Wer hat keinen besonderen Bezug zu einem Baum oder mehreren Bäumen? Wohl kaum jemand. Der Kastanienbaum auf dem Pausenplatz der Schule, die am (starken) Ast hängende Schaukel, der Apfelbaum im Spielgarten, die nervige grosse Tanne des Nachbarn, die Schatten, aber zumindest keine Blätter wirft.

Der Baum als Symbol des langen, aufrechten Lebens, der Baum als Fruchtspender, als Hort der Ruhe, der Besonnenheit, der Baum als wunderbarer Sauerstoffproduzent, Kohlestoffspeicher und Staubfilter, der Baum als Nahrungsquelle für Mensch und Tier, Holzlieferant und Baustoff. Der Baum als junge Kohle, junges Gas und Öl. Die Gruppe von Bäumen, der Wald, als Erholungsgebiet, als Nähr- und Wohngebiet für Fauna und Flora, als Lawinenschutz, der Baum, einfach der Baum. Und das ist nicht alles.

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Der Baum: Mehr als nur Holz und Blätter

Denn nun kommt Peter Wohlleben mit seinem Buch «Das geheime Leben der Bäume» und zeigt uns, dass wir die Bäumenicht kennen, sie verkennen. Er zeigt uns, was sie fühlen, wie sie kommunizieren und wie sie Strategien entwickeln, um Schwierigkeiten zu meistern, allein oder mit Hilfe von Kollegen. Er zeigt die erstaunliche Geselligkeit der Buchen untereinander und die ebenso überraschende Empfindlichkeit der solitären Eiche.

«Das geheime Leben der Bäume», Peter Wohlleben, Ludwig Verlag 2015, 223 Seiten

«Das geheime Leben der Bäume», Peter Wohlleben, Ludwig Verlag 2015, 223 Seiten.

Quelle: ZVG

Das Buch beginnt mit einem Kapitel über die Sprache der Bäume. Gerbstoffe, Duftstoffe, elektromagnetische Wellen und das Wurzelwerk benutzen unsere stämmigen Gefährten, um sich zu verständigen. Frequenzen im Ultraschallbereich dienen als Durstschrei in Notlagen. Diese erstaunlichen ersten Kapitel stürzen uns als Leser kopfvoran auf eine spannende Reise durch unbekanntes Baumgebiet. Ein Sturz auch in die Unterwelt. Denn ähnlich wie beim Eisberg ist das, was wir sehen, ein Drittel des Ganzen. Mit den zweiten erdigen Dritteln beschreiten wir neben dem Wurzelwerk des Baumes auch die Welt «des Internets des Waldes» – die Pilze und deren Myzelien, die unterirdischen Wattegeflechte, milliardenfache Mikrostränge. Eine eindrückliche Symbiose besteht zwischen Pilz und Baum. Auch der Pilz will sich behaupten. Der Hallimasch verfügt über ein Myzel von einem halben Quadratkilometer und erreicht ein Alter von bis zu 1000 Jahren.

Die Reise geht weiter, und das Karussell dreht sich für den Interessierten und Erstaunten immer schneller. Die Handvoll Erde, die mehr Mikroorganismen birgt als die Erde Menschen, die Buche, die 500 Liter Wasser durch ihre Holzfasern hochzieht, die Beschreibung der Wolkenbildung durch den Wald sind ganz wenige Beispiele, die mich nur so durch das Buch sausen liessen.

CO2-Staubsauger

Ein Kapitel darf hier nicht fehlen: das des «CO2-Staubsaugers». Durch die Fotosynthese und die Erzeugung von Kohlehydraten speichert ein Baum im Laufe seines Lebens eindrückliche 20 Tonnen CO2, im Stamm, in den Ästen und im Wurzelwerk.

Wie jede Reise geht auch diese nach etwas mehr als 200 Seiten zu Ende. Dem Baum begegne ich heute anders. Dieses Buch lehrt uns Respekt, Hinsehen und Bewunderung für die geheimnisübervolle Natur. Viel können wir noch lernen und entdecken. Nahe bei uns. «In einem noch weit verbreiteten, recht einfachen Bild von den Kreisläufen der Natur sind Bäume ein Sinnbild für ausgeglichene Bilanzen», schreibt Peter Wohlleben. Ja. Wir sagen diesen ausgeglichenen Bilanzen heute Nachhaltigkeit.

*Michael Wider ist Präsident des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE).