BILANZ: Wann ist sexuelle Belästigung justiziabel?

Roger Rudolph: Noch immer ist die Meinung verbreitet, dass sexuelle Belästigung nur dann vorliegt, wenn es zu Tätlichkeiten wie Begrapschen kommt.

Was gehört denn ausserdem dazu?

Die Rechtsprechung hat den Begriff längst ausgeweitet: Anzügliche Bemerkungen, primitive Witze oder das für Arbeitskollegen wahrnehmbare Surfen auf Pornoseiten im Büro gehören genauso in dieses Kapitel. Wichtig für eine allfällige Strafanzeige oder eine Meldung bei der firmeninternen Anlaufstelle ist, dass es Zeugen oder andere Beweismittel gibt.

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Häufen sich die Klagen in der Praxis?

Nebst Mobbing ist sexuelle Belästigung das Thema, das in arbeitsrechtlichen Fällen am meisten zugenommen hat. Dabei klagen längst nicht nur Opfer gegen Täter. Immer mehr wehren sich auch vermeintliche Täter gegen ihre Entlassung am Arbeitsplatz. Oder Opfer klagen gegen die Firma.

Wie bitte? Was kann denn die Firma dafür, wenn sich ein Mitarbeiter danebenbenimmt?

Das Unternehmen hat eine Schutzpflicht gegenüber den Angestellten. Deshalb ist es wichtig, dass Firmen Richtlinien im Umgang mit sexueller Belästigung haben und diese durchsetzen. So kann bewiesen werden, dass diese Pflicht ernst genommen wird. Oft klagen die Opfer auch gegen die Firma, weil dort finanziell mehr zu holen ist als beim Täter.

Welchen Einfluss hat das Machtgefüge?

Je höher die Position einer Person im Unternehmen ist, desto eher ist eine fristlose Entlassung bei Verfehlungen gerechtfertigt. Kader haben eine höhere Treuepflicht.

CEOs sind also schon mit einem Bein auf der Strasse, wenn sie einen Spruch in Anwesenheit einer Frau machen?

Solche Aussagen sind übertrieben. Wahr ist, dass Topmanager zweimal reflektieren sollten. Selbst ein harmloses Nachtessen mit der Sekretärin will überlegt sein. Ich staune manchmal, wie sorglos Topkader mit dem Thema umgehen.

Sollten unsere Gesetze so streng sein wie in den USA?

Ich zweifle daran, dass das viel bringen würde, abgesehen davon, dass die rigide Rechtslage in den USA immer wieder zu Absurditäten führt, beispielsweise der Anklage gegen einen Sechsjährigen wegen sexueller Belästigung.

Roger Rudolph: Der 43-jährige Jurist und Anwalt ist seit 2004 Partner der Kanzlei Streiff Pellegrini & von Kaenel in Wetzikon ZH. Rudolph ist unter anderem auf Arbeitsrecht spezialisiert und berät Unternehmen bei der Ausarbeitung von Statuten zum Thema sexuelle Belästigung.