Via Bartolini ist keine besonders edle Adresse in Florenz: eine kurze Gasse im Handwerkerviertel San Frediano jenseits des Arno – und somit auf jener Flussseite, die von Touristen nicht so gnadenlos in Beschlag genommen wird. Haus Nummer vier steht in einem verwunschenen Hof, im Sommer blühen dort die Glyzinien.

Ein schweres Eisentor hält Neugierige davon ab, dem rhythmischen Klappern nachzugehen, das mal mehr, mal weniger laut bis auf die Strasse schallt. Wer eintreten möchte, kann die altertümlich wirkende Glocke läuten, die an der Mauer neben dem Tor angebracht ist. Dazu muss die blau-goldene Kordel gezogen werden, die in diesem Eingang irgendwie unpassend wirkt. Sie glänzt wie frisch gewaschen und fühlt sich an wie reine Seide.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Es ist reine Seide, hergestellt in einer weitläufigen und hohen Halle hinter dem Eisentor. Dort, wo das Geklapper am lautesten ist, steht Marina Calamai. Sie bedient ein Zahnrad, das aussieht wie aus früheren Jahrhunderten. Die Kordel, die sich quer durch den Raum, durch eine offene Tür bis an die Wand des dahinter liegenden Zimmers zieht, ist karminrot und 20 Meter lang. 700-mal, sagt Signora Calamai, muss sie um sich selbst gedreht werden, das dauert gut anderthalb Stunden und erspart ihr das Fitnessstudio.

Wenn drei Kordeln fertig sind, werden sie ineinandergedreht und ergeben eine farbliche Trilogie, deren Endstücke in bunten Bommeln münden. An guten Tagen schafft Marina Calamai zwei Kordeln. Solche Tage sind allerdings selten, denn meistens arbeitet sie zwischendurch am neben ihr stehenden Webstuhl, einem 500 Kilo schweren Holzkonstrukt, gut 200 Jahre alt. Das Ding gehörte einmal der Familie Guicciardini, einem Florentiner Adelsgeschlecht mit einem Stammbaum, der bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht.

Weberinnen in fünfter Generation

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts beschlossen die Guicciardini, die Pucci, die Corsini, die Della Gherardesca, die Bartolozzi und andere Aristokraten, eine gemeinsame Werkstatt zu gründen, in der sie ihre lauten und platzraubenden Webstühle sowie die dazugehörenden Lochkarten und Musterzeichnungen unterbringen konnten.

1786 eröffnete der Antico Setificio Fiorentino, in dem fortan jene Seidenstoffe produziert wurden, aus denen die Gewänder der Adligen entstanden und die in deren Schlössern und Palästen Wände, Fenster und Möbel veredelten. Zuletzt gehörte die Seidenweberei dem Marchese Emilio Pucci di Barsento, der seinerzeit Jackie Kennedy und Marilyn Monroe einkleidete, das Babydoll (Pyjama) erfand und den inzwischen wieder angesagten pastellfarbenen Pucci-Mustermix kreierte.

Heute stehen sechs Handwebstühle und sechs halbmechanische Webstühle in der Werkstatt des Setificio. Einige der Weberinnen arbeiten hier in vierter oder fünfter Generation und unterrichten bereits ihre Töchter im Umgang mit den archaischen Maschinen. «Wir weben hier wie zu vorindustriellen Zeiten», sagt Laura Morandini, die seit 40 Jahren im Setificio tätig ist und demnächst pensioniert wird, «die Maschinen geben den Rhythmus an. Wir können weder schneller arbeiten noch grössere Mengen produzieren.» Mehr als fünf Meter Stoff pro Tag sind an den antiken Handwebstühlen nicht möglich, bei komplizierten Mustern kann es auch sehr viel weniger sein. Die Jahresproduktion liegt bei 7000 bis 8000 Quadratmetern, dafür kann der Meterpreis leicht die 1000-Euro-Grenze überschreiten.

Stefano Ricci sitzt im schönen Verkaufsraum der Seidenmanufaktur und zündet sich eine Zigarette an. «Ich habe versucht, die Arbeit hier zu verstehen. Nun muss ich mich darum kümmern, dass sich der Setificio weiterentwickelt und einen Weg in die Welt von heute findet», sagt er, «es werden vielleicht ein paar Zentimeter mehr produziert, vielleicht ein paar neue Muster aufgenommen, vielleicht ein paar Dinge gefertigt, die man einfach so kaufen und mitnehmen kann.»

Es ist neu, dass im Setificio geraucht wird – wenn auch nur Stefano Ricci das darf. Neu ist auch, dass es Pläne gibt. «Hier hat sich überhaupt vieles geändert», sagt die Deutsche Sabine Pretsch, die die Seidenmanufaktur seit 25 Jahren leitet. Die Erleichterung ist ihr anzusehen: «Endlich haben wir wieder die Möglichkeit zu experimentieren», freut sie sich, «wir werden mit jungen Designern und Architekten arbeiten und zeigen, was auf diesen antiken Webstühlen möglich ist.»

Mal antik, mal avantgardistisch

Seitdem Stefano Ricci im vergangenen Mai der Marchesa Cristina Pucci den Antico Setificio Fiorentino abkaufte, weht ein frischer Wind durch die Werkstätte. Italiens wohl exklusivster und teuerster Herrenausstatter mit weltweit 24 Geschäften von Moskau über Singapur, New York und Paris bis zum grandiosen Flagship Store in seiner Heimatstadt Florenz ist ein Geschäftsmann, und er gedenkt, die Synergien, die er zwischen seinem Unternehmen, das seinen Namen trägt, und dem Setificio sieht, zu nutzen. Natürlich kannte er die Seidenmanufaktur und deren Tradition. Natürlich überlegte er, welchen Teil er zu deren Geschichte beitragen könne. «Aber ich habe nie nur an die Geschichte gedacht, denn von Geschichte lebt man nicht», sagt er.

Zur Geschichte gehören die 254 Muster des Setificio-Archivs, die ältesten stammen aus dem 13. Jahrhundert. Zur Geschichte gehören die stilisierten Vögelchen, die auf den Fresken von Masaccio in der zauberhaften Brancacci-Kapelle zu sehen sind und die eine detailgenaue Reproduktion von Motiven der Garderobe sind, die der Florentiner Adel seinerzeit zu tragen pflegte. Zur Geschichte gehören die Auftragsarbeiten, welche die Seidenweberei für das schwedische Königshaus, für Schloss Amalienburg in Kopenhagen, für die Villa Doria Pamphili in Rom oder für den Moskauer Kreml ausführte.

«Wir produzieren nach wie vor antike Muster», sagt Sabine Pretsch, «aber wir erfinden und kreieren auch ganz neue Stoffe. Dinge, die auf diesen Webstühlen noch nie gemacht worden sind und mit denen wir unseren anspruchvollen Kunden etwas absolut Einzigartiges bieten.» Unter anderem werden individuelle Designs bekannter Architekten wie John Stefanidis, Mlinaric (Paris/London) oder Peter Marino realisiert, welche die Privatvillen der Guinness, der Ghettys, der Agnelli oder der Familie Reemtsma mit Setificio-Seiden einrichten. Sie bestellen den rustikalen, typisch toskanischen Filaticcio (ab 150 Euro pro Meter), Brokatel (ab 395 Euro), Damast (ab 440 Euro) oder feinsten Lampasse (ab 950 Euro), um damit Fenster, Wände und Möbel zu bespannen. «Wir haben auch schon mit echten Silberfäden durchwirkte Seide für einen arabischen Scheich produziert. Die kostet dann eben 2000 Euro pro Meter», erzählt Sabine Pretsch.

Lochkarten als Taktgeber

Auch Stefano Ricci hat ein paar Sonderwünsche. Er möchte Stoffe nach eigenen Entwürfen weben lassen, die sowohl in seine hochwertige Home Collection integriert werden können als auch in seine Herrenkonfektion. Schon wurde einer der Webstühle so eingestellt, dass darauf schmale und sehr feine Seidenbänder gefertigt werden können. Sie sollen die Innenseite der Hemdenknopfleiste und die Kragennaht zieren. Krawatten, Einstecktücher, Jackettfutter – es gibt einiges, wofür der 60-Jährige Designer gerne eigene Seiden verwenden würde. Doch so einfach ist das nicht.

«Es vergeht leicht ein halbes Jahr, bis wir alle Arbeitsgänge, die nötig sind, um ein neues Muster weben zu können, durchgeführt haben», sagt Fabrizio Meucci, der schon als Zwölfjähriger auf dem Webstuhl seines Vaters herumkletterte und seit nunmehr 22 Jahren damit beschäftigt ist, die antiken Webstühle des Setificio zu restaurieren und in Schuss zu halten. Zum Schluss wird jedes gewünschte Muster auf eine Lochkarte übertragen und vom Webstuhl mechanisch abgetastet. «Die Lochkartenwebstühle waren der Grundstein zur Entwicklung der Steuerungstechnik bis hin zum Computer», erklärt Fabrizio Meucci. «Genau so funktionierten die ersten Rechner von IBM.» Komplizierte Muster erfordern bis zu 2800 dieser Lochkarten, die Stück für Stück und Loch für Loch von Hand hergestellt werden. Das dauert.

«Wir brauchen eben etwas mehr Zeit als die Industrie», sagt Stefano Ricci. «Wer sich unsere weltweit einzigartige Qualität wünscht, muss bereit sein, ein wenig zu warten.» Das gilt auch für ihn selbst.


Antico Setificio Fiorentino, Via L. Bartolini 4, Florenz, Tel. +39 055 21 38 61, www.anticosetificiofiorentino.it. In der Schweiz sind die Seidenstoffe über den Showroom von Monica Spirig Papini zu beziehen. Idea SA, Via Pessina 1, Lugano, Tel. 091 923 45 60, www.idealugano.ch.