Von Prof. Dr. med. Oswald Oelz Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital in Zürich und leidenschaftlicher Extrembergsteiger

Mein Freund Peter will unbedingt den Mount Everest besteigen. Dabei sind alle dagegen und sagen, das gehe nicht mehr. Eben haben wir bei Raclette Peters 60. Geburtstag gefeiert und festgestellt, dass er für den Everest viel zu alt sei. Auch Trixie, Peters Frau, meint, es sei völlig unnötig und sinnlos, dass er sich jetzt auch noch diesen Berg hochquäle, er habe schon mehr als genug seine Haut zu Markte getragen.

Zudem sagt die Statistik, dass es Peter wahrscheinlich nicht schaffen wird. Die Erfolgsquote alter Männer, die versuchten, den Everest zu erklettern, ist sehr gering, bei jenen, die es energisch versucht haben, war die Todesrate hoch, schliesslich ist der unaufhörliche und unaufhaltbare Degenerationsprozess von Geburt an unser Schicksal. Spätestens ab dem 20. Lebensjahr nimmt die Leistungsfähigkeit des Mannes (und auch der Frau) mit statistischer Grausamkeit kontinuierlich ab, die maximale Sauerstoffaufnahme sinkt von Jahr zu Jahr, die Lungenkapazität serbelt, die Arterien werden hart, und der Testosteronspiegel fällt, zumindest nach Meinung der Urologen, irgendwann auf substitutionsbedürftige Werte.

Hinzu kommt die ernüchternde Tatsache, dass es auf dem Mount Everest ja auch nichts Neues mehr zu entdecken gibt und keine spektakulären Erstlingstaten möglich sind. Es war ja schon fast jeder oben, alles war schon da: die erste Frau, der erste Indonesier, Zürcher, Mexikaner, Beinamputierte, Blinde, Minister, Mittelschüler, Vegetarier, Blaukreuzler und so fort. Und sicher auch etliche mindere Charaktere, wie spätestens seit Krakauer sattsam bekannt ist.

Auch ist der Everest nicht mehr so schön und rein, wie sich das für den höchsten Berg der Welt gehört, sondern von allerlei Unrat verdreckt. In den oberen Regionen orientiert man sich von Leiche zu Leiche, und wenn man schliesslich den höchsten Ort erreicht hat, steht man für das Gipfelfoto an, bis am Endpunkt Platz ist. Vor vielen Jahren war das natürlich alles anders, da suchten wir nach dem Geheimnis der blauen Blume und stiegen hoch hinauf, um tief in uns hineinsehen zu können. Was wir dabei sahen, füllt Bücher und Diashows – und ist bescheiden genug.

Warum also geht Peter trotzdem? Warum wollen texanische Ölmillionäre, New Yorks High-Society-Damen und Schweizer Wirtschaftsführer, die gerade einmal den Kilimandscharo erhechelt haben, ihr Curriculum solchermassen aufbessern? Warum in aller Welt tun wir sinnlos Gefährliches und erweisen uns als beratungsresistent? Ist es eine hysterische Trotzreaktion gegen den gnadenlosen Zahn der Zeit, ein naives Selbsttäuschungsmanöver? Oder gilt es einmal mehr, wie flügelschlagende Gockel oder Platzhirsche die Rang- und Hackordnung zu verbessern? Ist ein Zürcher Parlamentarier, der den Everest bestiegen hat, eben doch etwas Besonderes? Oder ist es die Suche nach verblichener makelloser Schönheit und nach dem Geheimnis in uns?

George Mallory antwortete auf die entsprechende Frage eines Journalisten, er wolle auf den Everest steigen, «because it’s there» – und hielt damit für alle Zeiten fest, dass die Frage nach dem Sinn solchen Tuns sinnlos ist. Ich meine, dass Peter von all dem etwas sucht und dass er nur glücklich wird, wenn er beim Zurückkommen sagen kann: «Ich habe den Everest gemacht.» Er möchte zurückkommen wie Edmund Hillary am 30. Mai 1953, der nach erfolgreichem Abstieg seinen Freunden in perfekter Machomanier verkündete: «Well, George, we knocked the bastard off.»

An Widerständen entzünden sich Fantasie und Energie. Das scheinbar Unmögliche zu versuchen, ist Antwort auf die Neinsager und Widerstand gegen Statistik, Physiologie und Resignation. «Dennoch die Schwerter halten vor die Stunde der Welt», formulierte Gottfried Benn. Deshalb muss Peter auf den Everest, und ich hoffe sehr, er kommt auch wieder zurück.

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