Helga Rabl-Stadler ist Präsidentin der Salzburger Festspiele – des wichtigsten Klassik-Festivals der Welt. Im Amt ist sie seit 1995 und damit wohl die erfahrenste Chefin eines bedeutenden Musik-Events weltweit. Zuvor war sie stellvertretende Parteivorsitzende der Österreichischen Volkspartei, ihr Vater Gerd Bacher amtierte lange Jahre als Generalintendant des ORF. Ihr Netzwerk in Wirtschaft, Politik und Kultur gilt als eines der grössten und dichtesten in ganz Europa.

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Lola Nashashibi Grace: Der Name verspricht Diversität. Grace entstammt einer alten palästinensischen Familie, ein Urgrossonkel war Bürgermeister Jerusalems, ein Onkel Finanzminister Palästinas. Ihr Vater, ein Ingenieur, flüchtete nach Saudi-Arabien, ging später nach Südamerika. Dort und in den USA wuchs sie auf, studierte in Stanford, war Investment Bankerin (Morgan Stanley, First Boston), leitete dann Sterling Grace Capital Management – den Namen Grace brachte ihr Mann John, Unternehmer und Investor, mit. Die beiden leben in Montreux und haben fünf Kinder.

Frau Grace, als Sie in die Schweiz kamen, brachten Sie aus den USA Ihre Stiftung «Middle East Children’s Institute (MECI)» mit. 
Was ist ihr Zweck?
Lola Nashashibi Grace: Wir helfen Kindern. 2007 starteten wir in Beit Rima, einem Dorf im Westjordanland in Palästina. 80 Prozent aller Kinder dort mussten die Tötung eines Familienmitglieds miterleben, viele sind hochgradig traumatisiert. Wir wollten ganzheitlich helfen: uns nicht nur um die körperliche Gesundheit, sondern auch um Ausbildung und psychosoziale Bedürfnisse kümmern.

Viele Hilfsprogramme widmen sich einem spezifischen Problem.
Grace: Genau, sie wirken mehr wie eine aussenpolitische Agenda. Wir hingegen arbeiten intensiv mit der lokalen Bevölkerung zusammen. Wir schauen, was die Menschen brauchen – wir fragen sie. In Palästina stellte sich heraus: Die grössten Probleme sind Mangelernährung und kein Schulbesuch.

Wie kommt das?
Grace: Viele haben aus Sicherheitsgründen den Weg zur Schule gescheut, andere wegen der Arbeitslosigkeit der Eltern: Sie blieben zu Hause, um zu helfen.

Mit welchen Rezepten gingen Sie dies an?
Grace: Zunächst lockten wir die Kinder mit einem guten Essen in die Schule. Dafür hatten wir lokale Frauen und Mütter angesprochen, als «Agenten des Wandels». Wir gründeten mit ihnen eine Frauenorganisation, statteten sie mit Kleinkrediten aus, vermittelten Kenntnisse im Cateringgeschäft und zeigten, wie man alle wichtigen Nährstoffe in einer Mahlzeit unterbringt. Bis heute haben sie mehrere hunderttausend Essen ausgegeben, eine Bäckerei gegründet und einige Häuser renoviert. Ihr Unternehmergeist ist faszinierend.

Frau Rabl-Stadler, Sie haben als Präsidentin der Salzburger Festspiele die Generalprobe des Opernhits «Aida» für Zuschauer geöffnet und spenden aus den Einnahmen 50 000 Euro für MECI Austria. Warum gerade dafür?
Helga Rabl-Stadler: An mich werden sehr viele Projekte herangetragen. Aber im Sinne des Festivals muss ich darauf achten, dass dort Menschen mit Erfahrung und Führungsstärke an der Spitze stehen, dass sie auch sparsam mit dem Geld umgehen, dass sich die Projekte schon bewährt haben. Hier passt das alles zusammen.

MECI Austria führt die Wiener Kommunikationsberaterin Angelika Svoboda. Sie beide kannten sich bereits, oder?

Rabl-Stadler: Ja. Frau Svoboda betreut und berät hier am Festival seit Jahren unseren Sponsor Nestlé. Daher kenne ich ihre Fähigkeiten in Projektmanagement und Marketing. Sie hat mir die Aktivitäten von MECI Austria vorgestellt, das sie mit Ida Metzger-Niaghi leitet, und hatte die Idee für diese Kooperation mit uns. So fing alles an.

Wie verteilen Sie Ihre Mittel?
Rabl-Stadler: Wir versuchen, eine Balance aus Projekten in Österreich und im Ausland zu schaffen, dort auch auf verschiedenen Kontinenten. Wir helfen etwa einem Heim für Strassenkinder in Ägypten, einer österreichischen Initiative zur Betreuung von Roma-Kindern in Rumänien oder im Inland der Hospiz-Bewegung und dem Clearinghouse für unbegleitete Jugendliche.

Stars der Salzburger «Aida» sind Dirigent Riccardo Muti und Sopranistin Anna Netrebko. Wie haben die Künstler reagiert?
Rabl-Stadler: Sie haben sofort Ja gesagt, obwohl es für die Künstler ein Risiko bedeutet. Denn eine Probe, die verkauft wird, ist praktisch eine Vorstellung: Es fehlt die letzte Schutzzone vor der Premiere. Und wenn Künstler singen und spielen, möchten sie bezahlt werden, und das völlig zu Recht.

Also?
Rabl-Stadler: Alle Beteiligten haben auf ihre Gagen verzichtet, damit die Einnahmen aus dem Ticketverkauf voll ins Projekt gehen. Gerade diese Weltstars sind viel unterwegs – sie wissen genau, was in der Welt los ist. Und dass diejenigen, denen es gut geht, denen helfen müssen, denen es nicht so gut geht.

War die «Aida»-Generalprobe gut besucht?
Rabl-Stadler: Sie war überbucht! Die «Aida» hätten wir drei Mal verkaufen können.

Werden Sie verfolgen, was mit dem Geld passiert?
Rabl-Stadler: Auf jeden Fall. Es ist für ein Projekt in Jordanien gedacht. Es soll etwas Neues bringen: MECI Austria wird dort syrischen Flüchtlingskindern zum ersten Mal Musikunterricht anbieten. Kunst und Musik sind wohl die besten Werkzeuge, um traumatisierten Kindern zu helfen.

Frau Grace, was macht MECI in Jordanien?
Grace: Unsere Zielgruppe dort sind Kinder syrischer Flüchtlinge von 6 bis 14 Jahren. Viele sind so traumatisiert, dass es schon schwierig ist, die Eltern zu überzeugen, dass sie ihre Kinder in die Schule gehen lassen. Auch Sicherheit auf dem Schulweg ist ein Thema. Deshalb haben wir syrische Sozialarbeiter. Sie holen die Kinder mit unseren Bussen ab. Das schafft Vertrauen.

Sie sind in Jordanien mit drei Schulen gestartet.
Grace: Mittlerweile sind es 23. Nach dem morgendlichen Unterricht bieten wir unser holistisches Unterrichtsmodell an. Kunst hatten wir schon, dank den Salzburger Festspielen kommt auch bald Musik dazu. Viele dieser Kinder haben nie klassische Musik gehört oder eine Geige in der Hand gehabt. Es gibt wohl nichts, was traumatisierten Kindern so gut hilft wie Kunst und Musik. Im letzten Schuljahr unterstützten wir in Jordanien 7000 Kinder.

Hilft Ihnen Ihre Erfahrung als Bankerin?
Grace: Ganz klar. Was ich punkto Finance und Projektmanagement im Investment Banking gelernt habe, wende ich hier ständig an. Ohne diese Ausbildung wäre vieles nicht gegangen.

Was war Ihre Motivation, aus dem Banking auszusteigen und eine Hilfsorganisation zu gründen?
Grace: 9/11 war der Auslöser, wir lebten damals mit fünf Kindern in New York. Dieser Hass und das gegenseitige Unverständnis unter den Menschen schockierten mich. Ich wusste, dass ich etwas tun wollte, aber noch nicht, was – bis mich ein paar Monate später der Länderchef von Save the Children in Jerusalem fragte, ob ich ihnen Informationen darüber liefern könne, wie es in Gaza und auf der Westbank aussehe. Als ich die Probleme dort sah, wusste ich, dass ich es nicht beim Berichten bewenden lassen konnte. MECI zu gründen, war dann mein Weg, den Menschen dort zu helfen.

Wie sind Sie eigentlich in die Schweiz gekommen?
Grace: Das ist rund neun Jahre her. Wir haben uns auf der ganzen Welt nach einem Platz umgeschaut, um unsere Kinder aufzuziehen. Mit gutem Schulsystem, familienfreundlich, wo mein Mann seine Firmen und ich meine Stiftung leiten kann.

Und dieser Platz ist die Schweiz?
Grace: Wir haben wirklich viele Orte auf der Welt angeschaut – es wurde Montreux. Die Genferseeregion ist nicht nur schön, sondern auch sehr gut an die Welt angebunden. Wir sind hier glücklich.

In der Schweiz haben Sie nun eine Stiftung lanciert, 
die Krebsforschung unterstützt.
Grace: Das Thema beschäftigt uns schon lange. James Watson, der die DNA entdeckt hat, arbeitete am Cold Spring Harbor Laboratory – die Familie meines Mannes hat seinen Lehrstuhl mitfinanziert, ich war im Präsidium. Als wir in die Schweiz zogen, organisierten wir zunächst Veranstaltungen, wo Wissenschaftler auf die lokale Community trafen. Dann wurde 2013 das Swiss Cancer Center gegründet, eine Partnerschaft von sieben Forschungsinstituten, darunter EPFL und die Unis Genf und Lausanne. Kantone und Bund unterstützen das Center, die Arbeitsbedingungen sind fantastisch.

Es will in Europa bei Krebs-Immuntherapien führend sein.
Grace: Zwei herausragende US-Forscher, George Coukos und Doug Hanahan, sind eigens nach Lausanne gekommen, um diese Initiative zu leiten. Sie baten mich und meinen Mann, eine Stiftung aufzusetzen – gerade haben wir sie gegründet und das Board zusammengesetzt, unter anderem mit Peter Brabeck von Nestlé.

Frau Rabl-Stadler, Sie leiten seit 22 Jahren die Salzburger 
Festspiele. Können Sie Frau Grace einen Tipp geben, wie man 
so lange für ein Projekt motiviert bleibt?
Rabl-Stadler: Wir kennen uns noch nicht so gut, aber ich glaube, eines haben wir gemeinsam: Wir können uns selbst und andere begeistern! Neugierig sind wir beide auch. Und ich sage immer, mein Erfolgsrezept ist fehlendes Talent zur Frustration.

War das eine einmalige Kooperation?
Rabl-Stadler: Für uns ist das ein sehr wichtiges Projekt. Und wenn sich zeigt, dass wir gut harmonieren, kann es sehr gut sein, dass wir weitere Projekte miteinander angehen.

Dieser Artikel erschien in der September-Ausgabe (09/2017) der «Bilanz».

Dirk Ruschmann
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