BILANZ: Welches sind die Merkmale guter Kunst?
Urs Raussmüller:
Kunst ist dann gut, wenn sie über ein hohes Potenzial zur Veränderung verfügt. Je höher dieses Potenzial, desto besser ist die Kunst. Es geht nicht darum, wie ein Werk aussieht, sondern um die Menge an Veränderung, die dieses zur Folge hat.

Folgt man Ihrer Definition, dann wird gegenwärtig kaum mehr qualitativ hoch stehende Kunst geschaffen. Stimmen Sie dem zu?
Dem ist leider so. Wenn man die Geschichte der Kunst rückblickend verfolgt, dann wird diese ausschliesslich von extremen Positionen bestimmt. Nichts, was zum Mittelmass gehört, ist darin von Bedeutung. Nur was sich am äussersten Rand abspielt, definiert die Entwicklung dessen, was sich unter dem Begriff Kunstgeschichte subsumieren lässt. Theoretisch könnte man Hunderttausende von zusätzlichen Künstlern ausbilden, und dennoch käme dabei immer gleich wenig Ausserordentliches heraus. Die peripheren Bezirke werden dadurch nicht grösser. Was sich ausdehnt, ist allenfalls die Ordentlichkeit in der Mitte.

Mit anderen Worten: Wird die Bezeichnung Künstler allzu oft überstrapaziert?
Genauso wie der Begriff Kunst. Wir haben es auf einer breiten Ebene mit der Verwechslung von Kunst und Lifestyle zu tun und vor allem mit Kunst als Geschäft. Ich halte vieles, was sich heute abspielt, für Anmassung und Heuchelei. Wenn ich sehe, wer alles sich plötzlich berufen fühlt, sich über Kunst und Kultur auszulassen, stehen mir die Haare zu Berge. All die Politiker und Wirtschaftsvertreter, die neuerdings von den kulturellen Werten reden. Und natürlich schliesst das die verführbaren Künstler nicht aus.

Im Grunde sind wir doch alle Künstler. Oder nicht?
Heute haben wir eine erstaunlich grosse so genannte Szene, und alle nennen sich Künstler. Viel zu viele wollen von der unseligen Verbindung Kunst und Geld profitieren. Was qualifiziert diese Mitläufer anzunehmen, dass die Gesellschaft sie tragen müsse? Dass der Schreiner oder der Zahnarzt zu einer anderen Kategorie von Mensch gehören als sie selbst – nämlich zu einer, die Künstlern ein Künstler-Dasein ermöglichen soll? Bei vielen herrscht heute ein grosser ungedeckter Anspruch, wobei die Ursache nicht bei den einzelnen Künstlern liegt.

Definieren Sie uns doch bitte den wahren Künstler.
Ein Künstler ist einer, der vollkommen aus sich heraus funktioniert, eine Art Totalunternehmer, der mit seiner ganzen Existenz für sein Tun einsteht und haftet. Er kann nicht morgen etwas ganz anderes sein als Künstler oder – wie andere – mit seinem Betrieb Pleite gehen und dann ein neues Geschäft eröffnen. In diesem existenziellen Selbstverständnis liegt seine grösste Herausforderung.

Entsprechen die 50 Schweizer Künstler auf der BILANZ-Liste diesem Kriterium?
Nein. Dafür sind übrigens auch die Produktionsbedingungen hier zu Lande viel zu wenig existenziell.

Halten Sie die Namen der momentan beliebtesten Qualitätskünstler der Schweiz in unserer Tabelle wenigstens für indikativ?
Verzeihung, aber dieses Rating funktioniert doch nach dem Motto der Schweizerischen Käseunion: Als Schweizer essen wir Schweizer Käse, als Schweizer kaufen wir eine Schweizer Uhr, und als Patrioten kennen wir halt auch vor allem einheimische Künstler. Was damit einhergeht, scheint mir fatal. Man errichtet mit dieser Nabelschau eine Art Kulturschutzpark. All diejenigen, die sich in diesem Park mit seinen treibhausähnlichen Zonen tummeln, sind gleichsam der Wirk- lichkeit enthoben. Nimmt man einige der vermeintlichen Topkünstler heraus und verpflanzt sie an einen anderen Ort, etwa nach Düsseldorf, dann lacht sich dort jeder halb krumm über ein Schweizer Rating. Dann relativiert sich doch gleich alles.

Woran mag es liegen, wenn in helvetischen Ateliers kaum mehr Bedeutsames entsteht? Objektiv gesehen, ist der Veränderungsbedarf zu Beginn des 21. Jahrhunderts ja enorm. An möglichen Ansatzpunkten für radikale Positionen fehlt es jedenfalls nicht.
Stimmt! Das subversive Moment der Kunst müsste wieder greifen. Kunst indiziert soziale Phänomene. Noch ist die Tragweite neuer Erkenntnisse und Entwicklungen nicht ausreichend bewusst. Im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts gab es meiner Ansicht nach nur zwei Momente, in denen das gesellschaftliche Bewusstsein massgeblich umbrach.

Welche Begebenheiten sprechen Sie an?
Im ersten Fall, zu Beginn des Jahrhunderts, tauchte plötzlich einer auf, der in der Physik eine so genannte Relativitätstheorie aufstellte. Zur gleichen Zeit erhielt der Mensch durch das Aufkommen der Psychoanalyse einen neuen Zugang zu seinem Innenleben. Die neuen Einsichten, die sich in der Folge durchsetzten, wurden damals von den Künstlern sehr schnell aufgenommen und reflektiert. Symptomatisch hierfür ist die Absage an den Illusionismus wie bei Picassos fragmentierter Violine und die Entwicklung zur abstrakten Kunst.

Und was war der zweite Umbruch?
Na ja, die späten Sechzigerjahre. Damals gab es nochmals eine Art gesellschaftlichen Aufruhr, in dessen Verlauf Kunst als Mittel der Bewusstseinserweiterung verstanden wurde und wo wiederum eine Menge ausserordentlich spannender Kunstwerke entstand.

Ein tief greifender gesellschaftlicher Umbruch manifestiert sich in der fortschreitenden Digitalisierung unserer Alltagswelt. Videoarbeiten und Computersimulationen haben im Schaffen zeitgenössischer Künstler auf breiter Front Einzug gehalten.
Vieles erschöpft sich heute leider in der Wahl des Mediums.

Sie sind kein Fan von Videokunst?
Was für eine Frage. Genauso gut könnte ich jemanden fragen, wie er sich zur Bleistiftkunst stellt. Das ist viel zu vordergründig. In beiden Fällen handelt es sich doch bloss um die Wahl der eingesetzten Mittel. Die relevante Frage ist doch eine ganz andere.

Welche?
Worin besteht das Ziel der jeweiligen künstlerischen Unternehmung?

Wollen Sie etwa bestreiten, dass es zahlreiche Künstler gibt, die mit ihren Arbeiten über die reine Wahl des Mediums hinausgehen, indem sie versuchen, die Phänomene des Medienzeitalters auf individuelle Weise – durchaus auch kritisch – zu hinterfragen?
Natürlich haben wir solche Künstler gesehen. Das Ganze spielt ja schon seit langem. So wurde etwa in den Sechzigerjahren das Medium Fotografie von Leuten wie Bruce Naumann auf neue Weise in die Kunst eingebracht. Vorher war Fotografie kein Kunstmedium. Merkwürdigerweise hatte man bis dahin zwei unabhängige Dinge – nämlich Medium und Inhalt – vermischt und es dabei unterlassen, nach den zu Grunde liegenden Intentionen des betreffenden Künstlers zu fragen.

Ob mit Pinsel, Kettensäge oder Computermaus gearbeitet wird, spielt demnach für die Qualität eines Werks überhaupt keine Rolle?
Natürlich nicht. Allerdings glaube ich, dass die unendliche Vielfalt an Werkzeugen und Medien, die heute zur Auswahl stehen, für junge Kunstschaffende oft eher ein Hindernis darstellt. Bis man nur einmal im Stande ist, die vorhandenen Techniken sinnvoll zu nutzen, geschweige denn zu meistern, ist man oftmals schon an sie verloren. Man hat schon alles gegeben, um ein bestimmtes Gerät geschickt bedienen zu können, worauf für die entscheidende Frage, warum man eigentlich dieses Gerät bedient, keine Energie mehr übrig bleibt.

Trotzdem finden sich auch im zeitgenössischen Bereich immer wieder interessante Positionen. Wo erkennen Sie heute die spannends- ten Ansätze?
Sicher gibt es Ansätze, aber bevor es tatsächlich wieder spannend wird, muss zuerst ein markanter Wandel im gesellschaftlichen Denken stattfinden. Bei allen Veränderungen, die ein solcher Wandel mit sich bringt, wird er auch wesentliche neue Kunst hervorbringen. Solange dieser Umbruch nicht im Bewusstsein stattfindet, ist es eine Illusion, auf wirklich innovative Positionen zu hoffen.

Künstler stehen im Ruf, gesellschaftliche Trends und Tendenzen früher wahrzunehmen und zu artikulieren als andere. Ist das Bild von der intellektuellen Avantgarde überzeichnet?
Bildende Künstler funktionieren eher intuitiv als intellektuell. Ich glaube nicht, dass einzelne Künstler mit ihren individuellen Ausdrucksformen gesellschaftliche Entwicklungen anführen. Es braucht dazu eine breitere Bewegung.

Wenn gute Kunst – wie Sie behaupten – eine Funktion des gesellschaftlichen Wandels ist, sollten wir unter Qualitätsgesichtspunkten womöglich eine Revolution anstreben?
Wenn Sie mich fragen, sollten wir heute alles daran setzen, einen Umbruch im gesellschaftlichen Bewusstsein herbeizuführen. Vor allem aber sollten wir damit aufhören, Resultate zu fordern, bevor der Veränderungsprozess überhaupt Form angenommen hat. Es gibt heute eine wachsende Zahl junger Künstler, die nicht länger bereit sind, sich mit all dem, was ihnen von der Gesellschaft angeboten wird – nicht nur auf dem Gebiet der Kunst –, zufrieden zu geben. Diese Leute haben Fragen, und ihre Fragen werden zusehends drängender. Indem man sie aber ohne befriedigende Antworten lässt, wird ihr Unwohlsein weiter zunehmen, und dieses Unwohlsein wiederum kann in eine Eruption münden. Hoffentlich passiert das!

Sehen Sie im militanten Aufbegehren der Globalisierungsgegner Vorboten einer solchen Eruption?
Es handelt sich dabei ganz klar um Symptome eines wachsenden Protests, wobei man sehen muss, dass es auch Aktivisten gibt, denen es einzig und allein um Destruktion geht. Meine Vorstellung ist hingegen die, etwas konstruktiv umzubrechen.

Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass der künstlerische Nachwuchs einen gesellschaftlichen Richtungswechsel begrüssen würde? Viele Gegenwartskünstler scheinen sich mittlerweile prima mit den Gegebenheiten des Kapitalismus zu arrangieren. Bei ihrer Vereinnahmung durch den Markt spielen heute die meisten mehr oder weniger virtuos mit.
Wenn Sie diejenigen, die dabei mitspielen, als Künstler und nicht als Zulieferer bezeichnen wollen …(lacht). Anders wie ein Theater, das ein Publikum braucht, damit es überhaupt als solches bezeichnet werden kann, funktioniert die bildende Kunst, von der ich hier rede, in jedem einzelnen Fall aus einer inneren Überzeugung heraus. Diese innere Überzeugung ist weder käuflich noch angepasst.

Was sagen Sie zum Phänomen, dass sich bald jeder Konzern eine Sammlung mit zeitgenössischer Kunst leistet?
In bescheidener Sprache ausgedrückt, geht es den meisten Unternehmen letztlich nur darum, Geld zu machen. Nur klänge es viel zu brutal, wenn jemand dies genau so ausdrü- cken würde: «Wir machen Geld!» So etwas will doch niemand hören. Also muss man sich etwas Besseres einfallen lassen. Wir leben heute schliesslich in einer Darstellungsgesellschaft. Und bei dieser Darstellung müssen gewisse Leute auch ihre Tätigkeit tüchtig verbrämen. In einem ersten Schritt der Verharmlosung wird behauptet, man denke und handle im Weltmassstab, sei sozusagen global orientiert. Damit wird das brutale Motiv des Geldverdienens zunächst einmal ummäntelt. Sodann wird das ökologische Motiv bemüht und damit eine weitere Schutzbehauptung kreiert. Und über den ökologischen Zuckerguss stülpt man schliesslich noch ein drittes Mäntelchen, das von den dreien meiner Ansicht nach das Allerschlimmste ist: Knallharte Unternehmertypen, die eigentlich nichts als Geld wollen, konzentrieren ihre PR-Arbeit vermehrt auf das Wertesystem selber und machen gegen aussen hin auf Kultur. Unsere Gesellschaft strotzt vor Scheinheiligkeit.

Was hat ein einzelner Künstler dem gnadenlosen Vermarktungsdiktat der Kunstin- dustrie entgegenzusetzen?
Es gab auch schon Künstler, die sich in die Wüste begaben, um überhaupt noch etwas realisieren zu können. Andere erschaffen Dinge, die physikalisch einfach nicht fassbar und folglich auch nicht verkäuflich sind. Natürlich kann sich ein Künstler auch gegen die Handelbarkeit seiner Werke wehren, indem er nur solche Werke schafft, die in keine noch so grosse Tür reinpassen. Mit anderen Worten: Es braucht mehr Widerstand gegen gesellschaftliche Erwartungen.
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