Eigentlich muss er nichts mehr beweisen. Er könnte immer so dasitzen wie gerade jetzt: bequem zurückgelehnt im Ohrensessel auf seinem Anwesen, die Decke über die Beine geschlagen, die verschmierte Brille auf der Nase. Und bei einer Tasse Kaffee würde er mit seiner knarzigen Stimme erklären, wie die Welt von oben aussieht. Wenn man es geschafft hat.

So wie er: Dr. George Daniels *, Träger des britischen Ritterordens, Ehrendoktor der Londoner City-Universität und als Einziger seiner Zunft schon zu Lebzeiten mit einer eigenen Briefmarke geehrt. Mit der Zähigkeit eines Clydesdale-Zugpferdes und der Verbissenheit eines Yorkshireterriers hat er sich zum berühmtesten lebenden Uhrmacher hochgeschuftet.

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Hier, mitten in der Irischen See auf der Isle of Man – berüchtigt als Steueroase und für wahnwitzige Motorradrennen –, wohnt Daniels wie ein Eremit hinter meterhohen Hecken, im Haus hallt das sonore Ticken der berühmtesten Zeitmesser von Mudge, Tompion und all den anderen, die in England Rang und Namen hatten. Draussen hängt Regen in der Luft, das Kreischen von Möwen dringt aus dem Nebel.

Hinter dem Haus, fein aufgereiht in den ehemaligen Stallungen, wartet sein millionenschwerer Fuhrpark. Sieben Oldtimer, einer berühmter als der andere. Den ersten Kompressor-Bentley etwa, den feuerroten Birkin-Single-Seater, würden sie ihm bei Bentley in Crewe gerne abkaufen – «aber die können ihn sich nicht leisten», sagt Daniels süffisant, stützt sich an der Motorhaube ab und streichelt die Staubschicht vom Kotflügel. Selten lässt er seinen Rollstuhl hinausschieben, um der Zeit hinterherzuträumen, als er noch viel gefragter Restaurateur alter Bentley-Wagen war, Rennen fuhr – «nur zum Vergnügen» – und sein Vermögen mit der Restaurierung und dem Verkauf antiker Zeitmesser machte.

Und jetzt das! Zur 35-Jahr-Feier der Koaxial-Hemmung, seiner wichtigsten Erfindung, hallt es wie ein Donnerschlag in der Uhrenwelt: Daniels will noch einmal aktiv werden und eine Jubiläums-Armbanduhr entwickeln. Mit 85 Jahren. Wo er doch auf der Basler Uhrenmesse 2010 noch so gebrechlich wirkte.

Eine neue Uhr? In seinem Alter? Was treibt diesen Mann dazu, der sich aus ärmsten Verhältnissen in die Ruhmeshalle der Uhrmacherei hochgearbeitet hat – und auf seinem Weg nach oben sogar das Angebot ausschlug, die berühmteste Uhrenfirma der Welt zu erwerben, weil er seinen eigenen Namen für klangvoller hält? Ist es Egoismus? Besessenheit?

Der Anfang sah nicht vielversprechend aus für George William Daniels, als ihn das Schicksal – vermutlich am 19. August 1926 – als uneheliches Kind und ohne Geburtsurkunde in den Sumpf einer Armensiedlung im nördlichen London warf. Der Stiefvater ein brutaler Säufer, die Mutter eine eiserne Puritanerin, George der ungeliebte und ungewollte Bastard zwischen zwölf Geschwistern. So schlimm war seine Kindheit, dass sich die Mutter kurz vor ihrem Tode bei ihm für das «elende Leben» entschuldigte, das er erleiden musste.

Erschöpfendes Amüsement. Mit 14 Jahren schwor er sich bei der Arbeit in der stickigen Fabrikhalle eines Matratzenherstellers, nur noch zu machen, woran er Spass hatte. Und das war: einem Uhrmacher über die Schulter zu schauen. Fortan nutzte Daniels jede Minute, um alles über Schrauben, Triebe und Federn zu lernen. Bei seiner Familie dagegen liess er sich nur noch so selten wie möglich blicken. Nicht einmal auf den Gruppenfotos findet man sein Gesicht.

Daniels wurde Elektriker und ging zum Militär. Danach lernte er endlich das Uhrmacherhandwerk – in der Abendschule. Und schuftete weiter wie ein Gaul, meist sechzehn Stunden am Tag. 1967 baute er endlich seine erste Taschenuhr. Zu einer Zeit, als niemand sich für diese altmodischen Ticker interessierte: «Ich hatte keinen Auftraggeber, keine Ahnung, wem ich sie verkaufen sollte, und ich wusste nichts von Marketing», erzählt Daniels, als er wieder behaglich im Lehnstuhl sitzt. Aber er kannte die richtigen Leute. Cecil Clutton etwa, den Fachmann für alte Rennwagen, historische Uhren und Orgeln. Der kaufte die Uhr ohne Umschweife – und zeigte sie einflussreichen Freunden.

Plötzlich wollten sie alle Daniels’ Uhren haben. Und er baute die zweite, die dritte, die vierte Taschenuhr. 36 Zeitmesser hat er insgesamt hergestellt: «Alles nur, um mich zu amüsieren», sagt er jetzt, als ob er die Mühsal von damals vergessen hätte. Dabei wurde er fuchsteufelswild, als er 1988 herausfand, dass einer seiner Zeitmesser bei einer Uhrenauktion in Genf versteigert werden sollte und ihm nicht zum Rückkauf angeboten wurde, wie das mit allen Kunden vereinbart war. Angst trieb ihn in die Schweiz. Womöglich hielt die Welt seine Kunstwerke für weniger bedeutend, als er selbst es tat. Er fand die Stadt tapeziert mit Auktionsplakaten. Ihr Motiv: seine Taschenuhr. «84 000 Pfund hat sie gebracht», erinnert er sich zufrieden. Dreieinhalbmal so viel wie der ursprüngliche Preis. So also schmeckt Anerkennung.

Dafür also hatte George Daniels bis zur Erschöpfung gearbeitet – Migräne, Schwindelanfälle, Kreuzschmerzen und Krebs inklusive. Als Eigenbrötler, der er ist, behandelte er sich auf seine Weise: Embryonalstellung gegen Kopfschmerzen, selbst gebautes Stahlkorsett für den Rücken und die Restauration eines heruntergekommenen Bentley Continental als Kur nach der Tumoroperation.

Trotz Blut, Schweiss und Tränen: Lob und Ehre blieben ihm lange verwehrt. Nicht nur in seiner Kindheit. Bitter klingt er bis heute, wenn er von den vielen vergeblichen Reisen in die Schweiz erzählt, um seine Koaxial-Hemmung zu verkaufen. Sie verbindet die Robustheit der Schweizer Ankerhemmung mit der Genauigkeit einer Chronometerhemmung und ist fast völlig wartungsfrei. Aber seine Idee wurde zunächst als «zu kompliziert» abgetan, als «überflüssig» und «nicht umsetzbar».

Sein vehementes Sich-Stemmen gegen die Flut der Schweizer Quarzuhren blieb lange vergeblich. Trotzdem hielt Daniels die Fahne hoch für die Qualitäten der britischen Uhrmacherei, einst Synonym für Präzision – bevor das Empire und seine Uhrenindustrie am eigenen Übergewicht zerbrachen. Denn, so krächzt er aus dem Lehnstuhl: «Die britischen Uhrmacher haben immer alles der Präzision geopfert.»

Ein Meister, ein Schüler. Manch einer mochte darüber gelächelt haben, dass da einer mit Mechanik die Quarzuhren ausstechen wollte; Daniels focht das nicht an. Unerschütterlich stampfte er weiter wie ein Clydesdale-Zugpferd auf sein Ziel zu. Schliesslich schaffte er es: Seit mittlerweile zwölf Jahren baut Omega seine Koaxial-Hemmung ein.

Seinen späten Ruhm wusste er auf der Basler Uhrenmesse 1999 zu geniessen: Endlich wurde er als Genie gefeiert. Auch zum Zehn-Jahr-Jubiläum 2010 hatte Daniels  dort einen Auftritt. Im dunklen Dreiteiler mit Nadelstreifen gab er Interview um Interview.

Krank war er, müde, schwach und wackelig und sass doch bis tief in die Nacht beim Italiener: mit seinem Schüler Roger Smith, seinem Freund David Newman und Simone Guadagno von Omega. Mit schneidendem Witz unterhielt er die Runde. Der bärbeissige Daniels war wieder Mittelpunkt, und er liebte die Gesellschaft, die ihm Omega ermöglicht hatte.

Jetzt will er es der Welt also noch einmal zeigen: mit einer Uhr zum 35-Jahr-Jubiläum seiner Hemmung. Und weil er selbst dazu doch nicht mehr die Ausdauer hat, übernimmt die Herstellung sein einziger Schüler, der 41-jährige Roger William Smith.

Smith war ein Uhrmacherlehrling aus Bolton bei Manchester, der wissen wollte, ob es ausser Batteriewechsel und Armbandkürzen noch etwas anderes gab, als er mit 17 Jahren auf diesen Überuhrmacher traf, der seine Zeitmesser komplett von Hand baute. «Als ich George das erste Mal besuchte, wollte er mich am Flughafen abholen. Aber er liess mich ewig warten – ich dachte schon, er habe mich vergessen. Schliesslich kam er doch noch angerauscht mit seinem riesigen Bentley», beschreibt Roger William Smith seine erste Begegnung vor fast einem Vierteljahrhundert. «Als er mich fragte, was ich eigentlich von ihm wolle, hätte ich vor Aufregung beinahe angefangen zu heulen.»

Uhren aus einem Guss. 23 Jahre später: Smith ist selbst berühmt, hat sein Atelier nur zehn Autominuten von George Daniels’ Haus entfernt auf der Isle of Man. Jetzt sitzt er – Tweedsakko, flachsblondes Haar und smartes Lächeln – neben Daniels und erklärt die Jubiläumsuhr. Wer denn die Idee gehabt habe? «Er war schuld!» – Wie auf Kommando antworten beide dasselbe – und fangen an zu lachen. «Es war logisch, Georges Ideen von der Taschenuhr auf die Armbanduhr zu übertragen», so Smith. «Bezüglich ihrer Funktionen ist sie nichts Besonderes.» Stunde, Minute, Sekunde und Datum, das sei alles. «Es geht darum, wie sie gemacht wird.» George Daniels hat die Uhr komplett allein gebaut – und zwar von Anfang bis Ende.

Das sei einmalig, legt sich Smith mächtg ins Zeug: «Für die grossen Taschenuhren der Geschichte gab es allein für die Zifferblätter Graveure und Guillocheure, daneben Zeiger- und Zapfenmacher. Das war schon damals eine riesige Industrie in England. Alles nur, um eine einzige Uhr herzustellen.»

Uhren aus einem Guss. Das also hat Daniels berühmt gemacht. «Aber für den Ruhm hat er einen hohen Preis gezahlt», sagt ein Freund. «Er hat sich viele Feinde gemacht.» Ein Terrier, der bellt und beisst, wenn ihm etwas nicht passt. «Aber er hat genauso viele Freunde, die alles für ihn stehen und liegen lassen würden.»

Jungbrunnen. Alles stehen und liegen gelassen hatte seine Frau nach 30 Jahren Ehe: Zu aufreibend war das Zusammenleben mit einem, der sich tagelang im Atelier einschloss, dort ass und nur drei oder vier Stunden schlief – am besten gleich neben der Werkbank. George Daniels gibt zu, dass er wohl ein schlechter Ehemann und Vater seiner Tochter war. Heute, wo alle ihr eigenes Leben haben, sagt der Freund, verstehe sich die Familie wieder blendend.

Überhaupt: «Seit er seine Jubiläumsuhr plant, ist George wie ausgewechselt», sagt er. Die Müdigkeit und die lange Krankheit im letzten Jahr scheinen vergessen. «Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr so lebhaft und zufrieden gesehen.» Daniels hat wieder etwas zu beweisen.

Seit einem Jahr kümmern sich drei Pflegerinnen um ihn. Sie bringen seinen Vier-Uhr-Gin und begleiten ihn, wohin er auch geht. Und das Haus ist wieder voller Leben: Smith und seine Frau kommen häufig. «Er diskutiert immer noch so leidenschaftlich über jedes Detail wie damals, als ich ihn zum ersten Mal traf», sagt Smith.

Weil er als Einziger lange Jahre mit Daniels gearbeitet hat, weiss er genau, wie die Gedanken des Meisters in Messing und Stahl zu schmieden sind. Und mit der Jubiläumsuhr produzieren sie eine der teuersten Armbanduhren überhaupt. 142 000 Pfund wird der Zeitmesser kosten – fast alle der 35 Uhren waren sofort reserviert.

«Hier geht es um die Kunst, eine wirklich grosse Uhr zu kreieren», sagt Smith. Das liessen sich die Kenner nicht entgehen. «Man kauft das Genie gleich mit, so sehe ich das jedenfalls», erklärt er auf dem Weg hinaus – und schaut nachdenklich in die Ferne. «Aber eigentlich kann diese Uhr nur das, was alle anderen auch machen: Sie zeigt die Zeit an.» Und trägt eine bewegte Zeit in sich.

 

* Nachtrag: George Daniels ist leider am 21. Oktober auf der Isle of Man verstorben.