Tausend Zuschauer, hundert Künstler, ein Einzelner vorne hebt den Arm, alle halten den Atem an. Die hundert legen los, geführt und gelenkt von dem einen, der sich abschliessend einen Extra-Applaus und mehrere Einzelhuldigungen abholt. Begeistert er häufig und nachhaltig, strömt das zahlende Publikum oft ausschliesslich seinetwegen ins Konzertgebäude.

Der Dirigent. Der Pultstar, Halbgott mit Taktstock. Er ist es (Frauen sind in diesem Gewerbe noch Ausnahmen), der nach landläufiger Ansicht aus Partituren von Mozart oder Beethoven und einer Ansammlung fest angestellter Musiker gewaltige Emotionen erschafft; Herbert von Karajan behauptete, ein Orchester habe keinen eigenen Klang, «den macht der Dirigent». Nicht umsonst gilt dieser Beruf als der, in dem sich einige der grössten Egozentriker des Planeten wiederfinden. Benjamin Zander, Gründungsdirigent des Boston Philharmonic Orchestra, nannte seine Profession «die letzte Bastion des Totalitarismus in der Welt».

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Moderne Dirigenten als Inspiratoren

Berüchtigte Vertreter dieser düsteren Herrscherkaste wie die aus Budapest in die USA emigrierten George Szell und Fritz Reiner, der Deutsche Wilhelm Furtwängler oder auch der gefürchtete Arturo Toscanini, dessen Tobsuchtsanfälle und Beleidigungen in den Proben («Sie haben die Ohren wohl an den Füssen!») bis heute auf YouTube zu geniessen sind, brachten gleichwohl Konzerte und Plattenaufnahmen hervor, die noch immer als Referenz in der Klassikwelt gehandelt werden.

Aber wenn auch strikte Führung bisweilen Grossartiges hervorbrachte: Die Zeit der Pestbeulen am Pult ist vorbei. Moderne Dirigenten sehen sich in der Rolle des Motivators, als Inspiratoren für die Instrumentalisten. Sie erklären den Musikern ihre Interpretation der Brahms-Symphonie und laden ein, dieser zu folgen, stecken sie im besten Fall mit ihren Visionen an – wie Paavo Järvi. Aber dazu kommen wir noch.

1962 in Estland geboren, übersiedelte Paavo mit seiner Familie 1980 in die USA, wo er seine Ausbildung als Musiker – er studierte Schlagzeug – und im Dirigieren abschloss, unter anderem bei Lichtgestalt Leonard Bernstein, der regelrechte Jünger um sich scharte. Ganz so kultisch ist die Verehrung für Järvi zwar nicht, zumindest noch nicht, er ist ja erst 55. Doch am Musikfestival im estnischen Strandferienort Pärnu, das Järvi 2010 gegründet hat, wo die Partys lang, die Gagen aber übersichtlich sind, bekommt man eine Ahnung davon, dass die Strahlkraft dieses Dirigenten, den man statt in vornehmen Restaurants tagsüber in T-Shirt und Turnschuhen am Strand und abends beim Bier an der Bar trifft, enorme Wirkung entfalten muss. Nur «wegen Paavo», lassen sich Musiker zitieren, reisten sie hierher ans Ende Europas.

Paavo Järvi

Paavo Järvi kennt kein Maestro-Getue, er ist ein aufgeschlossener und kommunikativer Dirigent.

Quelle: Kaupo Kikkas

Auf den ersten Blick scheint Paavo Järvi nicht zu den Titanen des Taktstocks zu gehören. Doch das täuscht. Zwar taucht er gemeinhin nicht in geschmäcklerischen Aufzählungen à la «Die zehn besten Dirigenten der Welt» auf. Doch all die grossen Orchester haben Järvi schon zum Dirigieren ans Pult geladen, und relevante Stimmen der Klassikwelt wie Harald Eggebrecht von der «Süddeutschen Zeitung» bezeichnen Järvi als «unglaublich erfolgreich» und «unglaublich beschäftigt», als «einen der interessantesten Dirigenten» unserer Zeit.

Bester Beethoven der Welt

2004 übernahm er die Chefrolle bei der seinerzeit selbst in Deutschland praktisch unbekannten Kammerphilharmonie Bremen. Mit dieser legte er eine weltweit gefeierte Einspielung des heiligen Grals der klassischen Musik vor: die neun Symphonien von Beethoven. Unvergleichlich transparent und präzise statt massig und dickflüssig kommen diese Interpretationen daher, ohne Kampf ums brutalste Fortissimo oder Celli, die um ihr Leben schrammeln.

«Der beste Beethoven der Welt», urteilte die Zeitung «Nikkei» aus Japan, wo die Bremer den gesamten Zyklus aufführten, mit dem sie auch in Nord- und Südamerika und an den Salzburger Festspielen gastierten. Es liege vielleicht an dieser etwas leichtfüssigen Art, vermutet Eggebrecht, dass Järvi nicht überall so hoch eingeschätzt werde, wie es ihm gebühre: ein grossartiger, eleganter Dirigent, der mit jedem Orchester zurechtkomme und immer Autorität geniesse, ohne autoritär zu sein.

Er passt zur Tonhalle

«Er gehört definitiv zur Gruppe der Allerbesten», sagt Ilona Schmiel, Intendantin der Tonhalle-Gesellschaft, stehe in einer Reihe mit den unumstrittenen Leitfiguren ihrer Profession wie Mariss Jansons, Daniel Barenboim, Riccardo Chailly oder Simon Rattle. Für sie passen bei Järvi gleich mehrere Faktoren zur Tonhalle: Zum einen mögen ihn die Musiker. Dass es künstlerisch und atmosphärisch funktioniere, habe sich im Dezember 2016 gezeigt, als Järvi mit dem Orchester Schumanns «Rheinische» aufführte; in der Findungskommission für den neuen Chef sassen zwei Orchestermitglieder. Und zum anderen stimmten Järvis Alter und Anspruch: Mit 55 ist der Este für einen Dirigenten der Topliga jung, «er war verfügbar, und er will es jetzt wissen», sagt Schmiel.

Die klassische Schweiz

Das Tonhalle-Orchester ist der unangefochtene Platzhirsch der Schweizer Klangkörper, von denen es mehr gibt, als man vermuten würde: 14 Orchester mit fest angestellten Musikern zählt der Verband Schweizerischer Berufsorchester, hinzu kommen zahlreiche Cameratas und Ensembles, bei denen sich Profis jeweils zu Konzerten zusammenfinden. Von den 14 sind fünf als gross zu bezeichnen, neben der Tonhalle das Orchestre de la Suisse Romande, die Symphonieorchester Bern und Basel sowie das neuerdings «Philharmonia» getaufte Orchester des Zürcher Opernhauses. International renommierte Dirigenten hat die Schweiz zweieinhalb: Zunächst den 81-jährigen Charles Dutoit, der in Kanada lebt, einst mit Ausnahmepianistin Martha Argerich verheiratet war und sich aktuell inmitten einer Debatte über sexuelle Belästigung wiederfindet; Dutoit ist ein Weltstar, der aus dem mittelmässigen Orchester von Montreal ein Spitzenensemble machte. Nummer zwei ist der 43-jährige Philippe Jordan, der vor allem als Operndirigent Furore macht, derzeit in Paris, Berlin und Wien, und zudem die Wiener Symphoniker leitet. Die halbe Wertung geht an Lorenzo Viotti, der im März 28 Jahre alt wird und auch auf bestem Weg zu einer Weltkarriere ist: Er hat schon viele Top-Orchester dirigiert und soll dieses Jahr Chefdirigent des wohl wichtigsten Symphonierorchesters in Portugal, des Gulbenkian-Orchesters, werden.

Er wolle das Tonhalle-Orchester in die Spitzengruppe führen, zu den Philharmonikern aus Wien und Berlin, zu Amsterdams Concertgebouw, zum Orchester des Bayerischen Rundfunks. Also dorthin, wo Schmiel die Zürcher sehen will, «aber wo wir derzeit noch nicht sind». Aktuell sieht sie als Messlatten wohl Klangkörper wie das Leipziger Gewandhausorchester oder die Sächsische Staatskapelle – beide auch höchst respektabel. In Leipzig löst der lettische Shootingstar Andris Nelsons bald Riccardo Chailly als Chefdirigent ab, der seinerseits als Abbado-Nachfolger an die Spitze des Luzerner Festivalorchesters wechselte, in Dresden wirkte Fabio Luisi, heute Generalmusikdirektor des Zürcher Opernhauses, bis ihn Christian Thielemann ablöste, der als Lordsiegelbewahrer des deutschen Repertoires (Beethoven, Brahms, Richard Wagner) gilt. Und darüber will die Tonhalle noch hinaus!

«Ambition ist das Wichtigste»

Also: Järvi kanns, und er kommt. Aber warum eigentlich? «Ambition ist das Wichtigste», sagt Järvi – nach dem Musikalischen. Wie toll das Orchester spiele, die Musiker aufeinander hörten und mit ihm zusammenarbeiteten, das habe er bei seinem Schumann-Konzert gespürt. Es bestehe ein finanziell stabiles Umfeld, und das Orchester sei eine feste Grösse in Zürich und der Schweiz; dank dieser Alleinstellung gebe es Zeit zum Wachsen. In Städten wie London mit mehreren Symphonieorchestern, vielen Kammerorchestern und hochklassigen Gastspielen sei ein Klangkörper ständig im Überlebensmodus und müsse um Aufmerksamkeit ringen – da lasse sich nichts Substanzielles aufbauen.

Ausserdem brauche es zum Erfolg einen guten Namen, siehe Concertgebouw, Gewandhaus, London Philharmonic, sowie eine gute Spielstätte, in der man nicht nur auftreten, sondern auch proben kann, «das ist notwendig, um einen eigenen Sound zu kreieren». Das Tonhalle-Orchester habe beides. Schliesslich müsse es ein Management-Team geben, das «den Ehrgeiz hat, etwas Grösseres zu machen – es gibt nichts, was weniger attraktiv ist als ein Mangel an Ehrgeiz, so etwas finde ich weder künstlerisch interessant noch persönlich motivierend». Schmiel bestätigt: Wenn Järvi an etwas arbeitet, «gibt er immer 110 Prozent». Das künftige Branding werde «ganz klar über den neuen Chefdirigenten laufen», sagt Schmiel: Tonhalle-Orchester mit Paavo Järvi.

Tonhalle-Orchester

Intermezzo mit Potenzial: Paavo Järvi sieht den Interims-Standort Tonhalle Maag als Chance, um jüngere Menschen für das Tonhalle-Orchester zu interessieren.

Quelle: Christian Beutler/Keystone

Mit seinem Anspruch rennt Järvi also bei Schmiel offene Türen ein. Die beiden kennen sich bereits aus Schmiels Zeit als Intendantin des Beethoven-Festes in Bonn. Järvi und seine Bremer traten dort auf, und der Este sagt ganz offen: «Es hat viel mit Ilona Schmiel zu tun, dass ich das Angebot aus Zürich akzeptiert habe.» Zumal er hier «die musikalische Kapazität» im Orchester schon für den ganz grossen Klangkörpern ebenbürtig hält – und Järvi weiss, worauf es dabei ankommt. Die Berliner Philharmoniker etwa zeichne das stetige Streben aus, immer noch besser zu werden und die Welt mit ungewöhnlichen Projekten auf sich aufmerksam zu machen. «Auch in Zürich auf dieses Level zu kommen, das ist dann eben eine Frage des Ehrgeizes – und es gibt keinen Grund, warum wir das nicht auch können sollten.»

Ein teurer Dirigent

12 bis 15 Wochen pro Jahr wird Järvi dann in Zürich sein, wenn er in der Saison 2019/20 den Chefposten übernommen haben wird. Bis dahin will er die Stadt besser kennen lernen und sich wohl auch eine Bleibe suchen, «das Logistische» hat er noch nicht angehen können. In der Zwischenzeit wird er seine Präsenz beim Orchester schrittweise hochfahren: Im Spätherbst dieses Jahres steht eine Asientournee – China, Korea, Taiwan – auf dem Programm, in der Folgesaison sind drei Wochen in Zürich vorgesehen, dann soll das Abenteuer beginnen.

Järvi ist keiner, der von Gastauftritt zu Gastauftritt hüpft – er gilt als einer der treuen Vertreter seiner Zunft, widmet sich wenigen Orchestern, denen aber umso intensiver. «Die Art, mit einem Orchester zu arbeiten, ist wie eine Beziehung mit einer individuellen Person», sagt Järvi. Die solle wachsen, sich entwickeln, «und auch nur dann ist eine Beziehung spannend». Nach Chefstationen in Stockholm und Cincinnati, in Frankfurt bei den Symphonikern des Hessischen Rundfunks und beim Orchestre de Paris führt er derzeit neben den Bremern noch das famose NHK Symphony Orchestra in Tokio.

Drei Chefstellen klingt nach viel, doch damit limitiert Järvi sein Zeitbudget für lukrative Gastauftritte bei anderen Orchestern – womit er deutlich mehr verdienen könnte. Dass die Saläre der Chefs öffentlich finanzierter Kultureinrichtungen nicht ausgewiesen sind, ist eine genauso ärgerliche wie übliche Geheimniskrämerei. Millionen, wie sie in München, Berlin, New York oder gar Valencia zu verdienen sind, dürften es in Zürich aber nicht sein; realistisch ist wohl eher eine halbe Million Franken. Schmiel schweigt sich darüber aus. Warum auch nicht – ihr eigenes Salär ist ebenfalls unter Verschluss.

Paavo Järvi

Im klassischen Frack sieht man Järvi praktisch nie. Hier immerhin in typähnlich-festlichem Gewand.

Quelle: Kaupo Kikkas

Vieles ausprobieren

Bedeckt hält sich Järvi vorerst auch zur musikalischen Marschrichtung in Zürich. Erst einmal will er mit den Zürchern vieles ausprobieren: Haydn, Mozart, Sibelius, die Franzosen, Neue Musik aus dem 20. Jahrhundert; alles, was sie noch nicht gespielt haben. «Wir müssen uns etwas Zeit lassen und Dinge erforschen, vielleicht verlieben wir uns in Dvor?ák, wer weiss?» Eben, es ist wie in einer Beziehung: Sei man von etwas sehr überzeugt, könne man schon obsessiv werden, «und wenn die Musiker mit deinen Obsessionen übereinstimmen und sich anstecken lassen, werden sie daran teilnehmen».

Diese Art Teamwork sei es, sagt Järvi, die Spitzenergebnisse hervorbringe. Für den Bremer Beethoven-Zyklus hätten Järvi und seine Kammerphilharmoniker, sagt ein Insider aus Bremen, «zwei Jahre lang in Beethoven gewohnt». In Zürich seien Brahms und Beethoven, das bisherige Zentrum des Tonhalle-Repertoires unter Lionel Bringuiers langjährigem Vorgänger David Zinman, sicherlich «ein guter Kern». Järvi und den äusserst beliebten Zinman eint zudem ein analytischer, strukturierter Zugang zur Musik.

Auf den Esten wartet also einiges in Zürich. Nachdem sich der aktuelle Chefdirigent, der erst 31-jährige Bringuier, und das Orchester entfremdet haben sollen, braucht es einen neuen Schulterschluss. Ausserdem gilt es, jüngere Zuschauer an klassische Musik heranzuführen. Das Intermezzo bis 2020 mit der Tonhalle Maag als Spielstätte, während die Tonhalle am Zürichsee umgebaut wird, sieht Järvi als Chance, gar «als Geschenk»: Im Kreis 5 befinde man sich inmitten junger Menschen, die bislang selten den Weg zur Tonhalle gefunden haben.

Schmiels Team hat zudem Fühlung zu den Firmen im Hardbrücke-Areal aufgenommen, und aus der nahe gelegenen Kunsthochschule im Toni-Areal strömen Studenten in die Konzerte. Des Weiteren hat Schmiel ein Schülerprojekt ins Leben gerufen: Der Nachwuchs organisiert über acht Monate hinweg ein Konzert, gemeinsam mit den Profis im Management, bekommt tiefe Einblicke ins Geschäft mit der Kunst und begeistert sich hoffentlich für die Institution Tonhalle – hinter den Kulissen und als künftige Konzertgänger. Von Järvis Energie, sagt Schmiel, seien die Schüler fasziniert.

Musik. die die Seele berührt

Tatsächlich ist Järvis Vorwärtsdrang nur eine Seite. Andererseits ist der Globetrotter, der bisher kein Deutsch spricht, auch einer der zugänglichen, unprätentiösen Vertreter seiner an Egomanen reichen Gattung. Er scheut sich nicht vor politischen Äusserungen; aufgewachsen mit Russland im Rücken wird man wohl unweigerlich von Jugend an politisiert. Zugleich ist er sehr aktiv auf Twitter und Instagram, und das durchaus mit Humor.

Järvi stammt aus einer regelrechten Musikerdynastie. Sein Vater ist der ähnlich berühmte Dirigent Neeme Järvi, der ab 2012 drei Jahre Chefdirigent des Orchestre de la Suisse Romande war, Schwester Maarika eine gefeierte Flötistin, der jüngere Bruder Kristjan Järvi leitet das Symphonieorchester des Mitteldeutschen Rundfunks. Paavo war in jungen Jahren Mitglied einer Rockband, heute hört er Jazz, wenn es mal keine Klassik sein soll; Piano-Giganten wie Oscar Peterson oder Bill Evans, aber auch Bigband-Aufnahmen von Glenn Miller oder Duke Ellington. In Orchesterproben illustriert er seine musikalischen Wünsche gern mit Bigband-Analogien, «die Musiker verstehen und mögen das».

Paavo Järvi mit seinem Vater

Musikalische Familie: Paavo mit seinem Vater Neeme Järvi, der die Karriere des Sohnes bis heute unterstützt.

Quelle: Kaupo Kikkas

Für die Musik hat Järvi viel gegeben. Seine Ehe zerbrach an seinem Vagabundenleben zwischen seinen auf dem Globus verteilten Orchestern; zum Gespräch mit BILANZ, das an einem frühen Abend in Berlin stattfand, war er am Mittag aus Brüssel eingetroffen und reiste am Abend weiter nach Hamburg. Insofern schätze er sich glücklich, dass er mit seinen beiden Teenager-Töchtern ein sehr enges Verhältnis habe. Auch bei ihnen zeige sich eine künstlerische Ader, sagt der Vater – der sie aber niemals in diese Richtung drängen würde. Was er fordert: dass beide Klavier spielen üben. Nicht um Musikerinnen zu werden, sondern um Disziplin zu schulen, auch den Wert von Disziplin zu erfahren – und «die Befriedigung, wenn man etwas in den Griff bekommt».

Ein Job für die zweite Lebenshälfte

Etwas können, bei diesem Thema wird Järvi nachdenklich. Dirigieren, sagt er, sei ein Job für die zweite Lebenshälfte. Nichts gegen die Verehrung der Jugend, das kenne man aus Hollywood und von der Popmusik, und auch im klassischen Fach gebe es ja viele hoch talentierte Nachwuchskollegen. Aber Dirigent sein, das erfordere ein gewisses Mass an Weisheit, und die komme nur über Erfahrung. Man müsse Versuche gestartet und beendet, Emotionen, Misserfolge und schlechte Konzerte durchlebt haben – und die Zeit dafür, sich zu hinterfragen, alles zu verdauen. Sich jung alles zuzutrauen, sei nichts Schlimmes, «ich war ja auch so – aber ich habe damals auch nicht die Berliner Philharmoniker dirigiert». Junge Dirigenten, auch er seinerzeit, fühlten sich angezogen von komplexer, herausfordernder, aufregender Musik, «wie von aufregenden Skiabfahrten».

Später erst erkenne man, wie ruhige Musik genauso aufregend und herausfordernd sein könne, «zumal ich genügend Skiabfahrten in meiner Jugend hatte», dass etwa eine Bruckner-Symphonie alles habe, was einen bewegen könne – Musik, die die Seele berührt. Die Schritte zur Weisheit hinter sich zu bringen, lohne sich für jeden, sagt Paavo Järvi. Und der einzige Erfolg, den zu haben sich lohne, sei «der selbst erarbeitete Erfolg». Für einen Mann, der nach oben will, eine sehr sympathische Einstellung.

Dirk Ruschmann
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