Man merkt es Andreas Seibert kaum an, aber der schmächtige Mann ist nicht nur einer der bekanntesten Schweizer Reportagefotografen – er ist auch ein zäher Ringer: Für seine Fotos geht er mit den Motiven bis in die letzte Runde. «Wenn man in China ist und nur noch dreissig Filme dabeihat, dann überlegt man sich genau, was man fotografieren will», sagt der Träger des Hans-Erni-Preises 2013.

Der schnelle Schuss – das reflexartige Zielen und Abdrücken – ist überhaupt nicht seine Welt. Und Displays an Digitalkameras? So etwas lenke ihn nur ab. Nein, mit Pixeln und Bytes kann sich Seibert nicht anfreunden: «Die Digitalfotografie hat für mich etwas Sauberes und Künstliches. Das nervt die Leute doch mittlerweile. Analoge Aufnahmen sind organisch, körnig, unscharf, kratzig, staubig. Und es ist vielleicht gerade dieses Unfertige und Unperfekte, das fasziniert.»

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Ladenhüter

Fotografieren mit Film statt Speicherkarte: Gehört man damit zu den Ewiggestrigen? Analoge Apparate bekommt man fast nur noch gebraucht. Der japanische Kamerahersteller Nikon hat zwar noch eine Spiegelreflexkamera im Sortiment, das einstige Flaggschiff F6, doch das knapp ein Kilogramm schwere Gehäuse kaufe heute kaum noch jemand, sagt Björn Thiele von Nikon in Düsseldorf.

Selbst bei Leica im hessischen Solms, deren M-Modell der Inbegriff der klassischen Reportagekamera ist – mit der auch Seibert fotografiert –, baut nur noch fünf Prozent der Gesamtproduktion für analoge Fotografie, wie Stefan Daniel, Leiter des Produktmanagements, ausführt. «Wenn Sie nicht gerade im eisigen Sibirien unterwegs sind, gibt es heute keinen Grund mehr, analog zu fotografieren.»

Was vor zwanzig Jahren noch Analogjünger und Digitalanhänger zum Glaubenskrieg rief, scheint mittlerweile zum Scharmützel zwischen Fortschrittsgläubigen und Nostalgikern geschrumpft zu sein. Der Kampf zwischen Silberionen und Megapixeln ist längst entschieden. Trotzdem: Die letzten Zelluloid-Schnipsel sollte man nicht voreilig vom Tisch wischen.

Profifotograf Seibert ist nicht alleine mit seinem Faible fürs Unperfekte. Wieso sonst werden Computerprogramme immer beliebter, welche die Pixelbilder zu Aufnahmen modulieren, die direkt aus alten Instamatic- oder Polaroid-Kameras stammen könnten? 150 Millionen Menschen nutzen die Instagramm-App. Und die Macher von Hipstamatic werben: «Digitale Fotografie sah noch nie so analog aus.»

Genau in diesem Retrotrend sieht die Fotoindustrie eine lukrative Nische. «Der Grossvater fotografierte doch auch schon mit so einer Kamera. Und die Bilder sahen gut aus», erklärt Nils Häussler von Olympus in Deutschland die Logik. Vor fünfeinhalb Jahren stellte sein Unternehmen die digitale Pen Series nach einem Design von 1959 vor. Ein Jahr später präsentierte Fujifilm die X100 und dann die Pro 1 – Digitalkameras, deren Formen sich an Sucherkameras des vergangenen Jahrhunderts orientieren. Ende 2013 sorgte Nikon für Aufsehen mit der Df, einer digitalen Version der Nikon-F-Kamera, die von 1959 bis 1973 produziert wurde. Ihre Ausstattung: keine Videofunktion, dafür aus dem Vollen gefräste Hebel und gravierte Schalter sowie die Möglichkeit, Objektive von 1977 zu verwenden. Passend dazu kann man mit dem Picture Control Program bei Nikon oder dem Filmarten-Wähler bei Fujifilm die Eigenschaften alter Analogfilme simulieren.

Rennen

Seit Louis Daguerre vor 175 Jahren seine Daguerreotypie in der Pariser Akademie der Wissenschaften vorstellte, geht es um das perfekte Bild. Lange Zeit war es ein Rennen um Körnung, Emulsionen und Entwicklung, in dem sich vor allem die amerikanische Eastman Kodak Company und die japanische Fujifilm Corporation gegenseitig den Rang abliefen. Nicht einmal vor waffenfähigem Uran wurde haltgemacht: Dreissig Jahre lang untersuchten Wissenschaftler im Keller von Kodak Chemikalien mit einem Nuklearreaktor auf Unreinheiten, um ihrem Slogan aus den fünfziger Jahren gerecht zu werden: «Sie machen das Foto, wir machen den Rest.»

Was die Computertechnologie für dieses Versprechen bedeuten würde, davon hatte Steven Sasson Mitte der siebziger Jahre keine Ahnung. Damals entwickelte der Ingenieur für Kodak Bildsensoren. Wie ein Diaprojektor mit angehängten Blockbatterien und Kassettenspieler sah der Apparat aus, mit dem er nach einem Jahr Entwicklungszeit das erste Bild knipste. Quälende 23 Sekunden benötigte das Porträt einer Kollegin, bis es vom Sensor in elektronische Signale umgewandelt und auf einer Musikkassette gespeichert war. Und dann nochmals eine halbe Minute in einem Wiedergabegerät, bis ein Bild auf dem Bildschirm erschien. Was Sasson schliesslich sah, war ein Schattenriss vor weissem Hintergrund. Er musste sich spöttische Kommentare anhören, dass da wohl noch einiges zu tun sei. Aber es war die Geburt der Digitalkamera im Dezember 1975.

Zauberworte. Und heute, 39 Jahre später? «Wissen Sie, warum es so viele Kochshows im Fernsehen gibt?», fragt Nils Häussler von Olympus – und schiebt die Antwort gleich selber nach: «Dahinter steckt die einfache Botschaft, dass jeder kochen kann.» Das wollen die Hersteller auch für die Fotografie umsetzen: «Niemand muss heute noch einen Volkshochschulkurs belegen, um fotografieren zu lernen.» Fünfachsige Bildstabilisierung, automatischer Weissabgleich, Autofokusnachführung und Motivwahlprogramme sind die magischen Worte, die aus jeder noch so stümperhaften Aufnahme veritable Bilder zaubern, die man sofort auf dem Kameradisplay ansehen – und gleich wieder löschen kann. Der Kodak-Slogan hat sich geändert: Sie machen das Foto, die Kamera macht den Rest.

Dieser «Kochshow-Effekt» in der Fotografie definiert den Wert eines Bildes neu. Olympus hat in einer Studie untersucht, was Kamerabesitzer heute mit ihren Fotos machen. Zahlen will Häussler nicht nennen, aber «ein erschreckend grosser Prozentsatz der Leute lädt die Fotos noch nicht einmal auf den Computer herunter. Vom Ausdrucken ganz zu schweigen.» Bild perfekt, Zauber weg? Gerade vor und hinter der Kamera ging es immer um Egos und um Emotionen, um Ekstase und um Ängste. Ist das Digitalfoto der Tod der Leidenschaft?

Die Fotoindustrie scheint mit ihren Entwicklungen über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Seit 2010 befindet sie sich wirtschaftlich auf Talfahrt: Die Verkäufe von Digitalkameras sanken allein in den ersten drei Quartalen 2013 weltweit um 17 Prozent. In der Schweiz rechnet das Marktforschungsinstitut GfK für 2014 mit Einbussen von über acht Prozent.

Dies alles, obwohl noch nie so viel geknipst wurde wie heute. Rund 2000 Auslösungen prognostiziert der Photoindustrie-Verband allein für Deutschland – pro Sekunde! Dass die meisten davon mit Smartphones gemacht werden, stört Verbandschef Christoph Thomas nicht. Hauptsache, es werde fotografiert.

Der Retrotrend aber kommt für die Fotoindustrie gerade recht. Er ist lukrativ: Die Nikon Df etwa kostet rund 3500 Franken mit Objektiv, die Olympus rund 2000 Franken. Solche Kameras verleihen dem Besitzer die Aura eines Henri Cartier-Bresson oder Robert Capa und unterscheiden diesen vom schnöden Smartphone-Knipser. Mit ihnen wird Fotografieren beinahe wieder so wie damals.

Augenblick

Unser Verhältnis zum Foto aber habe die Digitaltechnik verändert, davon ist Erfinder Sasson überzeugt. In einem Interview vor fünf Jahren erzählte er, wie seine Tochter und ihre Freundinnen nach einem Konzert aufgeregt Fotos auf ihren Smartphones anschauten. «Durch die Bilder haben die Mädchen das Konzert zum zweiten Mal erlebt», sagte er und schlussfolgerte: «Meine Eltern oder ich machen Fotos, um uns in ferner Zukunft zu erinnern. Meine Kinder machen die Bilder vor allem für den Augenblick. Um ihn zu teilen. Sie nutzen sie so, wie wir Worte nutzen.»

Einen intellektuellen Spagat muss niemand machen zwischen analoger und digitaler Fotografie. Der Umgang eines Fotografen wie Andreas Seibert mit seinem Motiv ist ein völlig anderer als der eines Hobby-Knipsers. Profi Seibert etwa stört die moderne Technik. «Auch wenn die Werbung verspricht, dass Fotografen mit den neuen Kameras noch freier sind im Umgang mit ihren Motiven, so stimmt das nur in der Theorie. Denn dem Blick auf das Display kann sich niemand entziehen.» Leica-Entwickler Daniel hält dagegen: «Sie können ein Display auch abschalten.» Die digitalen M-Kameras funktionieren prinzipiell gleich wie die alten Leicas. Recht haben beide.

Zwar ist die Magie der Filmentwicklung der Allmacht des Computers gewichen, zwar haben sich die technischen Möglichkeiten verändert – aber wenn es um die reine Qualität eines Bildes geht, sollte man nicht nur fragen, ob analog oder digital das bessere Format sei. Wer über Rauschverhalten diskutiert, über Moire-Effekte und das Italian-Flag-Syndrom, sollte etwas anderes beachten: Der Sucher einer Leica M etwa – gleich ob digital oder analog – besteht aus über 150 Teilen. Bei starken Erschütterungen kann er sich verstellen und sowohl bei digitalen als auch analogen Fotos zu Unschärfe führen. Kaum jemand lässt sein Equipment regelmässig prüfen, Toleranzen ausgleichen und Objektive exakt auf die eigene Kamera justieren.

Durchdenken

Minimalste Abweichungen können grosse Auswirkungen haben, etwa beim digitalen Mittelformat: «Bei 80 Millionen Pixeln sehen Sie wirklich alles», sagt Ralph Rosenbauer vom kleinen Zürcher Kamerahersteller Alpa (siehe «Das neue Leben einer Legende» unten). Nirgends wird das Beste aus beiden Welten effektiver verschmolzen als im Modulsystem dieser Firma. Analoge oder digitale Rückwand, Linsensucher oder iPhone-App, elektronisch gesteuerter Schlitzverschluss oder mechanischer Objektivverschluss – alles kann miteinander kombiniert werden. Nur eines bleibe immer gleich, sagt Rosenbauer und rollt ein meterlanges Bild des Fotografen Adam Mørk aus. Darauf sieht das Aquarium The Blue Planet in Kopenhagen aus wie ein Ufo: «Theoretisch könnten Sie dieses Bild auch mit einer digitalen Kamera fotografieren» – er hält einen Spiegelreflexapparat mit einer Hand in die Höhe, drückt den Auslöser, und der Verschluss rattert los wie ein Maschinengewehr –, «aber Sie werden es nicht tun.» Er steht auf und baut eine Alpa zusammen: erst den Rahmen mit Griff, dann den Sucher, das Objektiv, die Shift-Einheit und die Digitalkassette. «Schon die Auswahl und der Aufbau einer Alpa benötigen Zeit. Das zwingt von vornherein zum genauen Durchdenken der Aufnahme.»

Wer will, dem gibt die heutige Technik einen ganz neuen Horizont von Möglichkeiten. Wer nicht will, der muss vielleicht bald anfangen zu sammeln: Kodak stellt seit 2012 keine Diafilme mehr her. Der hochempfindliche Schwarzweissfilm T-Max 3200 ist auch vom Markt. Und Fujifilm will dieses Jahr die Preise für Filme erhöhen. Selbst Fotograf Seibert sinniert: «Digitalfotografie hat mir nie gefallen. Aber vielleicht braucht es dazu einfach noch Zeit.»

 

Das neue Leben einer Legende
Die feinsten und edelsten Retrokameras stammen aus Zürich: Alpa – die 35-Millimeter-Ikone ist zu neuer Grösse gewachsen.

Exzellente Schweizer Kameratechnik, eine Benutzerliste wie das Who is who der Fotografenszene, ein prämiertes Modulkonzept, kompakt genug für Reportagen, präzise genug für Gletscher- und Staudammvermessungen: Das alles steht für Alpa. Der Name geht zurück auf eine 35-Millimeter-Spiegelreflexkamera, die von 1942 bis 1990 von der Firma Pignons gebaut wurde. Seit 1996 füllt das Ehepaar Capaul-Weber in Zürich den Markennamen mit einem ausgefeilten Modulkonzept, das sich für jedes Sujet anders kombinieren lässt. Von der Digital- bis zur Analogaufnahme ist mit Präzisionsverschlüssen, Shift-Adapter und einem iPhone als elektronischem Sucher alles möglich. Firmen wie Zeiss, Rodenstock und für die Gehäusetechnik Seitz Phototechnik in Lustdorf TG liefern die Komponenten für Alpa of Switzerland.