Ein neueres Phänomen sind luxuriöse Markenartikel.» So räsoniert der feinsinnige äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate in «Manieren», seinem wunderbaren Buch. «Eigentlich ein Widerspruch in sich», führt er aus. Denn das Luxuriöse müsse doch im Grunde «das Einzigartige, auf Mass Gemachte, nach Entwurf eigens Gearbeitete sein, und das kann und will eine Marke nicht leisten».

Doch was für herkömmliche Konsumartikel einleuchtet, mag man für Herrenschuhe nur mit Einschränkung gelten lassen. Denn auch konfektionierte Herrenschuhe etablierter Traditionsmarken darf man mit Fug und Recht dem Luxus zurechnen. Was als Luxus bezeichnet wird, ist ohnehin von jeher eine Frage der Zeitumstände, der jeweiligen Perspektive und der geltenden Werte gewesen. In Zeiten, in denen sich politische und gesellschaftliche Systeme schnell verändern und Gewissheiten sowie Verbindlichkeiten dahinbröseln, liegt es nahe, Luxus zeitgemäss zu fassen – leiser, weiser, introvertierter.

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Für Schuhe bedeutet dies, dass ein stolzer Preis und vordergründige Extravaganz heute nicht mehr die wichtigsten Kriterien darstellen. Ein Detail dagegen ist und bleibt entscheidend: der Leisten. Die rahmengenähte Machart ist für einen besseren Herrenschuh nicht alles, aber ohne sie ist alles andere nichts. In einer Zeit, in der mehr als neunzig Prozent der Sohlen, die inzwischen zumeist aus Kunststoff bestehen, durch Kleben, Vulkanisieren oder so genanntes Direktanspritzen am Schuh befestigt werden, besitzen Schuhe, deren Sohlen am Oberteil angenäht werden, etwas Besonderes. Dies betrifft nicht nur ihr handwerkliches, formal konservatives Aussehen, das man mit «Business-Schuh» umschreibt, sondern auch ihren hohen Komfort. Anders als bei billiger produzierten Schuhen, bei denen das Obermaterial bricht und das Sohlenpolster bröckelt, ist solcher Komfort dank raffinierter Rahmenkonstruktion und den hochwertigen Materialien kein kurzes Vergnügen für eine Saison.

Dennoch lassen sich die Vorzüge rahmengenähter Schuhe nicht restlos in rationalen Kategorien rechtfertigen. Ihre aufwändige Herstellung kann man sogar als unzeitgemäss bezeichnen. Und punkto Langlebigkeit und Belastbarkeit sind sie, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, den geklebten Modellen nur bei entsprechender Wartung und Pflege überlegen. Was also macht sie so begehrenswert?

Durch ihre Fähigkeit, dank den hochwertigen Materialien schön zu altern – im Wesentlichen bestehen diese Materialien aus Leder und atmendem elastischem Korkschrot im Sohlenbereich –, fordern sie zu langem Gebrauch heraus. Eine mittlere Tragedauer von fünf bis acht, in gewissen Fällen sogar bis zu zehn Jahren ist normal. Durch die Gewöhnung an diesen dienstbaren Gebrauchsgegenstand wird jede Wegwerfmentalität im Keim erstickt. Massschuhe leben tendenziell sogar noch länger: Zum einen spielen Schuh und Fuss hier optimal zusammen, wodurch Materialermüdung und Verschleiss auf ein Minimum reduziert werden. Zum anderen altert Masskleidung, verglichen mit Konfektion, auch ästhetisch langsamer. Dies rührt daher, dass sich modische Empfehlungen bei der Gestaltung den individuellen Proportionen unterordnen. Das wird im europäischen Kulturraum als klassisch und im doppelten Wortsinn als passend empfunden.

Der gebürtige Ungar Lajos Balint, der mit seinem Laden in Wien unweit vom Stephansdom residiert, ist in den letzten fünfzehn Jahren neben den alteingesessenen Wiener Massschuhmachern Scheer und Materna eine der ersten Adressen für handgearbeitetes Schuhwerk in Wien geworden. Eine achtenswerte Leistung für einen Newcomer in einer Stadt, die seit ihrer glänzenden Zeit als Metropole der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie eine Dichte an Schuhmacherwerkstätten aufzuweisen hat wie keine andere in Europa. Seine Klientel ist denn auch erlesen: Politiker, Anwälte, namhafte Ärzte und sogar der Hochadel zählen dazu. Aber auch Literaten und Künstler, etwa der Sänger Max Raabe, finden den Weg zu ihm. «Sie zeigen, dass sie dieses Handwerk lieben und stolz sind, unsere Schuhe zu tragen.» Nachdrücklich fügt Balint hinzu: «Und darauf sind wir stolz.»

Über 2000 Euro müssen Balint-Erstkunden zahlen. Für Österreicher sei er inzwischen zu teuer, sagt er selber: «Achtzig Prozent unserer Kunden kommen aus dem Ausland, aus Europa, aber auch aus dem Fernen Osten.» Die Asiaten sind in verschiedener Hinsicht eine Herausforderung für ihn: «Diese Menschen haben wesentlich zartere Füsse als die Europäer.» Da gerade die Japaner auch zu den farben- und experimentierfreudigsten Kunden gehören, werde er immer wieder vor neue Aufgaben bei der Modellentwicklung gestellt.

Zwei Talente haben Balints Ruf massgeblich begründet. Zum einen gelingt es ihm, die Sohlenpartie seiner Schuhe derart kunstvoll zu verarbeiten, dass diese so verblüffend schlank gebaut sind wie sonst nur geklebte. Zum anderen widmet er der anatomisch richtigen Gestaltung des Leistens die grösste Aufmerksamkeit. Als Abbild des Fusses füllt dieser bei der Fertigung den Schuh aus und gibt ihm so seine Form. Dafür müssen die Masse deutlich vom Fuss abweichen. In solcherart wissenschaftlich fundierter Interpretation beweist der Massschuhmacher sein Können, das seine Erzeugnisse über die Durchschnittsformen selbst bester Markenkonfektion hebt.

«Jeder will einen bequemen und angenehmen Schuh», weiss Balint. «Aber einen Schnitt nach der natürlichen Fussform akzeptieren die allerwenigsten. Ich habe sehr viele Kunden mit Fussproblemen, die ihren Orthopäden davongelaufen sind.» Bei diesem Balanceakt zwischen Eleganz und Ergonomie kommt Balint sein Wissen aus der Orthopädie zugute, das er in die Modellgestaltung einfliessen lässt. Dies ist, so seltsam es klingen mag, selbst unter Massschuhmachern der ersten Garde Europas keineswegs selbstverständlich.

In der mittelenglischen Stadt Northampton produzieren seit rund hundert Jahren ein halbes Dutzend alte Schuhfabriken. Auch wenn inzwischen einige der renommiertesten Marken wie etwa Church und Edward Green den Besitzer gewechselt haben, behalten die Schuhe ihre typische Qualität und ihr vertrautes englisches Gepräge, weil unverändert vor Ort auf den alten Maschinen und mit eingespieltem Personal gefertigt wird. So zeigen Schuhe der Marke Crockett & Jones eine unverwechselbare urbane Eleganz. Grenson überrascht periodisch mit einem Flirt mit der Mode, während Trickers es versteht, traditionelle Stile über Jahre hinweg hartnäckig unverändert von Kollektion zu Kollektion zu tragen, bis sie für den Zeitgeschmack einen aparten Schlag ins Exzentrische besitzen.

Etwas Vergleichbares wie Northampton sucht man heute weltweit vergebens, nachdem andernorts die Maschinen zum Rahmennähen zumeist schon vor Jahrzehnten ausrangiert worden sind.

Aus den USA verdient immerhin die Pferdeleder-Kultmarke Alden Erwähnung, die vor knapp hundert Jahren von einem europäischen Emigranten gegründet wurde. Ebenso Allen-Edmonds, der Ausstatter der US-Olympiamannschaft. In der Schweiz ereilte den Rahmennäher Elgg das Schicksal vieler anspruchsvoller Produkte, die den rabiaten Marktgepflogenheiten nicht gewachsen waren, während die Traditionsmarke Bally bis heute ihre kleine rahmengenähte Linie Scribe an den Mann zu bringen versteht. Auch aus Italien und Holland kommt noch Genähtes. Erstaunlicherweise hat in Österreich mit Ludwig Reiter nur eine namhafte Marke für traditionelles Schuhwerk überlebt, während in Frankreich neben dem Luxuslabel Hermès und seiner zeitweilig in Northampton produzierten Linie John Lobb bis heute Entsprechendes auch aus den Häusern Weston, Hardridge, Cordonnerie Anglaise, Paraboot und Heschung zu haben ist.

Peter E. Meier, Inhaber von Deutschlands ältestem Schuhhaus in München, hat sich nach anfänglich breiterer Sortierung inzwischen ganz auf die eigene Linie Peduform konzentriert. Es sind klassische Goodyear-Modelle mit asymmetrischen Fussformleisten, die dank mehreren Weiten pro Grösse besonders fussfreundlich und passgerecht sind. Handeingestochene, also von Hand rahmengenähte Schuhe der Luxuslinie Red Tongue runden seit ein paar Jahren für stolze 1000 Euro pro Paar das Angebot ab.

Stilistisch reicht es in Meiers Schuhhaus von Schottland bis zum Grossglockner, vom sportlich-eleganten Straight Tip Oxford in crème- und terracottafarbenem Boxkalbleder bis zum schlanken, rabenschwarzen Allgäuer Haferlschuh, dem bayrischen Original für Jäger und Wanderer, Kenner und Liebhaber. Der Traditionsschuh wird nicht rahmen-, sondern zwiegenäht, eine ähnlich aufwändige Sohlenbefestigung, bei welcher der Schaft durch zwei sichtbare Nähte mit der Schuhsohle verbunden wird.

Schuhkultur, so die Philosophie des Hauses, veredelt das Leben, benötigt zu ihrer Vollendung aber die Mitwirkung des Trägers. «Ich sehe das Besondere bei Herrenschuhen im unauffälligen Besonderssein», erklärt Peter E. Meier und fügt hinzu: «Das geschulte Auge erkennt natürlich die besondere Form, die über Generationen verfeinerte klassische Gestaltung und das, was der Träger der Schuhe daraus macht – den äusseren Zustand, der ohne das positive und gekonnte Zutun des Trägers nicht so wäre.»

Seit neuerdings so genannte Benimmschulen in Mode sind, ist wieder öfter von einem komplexen Dresscode die Rede. Dieser, heisst es, diktiere minutiös, welche Kleidung und welcher Schuh wann und wo «comme il faut», wann dagegen ein grässlicher Fauxpas seien. Mögen kategorische Empfehlungen im Stil von «no brown after six» oder «no brown in town» vor Zeiten tatsächlich einmal eine Hilfestellung für unentschlossene Grübler vor dem Schuhschrank gewesen sein, so vermag diese rigide Form des Besserwissens heute nicht mehr wirklich zu überzeugen.

Betrachtet man das historische Werden dieser Regeln, so wird man erkennen, dass sie nur in zweiter Linie dem Vermeiden von Geschmackssünden dienen. In erster Linie sind sie dazu da, den Menschen eine Art Verkehrsregeln in die Hand zu geben, die dabei helfen, in der Symbolsprache der Kleidung Missverständnisse zu vermeiden, und die Orientierung erleichtern.

Seit durch zunehmende Internationalisierung der Gesellschaften Gemeinsamkeiten und Verbindlichkeiten aller Art nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden können, wird es jedoch Zeit, auch die Verkehrsregeln zu überdenken. Allein die Vorstellungen, die wir mit Farben und Formen verbinden, weichen von Kulturkreis zu Kulturkreis stark voneinander ab. So wird etwa ein japanischer Geschäftsmann, in dessen Land der Kimono über Jahrhunderte eine zentrale Rolle gespielt hat, unter einem Massanzug und passendem Sitz naturgemäss etwas anderes verstehen als ein Europäer. Welche Aufmerksamkeit hierzulande ein Herrenschneider allein der richtigen Form, Position und Grösse des Armlochs schenkt, dürfte von dem japanischen Geschäftsmann spontan kaum nachvollziehbar sein.

Doch worauf kommt es wirklich an? Zwei Empfehlungen helfen weiter:
1. Qualität, auch bei Schuhen, hat klassen-, gesellschafts- und kulturübergreifend eine positive Botschaft. Indem sie Wertschätzung von Arbeit und Material zum Ausdruck bringt, bezeugt sie auch Respekt vor dem Menschen. Je wertvoller die Treter sind, im Idealfall hand- und massgemacht, umso weniger kann ihr Träger darin das Gebot der Höflichkeit, das allen Benimm- und Kleiderregeln zu Grunde liegt, verletzen.

2. Es ist erstrebenswert, den eigenen Typus zu verkörpern. Je authentischer ein Auftritt ist, umso glaubwürdiger wirkt die Persönlichkeit. Kleidung und Schuhe passen zu ihrem Träger, wenn sie auf seinen Körperbau abgestimmt sind und dazu selbstbewusst seine kulturelle Herkunft und Erziehung abbilden.

Die weitere Feinabstimmung, für die zwischen formellen und sportlichen Schuhen zu wählen ist, ergibt sich dann fast von selbst:

– Formelle Anlässe erforden glatte schwarze Schnürschuhe. Der universelle Klassiker ist der Oxford. Mit dem geschlossenen Blattschnitt ist er etwas förmlicher als der glatte Derby, dessen Quartiere – die Schaftteile im Mittelfussbereich, welche die Löcher für die Schnürung tragen – sich weiter öffnen lassen. Als Faustregel gilt: je offizieller der Anlass, desto glatter der Schnürschuh, desto dunkler und glänzender sein Leder. Ausnahme: Der tief ausgeschnittene Frackschuh Escarpin wird nicht geschnürt.

– Sportlich, also informell, sind alle Loafers und die Modelle mit Lochmuster (Budapester, Brogue) oder dekorativer Naht (Norweger), dazu selbstverständlich alle Schuhe, die nicht den ganzen Fuss bedecken, zum Beispiel Pantoffeln oder Sandalen. Strukturierte, geprägte, raue und matte Leder, alle Arten von Farb- und Materialkombinationen sowie Profil- und Gummisohlen bleiben ebenfalls für die Freizeit reserviert.

Blickt man auf die grassierende Turnschuhmode, so ist diese nicht etwa deshalb zu bedauern, weil sie gegen die eine oder die andere Regel verstossen würde, sondern weil ihre Träger damit zum Ausdruck bringen, dass ihnen ihre Umwelt schnuppe ist. Prinz Asserate jedenfalls, der bereits zitierte Autor des Buches «Manieren», betrachtet diese globale Uniformierung als «einen kolossalen Verlust von Vielfalt, Tradition und Identität». Muss man etwa Schweizer sein, um die Alpen zu lieben, und Alpenanrainer, um regionalen Traditionsschuhen etwas abzugewinnen? Prinz Asserate zeigt wenig Berührungsängste: «Der bayrische Haferlschuh erscheint mir als eine Art Urschuh. Ich habe ihn sofort gemocht, als ich ihn bei deutschen Freunden zuerst gesehen habe. Seither trage ich ihn selbst gerne, meist zum schweren Tweedanzug und natürlich immer auf dem Land.» Kann man souveräner Klischees ignorieren und zugleich Persönlichkeit bewahren?