Die Trainingshalle ist abgerissen. Wo einst rote Sandplätze zum Tennisspielen einluden, liegt nun brauner Schotter. Auch die Gärtnerei ist verschwunden, statt Setzlingen und junger Bäume findet man nur noch Brachland. Alles ist parat für die Baumaschinen, die im Sommer auffahren sollen. Hier, an der Gottstattstrasse in Biel, wird in den nächsten Jahren das neue Firmengebäude der Swatch entstehen. Der Einzug ist für spätestens 2015 geplant. Für 150 Millionen Franken soll der japanische Stararchitekt Shigeru Ban einen lang gezogenen, geschwungenen Holzfachwerkbau erstellen – elegant, aber nicht protzig soll er werden, modern, aber nicht abgehoben.

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Ein angemessener Firmensitz für eine Uhrenmarke, die bis heute rund eine halbe Milliarde Stück verkauft hat – mehr als jede andere in der Uhrengeschichte. Eine einmalige Success Story, die vor dreissig Jahren ihren Anfang nahm. Wer wissen will, wie es vorher war, muss von der Baubrache nur dem Flüsschen Schüss entlanggehen, ein paar hundert Meter Richtung Westen. Dort steht der jetzige Sitz der Marke Swatch: ein alter, grauer Betonbau, neun Stockwerke architektonische Tristesse, mit Betonvorplatz und zwei Passerellen zu kleineren Anbauten. Ein Relikt der siebziger Jahre, aus den dunklen Stunden der Uhrenindustrie.

Vor dem Aus. Damals herrschte Heulen und Zähneknirschen. Die Schweizer Traditionsbranche schien vor dem Aus. Vor allem die billigen Quarzuhren aus Fernost setzten den Uhrmachern zu. Die neue Technologie war 1967 zwar hierzulande erfunden worden, doch die Industrie verkannte die Marktchancen und setzte weiterhin auf die althergebrachte Mechanik. Die Ölkrise und der steile Fall des Dollars von 4.30 Franken auf 2.70 verschlimmerten die dramatische Situation in der Uhrenindustrie: Die Zahl der Beschäftigten brach von 90 000 auf 30 000 Menschen ein. Täglich machten Firmen die Tore für immer zu: «Es konnte vorkommen», erinnert sich Doyen Jack Heuer, heute Ehrenpräsident bei TAG Heuer, «dass von einem Tag auf den anderen eine Uhr nicht mehr gebaut werden konnte, weil ein Zulieferer aufgegeben hatte.» Wie ausweglos die Lage schien, zeigt sich etwa bei der Marke Zenith. Dort befahlen die Besitzer 1975 die Verschrottung aller Maschinen und Werkzeuge für die Herstellung des legendären El-Primero-Kalibers. Die mechanische Uhr als solche, so dachte man damals, war ein Fall fürs Museum.

Bis Nicolas G. Hayek kam und mit ihm die Swatch. Auf sie setzte der Patron ganz bewusst, nachdem er 1983 die zwei hoch verschuldeten Uhrenkonglomerate SSIH und Asuag als ersten Schritt zur Rettung zusammengelegt hatte: «Ich habe gesagt, wir beginnen bei der Sanierung mit der Swatch und nicht mit Omega», erinnerte er sich in einem BILANZ-Interview 2006, vier Jahre vor seinem Tod.

Den Entwicklern dieser Uhr schlug allerdings am Anfang nichts als Spott entgegen (siehe Interview). Denn die Swatch «hat alle Paradigmen umgekrempelt, die damals gültig waren», sagt Martin Wittig, Chef der Unternehmensberatung Roland Berger Strategy Consultants. «Aus einem exklusiven Statussymbol wurde eine Spassuhr für alle», wie Uhrenveteran und Hublot-Chef Jean-Claude Biver sagt, «sie sprach sowohl die Kinder an als auch die Milliardäre.» Sie war aus Plastik, bunt und billig. «Man hat genau das Gegenteil der damals gängigen Lehre gemacht», so Wittig.

Sofort erkennbar. Tatsächlich war alles neu an der Swatch. Sie war «die erste industrielle Quarzuhr, 100 Prozent Swiss made, mit der höchsten Qualität und dem niedrigsten Preis – damals und heute noch» (Jean-Claude Biver). Sie war die erste Plastikuhr, mithin die erste farbige Uhr, was neue Horizonte für die Designer eröffnete. Neu war – für ein Massenprodukt – die selektive Distribution via Warenhäuser und Uhrenfachhandel, neu war das Design, neu war das Verständnis der Uhr als Accessoire, und neu war auch die Idee, die Kunden zum Kauf von mehreren Uhren zu überzeugen. Daher auch der Name Swatch – kurz für «Second Watch». Das alles hat seine Gültigkeit behalten, wie übrigens auch das Designkonzept: «Es gibt eigentlich nur zwei Marken, die an der Form all ihrer Produkte sofort erkennbar sind: Swatch und Rolex», sagt Nick Hayek, heutiger Konzern- und Markenchef.

Der Angriff auf den Massenmarkt war matchentscheidend. Denn die Zukunft lag bei der Quarzuhr. «Für die Refinanzierung einer Schweizer Quarzfabrik mussten mehrere Millionen Uhren verkauft werden können», sagt Konstantin Theile, erster Marketing-Chef von Swatch und heute Wirtschaftsprofessor an der Hochschule Reutlingen. «Das war weit weg von dem, was die konzerneigene Uhrwerksfabrik ETA sonst herstellte.»

Heute produziert Swatch pro Jahr geschätzte 16 Millionen Stück. Nicht so viel wie in den Boomjahren der späten achtziger und frühen neunziger Jahre. «Aber mit wieder steigender Tendenz», sagt Patrick Hasenböhler, Uhrenanalyst bei der Bank Sarasin, der den Jahresumsatz bei 860 Millionen Franken sieht. Zwar dürften die Schwestermarken Omega und Longines mehr umsetzen. Auch die Marge ist mit geschätzten zehn bis zwölf Prozent bei der Swatch eher gering: «Die ist aber nicht wichtig, sondern vor allem die Stückzahl», sagt Nick Hayek. Denn die Swatch sorgt bei den Tochtergesellschaften im Konzern für Umsatz, bezieht die Werke von ETA, die Elektronik von EM Microelectronic-Marin, die Batterien von Renata, die Zeiger von Universo. Damit ist sie intern die absolute Nummer eins. So wichtig sind die Plastikticker, dass sie dem Mutterkonzern ihren Namen leihen. «Swatch ist eine Vorzeigemarke, von ihr hängt das Image der ganze Gruppe massgeblich ab», sagt Hasenböhler.

Der Erfolg der Swatch ermöglichte der gesamten Branche einen Wiederaufstieg, der «einmalig ist in der Schweizer Wirtschaftshistorie», wie Tobias Straumann sagt, Professor für Wirtschaftsgeschichte an den Universitäten Zürich und Basel. Statt 30 000 arbeiten heute wieder fast 53 000 Angestellte in der Horlogerie. Sie exportierten 29,1 Millionen Uhren im Wert von 21,4 Milliarden Franken. Mehr als die Hälfte des Weltmarktes ist damit, nach dem Wert gerechnet, «made in Switzerland». Kein Wunder, ist die Horlogerie heute die wichtigste Industrie der Schweiz nach der Maschinen- und der Pharmabranche. Kein anderes Land der Welt hat eine auch nur annähernd vergleichbare Uhrenindustrie.

Tüftler-Werk. Da mutet es heute geradezu heimelig an, dass die ersten Skizzen für die neue Uhr zunächst auf Papierservietten gezeichnet wurden. Die jungen Ingenieure Jacques Muller und Elmar Mock sassen gelangweilt an einem Weiterbildungsseminar in Deutschland. An freien Abenden brüteten sie über dem Projekt für eine neue Uhr. Sie sollte zu 100 Prozent Swiss made und qualitativ hochstehend sein, im Laden aber nicht mehr als 50 Franken kosten. Angefeuert von ETA-Direktor Ernst Thomke begannen sie die Zahl der nötigen Teile für eine Uhr von über 100 auf 50 zu reduzieren und so die Uhr gewaltig zu vereinfachen. Ein Kernstück war der Gehäuseboden, der gleichzeitig als Platine (Trägerelement) diente – ein Novum für eine Serienuhr. Elmar Mock erinnert sich noch heute, wie er – «mehr als Spielerei» – den Investitionsantrag für eine Kunststoff-Spritzgussmaschine stellte und umgehend zu Thomke gerufen wurde. «Ich rechnete mit heftiger Kritik», sagt Mock, stattdessen sei Thomke von der Idee begeistert gewesen. Wichtig waren auch die Marketingkonzepte von Franz Sprecher – von ihm stammt auch der Name Swatch – und von Konstantin Theile. Und schliesslich sorgte Nicolas G. Hayek, der mit Passion voll auf die Karte Swatch setzte, für den endgültigen Durchbruch. Alles sei schon da gewesen – «aber es brauchte seine ordnende Hand, die alles zusammengebracht hat», sagt Wirtschaftshistoriker Straumann.

Prinzip Zufall. Für lange Schlangen bei Neulancierungen sorgte die gezielte Verknappung einzelner Modelle (siehe «Buchte sofort einen Flug»). Dabei begann alles mit einer Panne: Bei den Werbeaufnahmen schmuggelte die Agentur McCann Erickson eine Swatch in den Spot, die sie selber weiss bemalt hatte. Sie stiess sofort auf grosses Interesse. Die weisse Uhr gab es damals freilich nicht, und die Fabrik konnte sie wegen Qualitätsproblemen mit der Farbe auch gar nicht in Grossserie produzieren. Also lancierte man ein paar Monate später die weisse Swatch Tennis in einer limitierten Auflage. «So lief vieles bei Swatch», erinnert sich Konstantin Theile.

Inzwischen haben andere die Erfolgsmethoden der Swatch kopiert: die deutschen Automobilhersteller etwa, die Ende der Achtziger in eine ähnliche Krise gerieten. Jahrzehntelang hatten sie den PKW-Markt beherrscht, dann kam die japanische Konkurrenz von Toyota, Nissan und Mazda – und die war billiger und besser. Die Antwort: eine Qualitätsoffensive. Man studierte die Kaizen-Praktiken der japanischen Autoindustrie und stellte die eigenen Produktionsmethoden radikal um. Firmen wie Porsche, die traditionsgemäss fast alles selber herstellten, verkürzten die eigene Wertschöpfungskette massiv und bezogen immer mehr standardisierte Baugruppen von Zulieferbetrieben – ähnlich wie sich fast die gesamte Schweizer Uhrenindustrie bislang mit ETA-Werken versorgt. Vor allem aber besetzten die Premiumanbieter nun den Massenmarkt mit Kleinwagen, um die Fabriken auszulasten, Skaleneffekte zu erzielen und so den Luxusmarkt zu verteidigen – Mercedes etwa mit dem Smart, der aus Hayeks Autoprojekt Swatchmobil hervorging. In England und Schweden ist das nicht geschehen. Dort gibt es heute keine nennenswerte Automobilindustrie mehr; einst stolze Marken sind heute deutsch (Rolls-Royce, Bentley, Mini), indisch (Jaguar, Rover), chinesisch (Volvo) oder pleite (Saab).

Zum 30-Jahr-Jubiläum der Swatch müssten heute alle Patrons der Branche dankbar gratulieren – ohne Swatch wäre es der heimischen Uhrenindustrie wohl schlecht ergangen. Nicolas Hayek hatte nämlich auch zehn Millionen Swatch-Uhren mit mechanischen Werken bauen lassen. Und damit die konzerneigene Spiralenfabrik Nivarox-FAR gerettet, die damals unter chronischer Auftragsflaute litt. Die Bedeutung dieser Fabrik ist enorm, eine Nivarox-Spirale ist noch heute das mechanische Herzstück der meisten Schweizer Uhren, welcher Marke auch immer. «Ohne die Swatch wäre die Nivarox nicht mehr hier. Dann gäbe es auch keine Manufakturen mehr», sagt Nick Hayek.

Auch für seinen eigenen Konzern ist die Swatch nach wie vor höchst wichtig. Wenn Luxus in Krisenzeiten nicht läuft, gleichen die tieferpreisigen Segmente den Rückgang aus. So wie im Jahre 2009 in der Finanzkrise. «Marken wie Omega, Rado, Longines und Swatch haben bei uns kompensiert, was die obersten Segmente verloren hatten», erklärte letztes Jahr Swatch-Group-Präsidentin Nayla Hayek gegenüber der BILANZ. Den anderen grossen Uhrenkonzernen wie Richemont oder LVMH fehlt das.

Vor allem aber hat der Erfolg der Swatch die Uhr als Kategorie relevant erhalten. «Sie hätte auch das Schicksal des Gehstocks und des Huts ereilen können – beide braucht man heute nicht mehr», sagt Elmar Wiederin, Senior Partner bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group. Aber dank der Emotionalität der Swatch ist die Uhr als Konsumgut begehrt geblieben. Und sie ermöglichte die Wiederauferstehung der mechanischen Uhr ein Jahrzehnt später, in dem diese wieder erfolgreich als Luxusgut oberhalb der einfachen Quarzuhr positioniert werden konnte.

Heimatverbunden. Entscheidend für den Erhalt des Uhrenstandortes Schweiz war Hayeks Entscheidung, die Fabrikation nicht in Billiglohnländer auszulagern. Möglich machte das die vollautomatische Fertigung. Klar ist das Label «Swiss made» fürs Marketing sehr wichtig. Aber hinter dem Entscheid steht eine grundsätzliche Überlegung: «Unsere Philosophie ist, Entwicklung und Produktion geografisch nicht zu trennen, weil man vom Forschungsprojekt über den Prototyp bis zur Serienfertigung sehr viel Interaktion braucht», sagt Nick Hayek. Da sind grosse Distanzen hinderlich: «Die US-Autoindustrie zeigt auch deshalb so wenig Innovationen, weil sie grosse Teile der Produktion outgesourct hat an Unterlieferanten irgendwo in der Welt.»

Wohl auch aus diesem Grund haben Firmen wie Apple oder General Electric kürzlich angekündigt, wieder vermehrt in der Heimat produzieren zu wollen.

Die Schweiz hat ihren weltweit einmaligen Uhrencluster erhalten können. Mehr noch: Etliche Zulieferfirmen der Branche haben sich in die Medizinaltechnik weiterentwickelt. «Eine Insulinpumpe hat einiges gemeinsam mit einem Uhrwerk: Entscheidend sind Präzision, Zuverlässigkeit, ein kompetitiver Preis», sagt Unternehmensberater Wiederin: «Wenn die Feinmechanik-Kette mit der Uhr vor 30 Jahren abgerissen wäre, hätten wir hierzulande bei weitem nicht die gleiche Ballung von Medizinaltechnikfirmen.» Ähnliches gilt für die Kleinmechanik, etwa bei Mikron und Tornos. «Ausser in Südwestdeutschland gibt es weltweit wohl keinen anderen Cluster mit derartig intensiver mechanischer Innovation wie in der Schweiz», sagt Wittig.

Andere Cluster verloren ihre Vormachtstellung. Die europäische Unterhaltungselektronik etwa befand sich in den neunziger Jahren in einer ähnlichen Situation wie die Schweizer Uhrenindustrie in den Achtzigern: Sie wurde überrannt von japanischen Anbietern, die günstiger waren und qualitativ ebenbürtig. Doch hier fehlte der Mut zu radikalen Konzepten à la Swatch. So verschwanden stolze Firmen wie Grundig, Blaupunkt oder Telefunken; kürzlich hat selbst Philips den Verkauf ihrer Unterhaltungselektroniksparte an einen japanischen Billiganbieter bekanntgegeben. Überlebt haben nur wenige hochpreisige Nischenplayer wie B&O, Loewe oder die schweizerische Revox. Auch von der europäischen Computerindustrie, von einstigen Giganten wie Siemens, Nixdorf, Bulle oder Olivetti, ist nichts übrig geblieben. Steve Jobs hingegen wandte Swatch-Methoden an, um aus seiner fast bankrotten Firma eine der wertvollsten der Welt zu machen: mit einem radikalen Paradigmenwechsel, mit hoher Qualität, Design, starkem Marketing, konsequentem Branding und Innovation. «Apple und Swatch kann man vergleichen, weil beide in ihrem Markt die Gewohnheiten der Konsumenten verändert und so einen neuen Markt kreiert haben», sagt Nick Hayek.

Heute sieht manch einer die Schweizer Finanzindustrie an einem ähnlichen Wendepunkt, an dem sie sich neu erfinden muss. «Da gibt es durchaus Parallelen», sagt Wirtschaftshistoriker Straumann. Unternehmensberater Wiederin hält ähnliche Rezepte wie bei der Swatch für anwendbar: eine Expansion in den weltweiten Massenmarkt etwa per Online-Banking mit schweizerischem Gütesiegel, darunter eine Fondsindustrie, die analog der ETA die Branche mit günstigen und bewährten Finanzprodukten versorgt. «Da kann man mit Standardisierung noch sehr viel herausholen», sagt auch Straumann. Und oben im Luxussegment würde das Private Banking weiterhin individuelle Lösungen anbieten, analog zu den Manufakturbetrieben der Uhrenindustrie. Gewagt, aber denkbar. Hubert Keller, Chef der Privatbank Lombard Odier, ist sich sicher: «Ich wette mit Ihnen, dass die Branche die Wende schaffen wird, genauso, wie es in der Schweizer Uhrenindustrie der Fall war.»

Revolution wagen statt Renovation pflegen, Qualität zu günstigen Preisen liefern, den Massenmarkt angreifen, um den Luxusmarkt zu sichern, Forschung und Produktion am gleichen Ort konzentrieren – das sind die Lehren der Swatch. Sie sind noch heute gültig. Die Plastikuhr ist zwar nicht mehr so heiss wie einst. «Sie können eine Marke nicht 20 oder 30 Jahre lang im Fieber halten. Sie muss irgendwann Ruhe haben, sonst stirbt sie», sagte Nicolas G. Hayek bereits vor elf Jahren. Die Zukunft ist dennoch rosig. «Die Swatch hat das grösste Potenzial aller Schweizer Uhrenmarken in China», glaubt Nick Hayek. «Wenn ich nur ein Prozent der Chinesen überzeugen kann, eine Swatch zu kaufen, sind das schon 13 Millionen Stück – und normalerweise kauft ein Swatch-Kunde zwei bis drei Uhren.» Die Erfolgsgeschichte, die in diesen Tagen 30-jährig wird, ist einmalig. Zu Ende ist sie nicht.