Der schmale Eingang mit Drehtüre an der Londoner York Road 11 und der bescheidene kleine Empfangsraum danach lassen nicht vermuten, dass hier ein weltberühmter Architekt sein Arbeitsdomizil aufgeschlagen hat. Und auch der Showroom im vierten Stock mit zahlreichen Karton- und Styropormodellen von allerlei Prestigeprojekten erinnert eher an eine Baustelle als an das Büro eines Stars der Branche.
Tatsächlich ist hier mit David Chipperfield ein Mann am Drücker, der auch mal gerne die Rolle als Enfant terrible gibt: «Man muss gelegentlich den Mut zur Sabotage haben», sagt er etwa. Und meint über die Architektur als solche: «Nur schöne Sachen zu machen, ist nicht wirklich das Ziel.» Natürlich könne man ewig darüber nachdenken, wie der perfekte Handlauf in einem Treppenhaus auszusehen habe. Das habe seine Berechtigung – «doch um solche Dinge kann es nicht gehen».
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Simon Kretz  und David Chipperfield

Karton- und Styropormodelle: Erinnert eher an eine Baustelle als an das Büro eines Stars der Branche.

Quelle: Tina Ruisinger

Vereint für London

Worum es wirklich gehen sollte, darüber hat er nun ein Jahr lang mit dem Zürcher Architekten Simon Kretz philosophiert und debattiert. Spannend ist das britisch-schweizerische Projekt allein schon deshalb, weil Chipperfield in Zürich das neue Kunsthaus baut. Und ein grosser Freund der Schweiz ist. Die Arbeit mit dem Zürcher Experten, dies nebenbei, hat seine Liebe zum Alpenland noch weiter wachsen lassen.
 
Eben sitzen die zwei Männer in besagtem Showroom vor Journalisten, beide im weissen Hemd und in blauen Hosen, und geben Ergebnisse ihrer Arbeit weiter. Getroffen haben sie sich erstmals vor einem Jahr auf Initiative von Rolex. Im Rahmen des philanthropischen Projektes «Mentor and Protégé» bringt die Luxusmarke seit 2002 hochkarätige Exponenten verschiedener Kultursparten, «Mentoren» genannt, mit ausgewiesenen Jungtalenten zusammen, den sogenannten «Protégés».
 
Kretz traf Chipperfield im vierten Stock mit den Karton- und Styropormodellen. Gemeinsam schaute man zunächst auf die Londoner Skyline – und schon war das Thema gegeben. London, so waren sie sich einig, sei zwar faszinierend, weil architektonisch hier sehr viel möglich ist, der Preis dafür sei aber ein Wildwuchs, der mitunter deftig an den Bedürfnissen der Städter vorbeigehe. Wie man das ändern könne und was gute Architektur wirklich sei, sollte deshalb die Fragestellung des gemeinsamen Projektes werden.
Simon Kretz  und David Chipperfield

Tatort London: Im vierten Stock an der York Road 11 trafen sich die zwei Architekten und starteten ein gemeinsames Projekt, das in einem Buch münden wird.

Quelle: Tina Ruisinger

Für Kretz kein Neuland

Für Kretz sind solche Überlegungen keineswegs Neuland. Urbanismus ist eines seiner Lieblingsfächer. Zu diesem Thema hat er 2016 als Herausgeber das Standardwerk «Urbane Qualitäten – Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich» vorgelegt. Seit 2010 ist er als Architekt und Städtebauer tätig. Dazu amtet er als Dozent und Oberassistent an der ETH Zürich.
 
Für ihre Arbeit wählten Mentor und Protégé als Anschauungsobjekt ein real existierendes Grossbauprojekt in London aus. Und zwar mit Bedacht nicht ein Projekt von Chipperfield – das hätte allerlei Befangenheitsprobleme mit sich bringen können. Ziel, so David Chipperfield, war keine Einbahnstrasse: «Es sollte so sein, dass beide etwas lernen können.»
 
Über die Ergebnisse berichteten die zwei Architekten kürzlich. Vor allem was David Chipperfield aus seiner Sicht zu berichten hatte, hörte sich für Schweizer Ohren höchst erfreulich an – wie ein Werbespot für das Schweizer Baubewilligungsverfahren.
Der Mentor

David Chipperfield, Jahrgang 1953, begann 1985 als Architekt mit dem Bau von Ladengeschäften. Heute ist er preisgekrönter Star der Branche mit realisierten Bauten in der ganzen Welt. Darunter das Literaturmuseum der Moderne im deutschen Marbach, das Ninetree Village im chinesischen Hangzhou und das Figge Art Museum in Davenport, USA. Aktuell baut er das neue Zürcher Kunsthaus.

David Chipperfield
Quelle: Keystone

Letzte Bastion

David Chipperfield, der Büros in London, Berlin, Mailand und Shanghai führt und sich international auskennt, sieht in der Schweiz so etwas wie die letzte Bastion für die sozialdemokratisch inspirierte Planung einer bürgerlichen Gesellschaft, wo sich der Staat als verantwortlich für Planungsfragen sieht. Demgegenüber stehe die Planung in London, die «ausser Kontrolle» geraten sei, meint Chipperfield.
 
Zwei zentrale Unterschiede haben Mentor und Protégé bei ihrer Arbeit zur Planung herausgeschält.
 
Erstens werde in England bei der Planung nur berücksichtigt, was im Perimeter des zu überbauenden Grundstücks passiere. Die Schweiz beurteile ein Projekt auch mit seinen Auswirkungen auf die Nachbarschaft oder die ganze City. Da kämen Verkehr, Grünzonen etc. zur Sprache.
 
Zweitens stünden sich in England beim Planungsprozess zwei Parteien sozusagen bipolar gegenüber: der Developer und die Behörden. Am Schluss werde ein Deal ausgehandelt.
Der Protégé

Simon Kretz, Jahrgang 1982, ist Zürcher Architekt, Städtebauer und Dozent an der ETH. Seine internationale Projekterfahrung hat er beim Office for Metropolitan Architecture, Rotterdam, und bei KCAP Architects & Planners, Zürich, gesammelt. Kretz ist Preisträger des Goldenen Backsteins, der für die höchste Qualitätsbewertung des Entwurfskurses und das Engagement der Lehrperson am Architektur-Departement an der ETH verliehen wird.

Simon Kretz
Quelle: Rolex

Anders in der Schweiz

In der Schweiz würden umgekehrt bei grossen Vorhaben möglichst alle Interessierten beigezogen: Städteplaner, Designer, Quartiervereine, Eigentümer, Anwohner, Planungsbüros und zum Beispiel Spitäler, wenn es um ein Krankenhaus gehe. 20 bis 40 Personen seien mitunter involviert, es werde offen diskutiert. Ziel sei ein konsensgeprägter Prozess mit mehrheitsfähigen Ergebnissen. Daraus entsteht am Ende ein Sondernutzungsplan.
 
Detailliert werden Kretz und Chipperfield demnächst in einem Buch über ihre Diskussionen berichten. Geplanter Titel: «On Planning».
 
Wer denkt, der Schweizer Weg klinge zwar ganz gut, verschlinge aber viel zu viel Zeit, irrt sich übrigens, wenn man dem Architektenduo glaubt. Simon Kretz hat mit seinen Studenten den Zeitbedarf beider Systeme untersucht. Resultat: «Es geht in beiden Ländern ziemlich genau gleich lang.»
 
Dieser Text erschien in der November-Ausgabe 11/2017 der BILANZ.