nicht wie ein Uhrwerk läuft, behindern sich die Mitarbeiter gegenseitig. Wenn die Arbeit läuft, steigt die Produktivität, und die Leute sind happy.» Führungsphilosophie à la Oswald Grübel. Nur 48 Stunden nach seiner Ernennung hat er sämtlichen CS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern in einer internen E-Mail eine neue Gangart angekündigt: «Als ich mich gerade an das angenehme Leben im Ruhestand zu gewöhnen begann, wurde ich vom Verwaltungsrat der CS Group zum CEO der Credit Suisse Financial Services bestimmt. Das zeigt Ihnen, dass heute von uns allen eine sehr viel höhere Flexibilität verlangt wird als in den vergangenen Jahren.» Er habe Hunderte von E-Mails bekommen nach seiner Ernennung, viele auch von Leuten, mit denen er noch nie zusammengearbeitet hat.

Der Mann ist mit dem Bild, das man von ihm hat, im Reinen. Mit dem Ruf des Raubeins, schroff, schrullig und ungehobelt. «Ich sollte wohl nicht lachen, das passt nicht zu meinem Image», scherzt er beim Fototermin. Davon, dass er der richtige Mann am richtigen Ort ist, ist er überzeugt. «Man ist natürlich immer hoch motiviert, dort einzuspringen, wo man mit seinen Erfahrungen etwas bewegen und zum Besseren führen kann.» Viel Zeit wird er sich nicht geben. «Zunächst werde ich meine Energie in die Analyse dieses neuen Gebildes stecken», sagt er fast angeekelt und mit Blick auf das, was seine Vorgänger unter dem Label «Allfinanz» dort kreiert haben. «Natürlich weiss ich grob, was da abgeht, aber es geht da um Details, in die ich mich einarbeiten muss. Erst dann kann man entscheiden, ob es Sinn macht, unsere Strategie so weiterzuführen wie bisher, oder ob sie angepasst werden muss.»

Die Gretchenfragen lauten: Liesse sich der vom Vorgänger Wellauer initiierte Verschmelzungsprozess zwischen Retail-Banking und Private Banking überhaupt stoppen? Ist die Allfinanz-Idee noch zu retten? Entpuppt sich die Verschmelzung der Banken- und Versicherungsaktivitäten wohl als grösster Fehler der Konzerngeschichte, wie selbst Leute wie der Grossaktionär Martin Ebner langsam vermuten? Schafft es Grübel, die Kosten zu senken? Was ist mit dem unter Mühlemann forcierten Europageschäft im Private-Banking-Bereich, das Grübel immer ein Dorn im Auge war?

Er wolle nichts zu möglichen Schritten sagen, bremst Grübel im Gespräch. Noch nicht. «Es gibt eine Strategie, die allgemein bekannt ist, und es gehört zu den Aufgaben des Managements, diese laufend zu hinterfragen.» Er wolle nicht noch mehr Unsicherheit verbreiten. Aber auch das: Man müsse im Finanzgeschäft immer bereit sein, die Strategie dem Markt anzupassen. «Denn es ist immer der Markt, der letztlich entscheidet.» Auch das neue Töne aus einem Haus, das zwischenzeitlich mit unglaublicher Hybris von sich glaubte, «den Markt machen» zu können.

Dass ihm Lukas Mühlemann noch allzu sehr ins Handwerk pfuschen könnte, daran glaubt wohl auch Grübel nicht mehr. Der Rückhalt im Hause ist für den Chief Executive ohne Fortüne inzwischen gleich null. Ein Ausschuss des Verwaltungsrates ist nun damit betraut, einen neuen Präsidenten für die ins Schlingern geratene CS zu finden. Kein Klacks: Mit John Mack, «The Knife», und Oswald Grübel, «The Assassinator», sitzen im Konzern zwei Männer an der Macht, die bekannt dafür sind, dass sie es nicht ausstehen können, wenn man ihnen ins Geschäft redet. Da kann es nicht verwundern, dass gerüchteweise der Name von Bundespräsident Kaspar Villiger die Runde macht, ein Kopf, der für Seriosität und Verlässlichkeit steht.

Im Rennen dürfte aber auch Oswald Grübel selber sein. Pläne für die Zukunft der gesamten Gruppe – da unterscheidet er sich wohl von seinem amerikanischen Gegenpart John Mack – hat er allemal: «Jede Marktsituation eröffnet neue Möglichkeiten. Nur weil heute die Aktienkurse runtergehen, heisst das noch lange nicht, dass wir die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen: Um Gottes willen, was machen wir jetzt? In den nächsten Jahren werden sich fantastische Chancen ergeben, unser Geschäft zu expandieren.» Wenn sich Oswald Grübel an das Drehbuch von Box-Champ Floyd Patterson hält, bleibt ihm dabei einige Zeit, der Credit Suisse seinen Stempel aufzudrücken. Den letzten Kampf bestritt Schwergewichtsweltmeister Patterson 1972 gegen Muhammad Ali – zwölf Jahre nach seinem Sieg gegen den Schweden Ingemar Johansson. Manchmal kommen sie eben doch zurück und bleiben dann für länger ...
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