Sie säuseln von sozialem Fortschritt und unverteilten Wohlstandsgewinnen. In Lateinamerika und in Asien, flüstern uns die Schatzgräber der Globalisierung pausenlos zu, schlummern Wachstumsreserven, die es – zum Nutzen der Menschheit – lieber schon heute als morgen fruchtbar zu machen gelte. Glaubt man ihren Verheissungen, muss die Dividende einer forcierten Marktöffnung nahezu grenzenlos sein. «Imagine there’s no countries», hatte John Lennon zu Beginn der siebziger Jahre in einem seiner Songtexte angeregt und damit die Fantasien von Millionen von Zuhörern in Gang gebracht. Auch wenn es sich beim charismatischen Ex-Beatle um eine der ersten globalen Pop-Ikonen handelt, würde man einem Anti-Militaristen wie Lennon kaum neoliberales Gedankengut unterstellen wollen.

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Der Traum von der Völkerverständigung ist so alt wie die Menschheit. Aus materiellem Blickwinkel wurde mit diesem Traum stets das Ideal einer gerechteren Ressourcenverteilung verknüpft. Ein Wegfall nationaler Egoismen, so die Hoffnung, führe wenn auch nicht zu einer dauerhaften Überwindung des Mangels, so doch immerhin zu einer etwas gleichmässigeren Verteilung der knappen Ressourcen auf dieser Welt. Wie selbstverständlich spielen die Globalisierungsfalken und die Befürworter eines uneingeschränkten Waren- und Dienstleistungsaustauschs auf dieser Klaviatur und behaupten nahezu unwidersprochen, vom Freihandel profitierten langfristig alle. Ob sich dieses Versprechen einlösen lässt – in absoluten Zahlen wie im Abstand zwischen Arm und Reich –, darf zumindest hinterfragt werden.

Wie weit sich die globale Völkergemeinschaft im Jahr 2006 von den Weltverbesserungsfantasien eines John Lennon entfernt hat, führt uns der Karikaturenstreit in aller Schärfe vor Augen. Ein paar politisch umstrittene Karikaturen genügen, abgedruckt in einer dänischen Tageszeitung, und schon kommt es in weiten Teilen der muslimischen Welt – von Persien, Afghanistan und Syrien bis nach Nigeria und Indonesien – zu blutigen Ausschreitungen, mobilisieren religiöse Eiferer zum Handelsboykott. «Wir stehen vor einer zunehmenden globalen Krise, die das Potenzial hat, über die Kontrolle von Regierungen und anderen Autoritäten hinweg zu eskalieren», reagierte Dänemarks Ministerpräsident Anders Rasmussen auf die Welle blinder Vergeltung und verlieh damit einer bedrückenden Ausgangslage Ausdruck. Selbst wenn wir Glück haben und der Boykott gegen dänische Exporteure ein bedauerlicher Einzelfall bleibt: Für die Zukunft eines offenen, sich selbst regulierenden Handelssystems stellt der Karikaturenstreit der letzten Wochen ein denkbar ungünstiges Signal dar. Das Tauwetter, das sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eingestellt hatte, war nur von kurzer Dauer. Seit dem Fanal vom 11. September 2001 wachsen hüben wie drüben die ideologischen Mauern wieder in die Höhe. Nur der Hass und die gegenseitige Entfremdung, wie es scheint, bleiben schrankenlos.

Man muss nicht Jean Ziegler heissen, um festzustellen, dass das ungehinderte Treiben der «Beutejäger des globalisierten Finanzkapitals» und der «Barone der transkontinentalen Konzerne», wie der Sonderbotschafter der UN-Menschenrechtskommission die Taktgeber der internationalen Arbeitsteilung in farbiger Weise benennt, die Welt in zunehmendem Mass polarisiert. Seit sich das ökonomische Kräfteverhältnis unweigerlich zu Gunsten der asiatischen Bevölkerungsgiganten China und Indien zu verschieben beginnt, zeichnet sich in der Alten Welt die Gefahr ab, dass eine allzu freiheitliche Wirtschaftsauffassung ausser Mode kommen könnte. In einer wachsenden Zahl von Ländern werden marktwirtschaftliche Grundprinzipien fallweise ausser Kraft gesetzt oder ungeniert der eigenen Interessenlage angepasst – ganz nach dem Motto: Übernahmen? Kein Problem, solange wir selbst die Aufkäufer sind. Freihandel? Selbstverständlich, allerdings nur unter der Bedingung, dass unsere Eigeninteressen dabei nicht tangiert werden.

Kaum hat sich die Aufregung über das «Heuschrecken»-Diktum in Europa einigermassen gelegt, lassen die Übernahmepläne eines Stahlmagnaten aus Kalkutta die Emotionen abermals hochkochen. Um seinen Abwehrreflex gegen die als unfreundlich taxierte Avance von Lakshmi Mittal zu begründen, fiel dem Chef des luxemburgisch-französischen Stahlkonglomerats Arcelor, Guy Dollé, im ersten Moment nichts Triftigeres ein, als das Angebot des Inders aus «kulturellen» Gründen von sich zu weisen. «Die Inder sollten sich nicht täuschen», kommentierte die deutsche «WirtschaftsWoche». «Wenn sie die Spielregeln der Weltwirtschaft künftig stärker mitbestimmen wollen, werden sie mit erbittertem Widerstand zu rechnen haben. Wenn es hart auf hart kommt», prophezeit der Chefredaktor des Magazins, «kann auch der Westen ganz schön hässlich sein.»

Als sich der Basler Pharmagigant Novartis im Frühjahr 2004 anschickte, das Strassburger Konkurrenzunternehmen Aventis zu schlucken, klinkte sich der französische Premierminister in den Übernahmepoker ein und schlug den Baslern die Türe gleichsam vor der Nase zu. An Stelle von Novartis kam als Akquisiteur die mehrfach kleinere Sanofi-Synthélabo aus Paris zum Handkuss. Man bevorzuge einen «nationalen Champion», verlautete aus französischen Regierungskreisen. Ausserdem seien Impfstoffe aus den Aventis-Labors im Falle bio-terroristischer Attacken für die Grande Nation von «strategischer Bedeutung».

Ähnlich erging es dem amerikanischen Getränkemulti PepsiCo, als er Mitte letzten Jahres zur Übernahme des französischen Joghurt-Herstellers Danone ansetzte. Auch diesen Deal wusste die französische Regierung mit industriepolitischer Einflussnahme zu verhindern. Premierminister Dominique de Villepin nannte Danone ein «Kronjuwel» des Landes und versprach den einheimischen Joghurt-Essern, einen Verkauf der Firma ins Ausland «mit allen Mitteln» zu verhindern. In ihrem heimatschützerischen Eifer hat die Pariser Regierung in der Zwischenzeit nicht weniger als elf «sensible» Industriezweige identifiziert, in die sie per Vetorecht eingreifen kann, wann immer sie befürchtet, dass französische Interessen bei einer geplanten Übernahme auf dem Spiel stehen könnten. In Vorbereitung befindet sich zudem ein neues Gesetz, das französischen Firmen das Mischen von «Giftpillen» zur Abwehr unliebsamer Konkurrenten erleichtern soll.

Wo es um den Erhalt von nationalen Symbolen geht, kommt es auch in Italien zu neo-protektionistischer Kraftmeierei. «Kauft italienische Autos», wirbt der Turiner Fiat-Konzern und appelliert damit an das schlechte Gewissen seiner Landsleute. «Wenn wir ein deutsches Auto kaufen, bedanken sich die Deutschen.» Für Kopfschütteln im In- und Ausland sorgte im Herbst 2005 ein Korruptionsskandal, der das Vertrauen in die Unabhängigkeit der Römer Zentralbank aufs Empfindlichste erschütterte. Um ausländischen Wettbewerbern den Zugang zum italienischen Finanzmarkt zu erschweren, hatte Notenbank-Chef Antonio Fazio lokale Bankinstitute protegiert und mit illegalen Vorabinformationen versorgt, während Nicht-Italiener vergeblich auf die von ihm zu unterzeichnenden Genehmigungen warteten. Über Monate hinweg hatte der Mann, bei dem die Fäden der italienischen Bankenwelt zusammenliefen, auf diese Weise versucht, die drohende Übernahme der Banca Popolare Italiana (BPI) durch den holländischen Finanzkoloss ABN Amro zu vereiteln. Erst nachdem ein kompromittierendes Telefongespräch zwischen Fazio und dem mit ihm befreundeten Bankier den Weg in die Presse gefunden und die italienische Staatsanwaltschaft gegen Fazio zu ermitteln begonnen hatte, trat der fehlbare Heimatschützer im Dezember 2005 von der Spitze der italienischen Zentralbank zurück.

Die notwendigen Lehren aus dem Skandal scheint man im Bel Paese so schnell nicht ziehen zu wollen. Als publik wurde, dass die französische Grossbank BNP Paribas gedenkt, sich massgeblich an der Banca Nazionale del Lavoro zu beteiligen, hagelte es in Rom erneut national-konservative Proteste. Von einer «transalpinen Kolonisierung» war im Umfeld von Ministerpräsident Berlusconi die Rede, während die Opposition beklagte, dass der italienische Bankensektor, der zu den abgeschottetsten in ganz Europa zählt, nun offenbar Stück für Stück von ausländischen Mitbewerbern filetiert werde. Entrüstet zeigte man sich auch, als der französische Premierminister Villepin vor rund zwei Wochen die Fusion von Gaz de France mit der Suez-Gruppe ankündigte. In Rom wertet man den staatlich arrangierten Zusammenschluss ganz klar als protektionistisches Manöver. Von den Franzosen eilends inszeniert mit dem Ziel, einem Zugriff des führenden italienischen Elektrizitätskonzerns Enel auf die Suez-Gruppe zuvorzukommen. Der antimarktwirtschaftliche Furor der Franzosen drohe Europa «in die Zeit der Kaiser und Zaren» zurückzuwerfen, polterte der italienische Wirtschaftsminister Giulio Tremonti. Und er verglich die Ausgangslage mit der Situation im August des Jahres 1914: Niemand habe damals den Krieg gewollt, sagt Tremonti. Ausgebrochen sei er dann aber trotzdem.

Eine von nationalen Egoismen getriebene Politik, die nur auf die Wohlstandsmehrung im Inland abstellt – unter bewusster Inkaufnahme einer Schlechterstellung des Auslands –, hatte während der Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre Konjunktur. Ökonomen sprechen in diesem Fall von «beggar-my-neighbour policy». Zu Deutsch: Mach deinen Nachbarn zum Bettler! Wenn sich der Handelskommissar der EU, Peter Mandelson, dazu gedrängt sieht, den europäischen Politikern ins Gewissen zu reden und vor einer «Abkehr von der Öffnung» und «populistischen Tendenzen» zu warnen, so ist das vor diesem Hintergrund nur logisch. Seine Bergpredigt kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU-Kommission im Alltag immer wieder höchstselbst von ihrem liberalen Grundkonsens abweicht. Etwa, wenn es darum geht, lokale Anbieter vor Mitbewerbern aus Übersee zu schützen. Weil die vereinbarten Importquoten ausgeschöpft waren, liess die EU vor einem halben Jahr kurz entschlossen 87 Millionen Pullover, Hosen und Büstenhalter aus chinesischer Billigproduktion an ihrer Aussengrenze blockieren. Dabei handelt es sich im Urteil der «NZZ» bei mengenmässigen Importbeschränkungen um «die plumpste Art von Protektionismus».

Neuster Akt im handelspolitischen Schlagabtausch: Europa erwägt die Erhebung von Strafzöllen auf Schuhe aus China und aus Vietnam, die dank staatlicher Beihilfe zu Dumpingpreisen auf den Markt kommen. Weil solches zu den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) im Widerspruch steht, will die EU-Kommission ihre Einfuhrzölle in den kommenden Monaten schrittweise auf 19,4 Prozent für chinesische respektive 16,8 Prozent für vietnamesische Schuhe erhöhen. «Dass China natürliche Wettbewerbsvorteile hat, bestreiten wir nicht», sagt EU-Handelskommissar Peter Mandelson. «Aber unlauteren Wettbewerb können wir nicht hinnehmen.»

Nach den gescheiterten WTO-Konferenzen von Seattle (1999) und Cancún (2003) waren die Erwartungen im Vorfeld des letztjährigen Gipfeltreffens von Hongkong schon erheblich gedämpft worden. Tatsächlich blieb ein Durchbruch in zentralen Verhandlungsbereichen wie dem Agrardossier, bei den grenzüberschreitenden Dienstleistungen oder dem Umgang mit patentrechtlichen Fragen abermals aus, weshalb auch dieser handelspolitische Grossanlass als eigentliche Nullrunde in die Annalen eingehen dürfte. Wie schon bei früheren Anlässen machten auch im Dezember 2005 radikale Globalisierungsgegner gegen die WTO und deren Ziele mobil. Bei Strassenschlachten, die sie sich in Hongkong mit den lokalen Sicherheitskräften lieferten, wurden nach offiziellen Angaben 135 Personen verletzt. 900 Manifestanten wurden von der Polizei vorübergehend festgenommen.

Führt man sich vor Augen, wie verhärtet die Fronten in der Globalisierungsfrage sind, bleibt genügend Anlass zur Skepsis. Sollte es in den kommenden Monaten nicht gelingen, die Gespräche neu in Gang zu bringen, dürfte die laufende WTO-Runde vollends versanden. «Scheitert das Vorhaben, werden protektionistische Strömungen wieder Oberwasser gewinnen», warnte die Deutsche Bank schon vor der Hongkong-Konferenz in einer ihrer volkswirtschaftlichen Studien. «Danach sieht es derzeit aus.» Während die Suche nach multilateralen Lösungen im Rahmen der WTO seit geraumer Zeit blockiert ist, nehmen bilaterale Konflikte, Diskriminierungsvorwürfe und Vergeltungsaktionen zwischen den Staaten zu. Immer häufiger entfalten so genannte Anti-Dumping-Klagen und darauf abgestimmte Retorsionen ihren zweifelhaften Charme. Anti-Dumping-Vorwürfe lassen sich ebenso zielgerichtet wie flexibel gegen ganze Länder, Branchen oder einzelne Produzentengruppen richten und haben überdies den Vorteil, dass es in den meisten Fällen sehr schwierig ist, die erhobenen Dumpingvorwürfe empirisch zu untermauern.

Bei einem amerikanischen Aussenhandelsdefizit, das letztes Jahr allein im Austausch mit China die Schwelle von 200 Milliarden US-Dollar überschritten hat, überbieten sich amerikanische Politiker beider Parteien mit Vorschlägen, wie die boomenden Billigimporte aus dem Reich der Mitte – hauptsächlich Kleider, Spielwaren und Elektronikartikel – wohl am wirkungsvollsten einzudämmen sind. Im Mai 2005 sorgte der New Yorker Senator Charles Schumer mit seiner Forderung für Aufsehen, chinesische Einfuhren mit einem Strafzoll von 27,5 Prozent zu belegen. Dies für den Fall, dass Peking seine Landeswährung, den Yuan, nicht binnen eines halben Jahres aufwerte. Der Peitschenhieb – vom Senat mit 67 zu 33 Stimmen gebilligt – zeitigte Wirkung: Wochen später wertete China, wie von Washington dringlich angemahnt, den Yuan erstmalig um konziliante 2,1 Prozent auf. Nationalkonservative Kreise nutzen die allgemeine Verunsicherung und stilisieren den unaufhaltsamen Aufstieg Chinas zu einer ebenbürtigen Wirtschaftsmacht zur Schicksalsfrage für die Vereinigten Staaten empor. Wie schon im Fall der japanischen Weltmarktoffensive der achtziger Jahre warnen amerikanische Politiker auch heute wieder vor der «gelben Gefahr» und legitimieren damit ihre heimatschützerischen Forderungen.

Ein hohes, sich rasch vergrösserndes Aussenhandelsdefizit erwies sich in der Vergangenheit stets als ein verlässlicher Indikator für das Aufkommen marktfeindlicher Gesetzgebungen im amerikanischen Kongress. Persönlich halte er Protektionismus zwar nicht für den richtigen Weg, sagt der renommierte US-Ökonom und Handelsexperte Fred Bergsten: «Doch historisch gesehen war er der effektivste.» Drohgebärden wie die von Senator Schumer wirkten vielleicht etwas rabiat, seien aber «gar nicht so schlecht», verriet Bergsten der «Finanz und Wirtschaft» im Interview. Sie würden den «psychologischen Druck erhöhen», so Bergsten, was im Verhandlungspoker mit den Asiaten bereits die halbe Miete sei.

Mit ihrem wichtigsten Handelspartner, Kanada, liegen die Vereinigten Staaten bereits seit Jahren im Streit. Mit dem Argument, die Regierung in Ottawa bediene sich unrechtmässiger Subventionen, drängen amerikanische Holzkonzerne darauf, die steigenden Holzimporte aus Kanada einzudämmen. Seit 2002 werden diese von der amerikanischen Administration mit einer Anti-Dumping-Abgabe in Form eines 20-prozentigen Strafzolls belegt. Nach Auffassung der Amerikaner kompensiert dieser Aufschlag die versteckte Subventionierung der kanadischen Exporteure. Ottawa dreht den Spiess um und spricht von «Protektionismus», mit dem sich der mächtige Nachbar unliebsame Konkurrenz vom Hals halten wolle. Was die USA mit Blick auf die kanadischen Holzimporte betreiben, sei «Freihandel à la carte».

Auch im «Hinterhof der USA» nehmen die handelspolitischen Spannungen zu, wird der Ton bei Verhandlungen rauer. Endgültig vom Tisch sind Washingtons Pläne zur Errichtung einer All American Free Zone von Alaska bis Feuerland. Dem Versuch der amerikanischen Unterhändler, dem gesamten Doppelkontinent ihre Freihandelsagenda schmackhaft zu machen, erteilten die Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay im November 2005 eine Abfuhr. Mit ihrem selektiven Demokratieverständnis stösst die Bush-Administration südlich des Rio Grande bei einem Heer von Unterprivilegierten und Ausgebeuteten auf Ablehnung. Sei es in Ecuador, in Peru oder in Bolivien: Vielerorts regt sich heute links-nationalistischer Widerstand – getragen von Millionen von Arbeitslosen und Gestrandeten aus den überquellenden Vorstädten, radikalisierten Studenten, landlosen Bauern und zu neuem Selbstbewusstsein erwachten Indio-Gruppierungen. Auch wenn die Koalition der Unzufriedenen nur sehr bedingt auf wirtschaftspolitische Alternativen verweisen kann, scheint es unter ihnen doch einen Minimalkonsens darüber zu geben, was es zwecks Besserstellung der Systemopfer in Zukunft zu vermeiden gilt: blinde Deregulierung, Privatisierung von nationalen Schlüsselindustrien und Installierung einer von ausländischen Kapitalinteressen diktierten, die sozialen Probleme perpetuierenden Marktwirtschaft.

Noch gar nicht so lange ist es her, da genossen die lateinamerikanischen Staaten den Ruf von neoliberalen Musterschülern, wurden für den Abbau staatlicher Kontrollen, haushaltspolitische Disziplin und die Existenz einer unabhängigen Zentralbank gelobt. Spätestens seit der tiefen Krise in Argentinien und der Machtergreifung durch den Erznationalisten Hugo Chávez in Venezuela ist es damit vorbei. Chávez fährt einen prononciert antiamerikanischen Kurs und reklamiert die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines geeinten Lateinamerikas. Mit dem Indio Evo Morales hat unlängst auch in Bolivien, dem ärmsten südamerikanischen Land, ein wortgewaltiger Kritiker der Vereinigten Staaten das Ruder übernommen. Vom kubanischen Präsidenten Fidel Castro und von dessen antiimperialistischem Kampf fasziniert, stellt Morales seinen gebenedeiten Landsleuten nichts weniger als eine «Neugründung» Boliviens in Aussicht.

Der Washingtoner Konsens, mit dem die Vereinigten Staaten die internationale Staatengemeinschaft seit dem Zweiten Weltkrieg auf deregulierte Märkte und freie Kapitalbewegungen einschworen, sei daran, auseinander zu brechen, diagnostiziert Ha-Joon Chang, Ökonomieprofessor an der britischen Cambridge University. Und er steht mit dieser Ansicht in Fachkreisen nicht allein. Der frühere Chefökonom der Weltbank, Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, verweist etwa gern auf den Widerspruch, dass Länder wie China und Indien, die heute als leuchtende Beispiele gelten, sich bei ihrer ökonomischen Aufholjagd über weite Strecken eben gerade nicht an den Vorgaben des Washingtoner Konsenses orientiert hätten: «Während die lateinamerikanischen Länder die Doktrin des ‹Consensus› und des IWF übernahmen und ein Desaster erlebten», sagt Stiglitz, «verfolgten Indien und China ihren eigenen Weg – mit enormem Erfolg.»

Der in Cambridge, Grossbritannien, lehrende Koreaner Ha-Joon Chang regt in seinen Publikationen dazu an, die Aussenhandelstheorie von David Ricardo (1772–1823) in wichtigen Punkten zu relativieren. Statt Freihandel um jeden Preis empfiehlt Chang Ländern, die im Konkurrenzkampf zurückliegen, einen ihrem jeweiligen Entwicklungsstand angepassten Protektionismus. Nicht weil er damit Nationen wie Haiti, Nigeria oder Bangladesh ihrer wirtschaftlichen Perspektiven berauben will. Nein, weil die Länder, die im internationalen Handel heute den Ton angeben, ihre Industrien zu früherer Zeit ebenfalls mit Schutzzöllen und Subventionen zur Blüte gebracht hätten. «In Wirklichkeit haben die entwickelten Länder, als sie sich selbst noch in der Phase der Entwicklung befanden, keine einzige der politischen Strategien befolgt, die sie heute anempfehlen, schon gar nicht die viel gespriesene Freihandelspolitik», schreibt Chang in «Kicking Away the Ladder – Development Strategy in Historical Perspective» (siehe Literaturverzeichnis). Als Beleg für seinen Befund führt der Autor die asiatischen Export-Champions Japan und Südkorea an. Um auf dem Weltmarkt so stark und erfolgreich zu werden, wie sie es heute sind, hätten sich die betreffenden Länder in den vergangenen 50 Jahren nicht auf Rohstoffexporte beschränkt, sondern ganz gezielt ihre Jungindustrien geschützt (siehe dazu auch Interview «Ha-Joon Chang: Wer nicht daran glaubt, ist kein richtiger Ökonom»).

Wie ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt, war das Bekenntnis zum Freihandel selten mehr als ein Lippenbekenntnis. Die grösste Diskrepanz zwischen Mythos und Realität tritt ausgerechnet im Fall der angelsächsischen Länder zu Tage, die ihre führende Rolle im Globalisierungsprozess angeblich einem überdurchschnittlichen Vertrauen in das Spiel freier Marktkräfte verdanken. Das Gegenteil ist richtig: Über Jahrzehnte hinweg kultivierten die Angelsachsen ihre technologische Führungsposition hinter hohen, oftmals prohibitiven Zollmauern. Dass Grossbritannien schon immer ein Vorkämpfer des Freihandels gewesen sei, ist demnach nicht mehr als ein Ammenmärchen. In der Tat hat das Land bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine ausgesprochen dirigistische Politik verfolgt, um seine wichtigsten Industriezweige in ihrer Entwicklung zu begünstigen. Zum Arsenal protektionistischer Instrumente, welches damals zum Einsatz kam, gehörten alle möglichen Formen der Subventionierung, genauso wie spontan erhobene Schutzzölle oder staatliche Qualitätskontrollen für Exportwaren.

Erst mit der Aufhebung der Korngesetze von 1846 vollzog Grossbritannien die entscheidende Wende in Richtung Freihandel. Dieser Schritt wird bis heute als der endgültige Sieg der klassischen liberalen Wirtschaftslehre über kleinkariertes, merkantilistisches Denken gefeiert. Dabei lässt sich darin genauso gut eine Voraussetzung imperialistischen Machterhalts erkennen. Nach Auffassung des US-Ökonomen Charles Kindleberger bestand das vorrangige Ziel des britischen Freihandelsimperialismus nach 1846 denn auch darin, «den Fortschritt der Industrialisierung auf dem Kontinent aufzuhalten, indem der dortige Markt für Agrarprodukte und industrielle Rohstoffe angekurbelt wurde».

Der deutsche Ökonom Friedrich List (1789–1846) hatte als einer der Ersten auf die genannten Widersprüche aufmerksam gemacht. Deshalb gilt List als Vordenker einer Schulrichtung, der zufolge wirtschaftlich rückständige Länder in einer Umgebung aus entwickelten Ökonomien ihre aufstrebenden Industrien nicht ohne staatlichen Schutz gegen ausländische Konkurrenz entwickeln können. Die Hinwendung der Briten zum Freihandel Mitte des 19. Jahrhunderts verglich List mit dem Verhalten eines Mannes, der dem anderen die Leiter umstösst, ohne die er selbst nie fähig gewesen wäre, so hoch zu klettern.

Die erstmalige systematische Begründung staatlicher Industrieförderung geht indessen auf Alexander Hamilton (1757–1804) zurück, den ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten. In seinem «Report on Manufactures» stellte der Amerikaner klar, dass von einer wirklichen Unabhängigkeit der Neuenglandstaaten erst dann die Rede sein könne, wenn diese nicht mehr von Einfuhren aus dem ehemaligen Mutterland anhängig seien, sondern ihre eigenen Manufakturwaren herstellen würden. Hier tauchte zum ersten Mal das Argument eines «Erziehungszolls» im Sinne einer vorübergehenden protektionistischen Schutzmassnahme auf. Mit diesem Konzept kam Friedrich List erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Berührung, und zwar während seines Exils in den Vereinigten Staaten. Alexander Hamilton, auf den der Vorschlag zurückgeht, war damals nicht mehr am Leben.
Von 1830 bis 1945 lagen die Zolltarife für industrielle Fertigwaren in den USA auf einem Niveau, das zu den weltweit höchsten gehörte. Auf Grund ihrer Lage zwischen zwei Weltmeeren und der seinerzeit hohen Transportkosten erfreute sich die aufstrebende Wirtschaftsnation zusätzlich einer starken «natürlichen» Protektion. Unter Berücksichtigung beider Faktoren, sagt Professor Ha-Joon Chang, könne man schliessen, «dass die US-amerikanische Industrie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die weltweit bestgeschützteste war». Erst nach dem Krieg, als die Amerikaner auf dem Weltmarkt eine unbestrittene Vormachtstellung erlangt hatten, bauten sie die rekordhohe Zollmauer ab, liberalisierten ihre Beziehungen und begannen sich auch im Ausland für den Freihandel stark zu machen. Damit habe sich Lists Metapher von der umgestossenen Leiter «ein zweites Mal bestätigt», sagt Chang.

Dass die Amerikaner sich in diesem Punkt nichts vormachten, belegt ein Zitat von General Ulysses S. Grant (1822–1885), dem Helden des Sezessionskriegs und späteren US-Präsidenten: «Über Jahrhunderte hinweg hat England auf die Protektion seiner eigenen Wirtschaft gesetzt, dieses Prinzip zu äusserster Konsequenz getrieben und damit befriedigende Ergebnisse erzielen können. Ohne Zweifel verdankt England seine gegenwärtige Stärke ebendiesem System. Nach 200 Jahren dann schien es England genehm, das Prinzip des Freihandels zu übernehmen, weil es sich von der Protektion nichts mehr versprach. Nun denn, verehrte Herrschaften, was ich über mein eigenes Land weiss, bringt mich zu der Überzeugung, dass auch Amerika in 200 Jahren, wenn es von der Protektion alles bekommen hat, was sie bietet, das System des Freihandels übernehmen wird.»

Noam Chomsky, Professor für Linguistik am MIT in Boston, geht in seiner Analyse noch einen Schritt weiter. In seinem Bestseller «Profit over People» argumentiert der bekannte Systemkritiker, dass Protektionismus nach innen, bei gleichzeitiger Schädigung ausländischer Märkte, die eigentliche Rationalität einer so genannt freien Marktwirtschaft bilde. Anhand konkreter Beispiele aus der Geschichte des Welthandels kommt auch Chomsky zum Schluss: «Nach 150 Jahren Protektionismus und Gewalt waren die USA zum reichsten und mächtigsten Land der Erde geworden.» Folgt man dieser Interpretation, wurden die Länder der Dritten Welt von den Industriestaaten zur Liberalisierung gezwungen. «Geschafft haben es die, die über einen machtvollen Staat verfügen, die die Freihandelsregeln durch Protektionismus verletzten und sich fremde Technologien liehen», schreibt der viel zitierte Autor. «Heute würde man das Produktepiraterie nennen.»

Nur schlecht konnte man sich zwischen New York und Los Angeles mit der Idee anfreunden, dass sechs amerikanische Containerhäfen von einer Firma betrieben werden sollten, die ihren Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten hat. Diffuse Befürchtungen stiegen auf. Und schon legten sich die Republikaner im amerikanischen Kongress hinsichtlich eines Verkaufs der fraglichen Verladestationen an die Firma Dubai Ports quer. Legitimer Heimatschutz? Übertriebenes Sicherheitsdenken? Oder nur ein weiterer Beleg für die Rückkehr des Protektionismus? «Imagine no possessions», hatte John Lennon vor 35 Jahren getextet. Und skeptisch hinzugesetzt: «I wonder if you can.» Die Realität zu Beginn des dritten Jahrtausends sieht anders aus: Auge um Auge, Zahn um Zahn, scheint im Zeitalter der Globalisierung zu einem traurigen Leitmotiv im Verhältnis zwischen den Staaten zu werden. Der Kampf um die knapper werdenden Ressourcen verschärft sich. Und die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen, lassen nur wenig Raum für Fantastereien.

Literatur

Bhagwati, Jagdish: Protectionism. Cambridge, Mass., 1985.

Chang, Ha-Joon: Kicking Away the Ladder – Development Strategy in Historical Perspective. 4. Auflage. London 2005.

Chomsky, Noam: Profit over People – Neoliberalismus und globale Weltordnung. Wien 2000.

Ricardo, David: On the Principles of Political Economy and Taxation. 1817.