Es ist die Warnung eines Toten. Es ist der Abschiedsbrief eines CDU-Politikers, der die Bundestagsabgeordneten aufruft, in der kommende Woche nicht für ein Verbot der organisierten Sterbehilfe zu stimmen. Denn Wolfgang Kramer, der von 1993 bis 1997 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft war, hat sich selbst mithilfe organisierter Sterbehelfer das Leben genommen. Kramer starb am 23. September 2015 im Alter von 85 Jahren mithilfe des Sterbehilfe-Vereins Dignitas im Schweizerischen Pfäffikon.

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Vier Tage vor seinem Tod, am 19. September, schrieb Kramer an Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) einen Brief, der nun, einen Monat nach Kramers Tod, verschickt und auf der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben veröffentlicht wurde. Darin spricht sich Kramer gegen ein Verbot der Sterbehilfe aus und erklärt, warum er selbst sie nutzte. «Ich wähle den Freitod, weil ich eine Spinalkanalverengung an vier Halswirbeln habe und allmählich in die Lähmung hineinwachse», schreibt Kramer.

«Nicht gegen eigenen Willen leben»

Bei einer Spinalkanalverengung beeinträchtigen Verwachsungen der Wirbelsäule die Nervenbahnen im Rückenmark. Operationen sind möglich, aber bei alten Menschen riskant und oft nicht mehr angezeigt. «Ich hadere nicht mit meinem Schicksal», schreibt Kramer, «glaube aber zu wissen, dass ich sehr unglücklich werde, wenn ich nicht bald Schluss mache.»

In schwerer Krankheit könne der Mensch «nicht gezwungen werden, gegen seinen Willen weiterzuleben». Dies sei etwa bei «Lähmungen» der Fall, «bei denen der Mensch in das engste nur mögliche Gefängnis – den nicht mehr beherrschbaren eigenen Körper – eingekerkert ist». Das grundgesetzlich verankerte Selbstbestimmungsrecht des Menschen, so Kramer weiter, «muss an seinem Lebensende Vorrang haben auch vor dem Recht der Mehrheit, staatliche Gesetze zu erlassen».

Im Bundestag hat Verbotsgesetz die grössten Chancen

Ein staatliches Gesetz erlassen soll der Bundestag zu der bisher straffreien Suizidhilfe am 6. November. Dann stimmen die Parlamentarier ohne Fraktionszwang über vier Gesetzentwürfe ab, die von unterschiedlichen Abgeordnetengruppen verfasst wurden. Die grössten Aussichten auf die Mehrheit hat der Entwurf einer Gruppe um Michael Brand (CDU) und Kerstin Griese (SPD).

Diese Gruppe hat bei den Kollegen im Parlament bereits mehr als 200 Unterstützerunterschriften gesammelt. Nach dem Brand/Griese-Entwurf soll mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden, «wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmässig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt».

Plan: Suizidhilfe faktisch verbieten

Verboten würde damit erstens die organisierte Suizid-Assistenz, die der Verein Sterbehilfe Deutschland um Roger Kusch seinen Mitgliedern nach Beratung und Einzelfallprüfung anbietet. Strafbar machen würden sich zweitens einzelne Ärzte, wenn sie Patienten bei deren freiverantwortlicher Selbsttötung unterstützen und es dabei auf die Wiederholung solcher Hilfe angelegt haben.

Betroffen wäre drittens der sogenannte Sterbetourismus in die Schweiz. Zwar können dort die Sterbehilfe-Vereine natürlich weiterhin legal arbeiten. Aber dass sie mit deutschen Staatsbürgern auf deutschem Boden den Suizid im Nachbarland vorbereiten – wie es bei Kramer möglicherweise geschah –, dürfte in Zukunft mindestens hochkompliziert, wenn nicht unmöglich werden.

Die Brand/Griese-Gruppe bezeichnet ihren Plan, der am meisten Zustimmung in der Unionsfraktion erhält, als «Entwurf der Mitte». Denn er bewege sich zwischen den anderen Entwürfen, die entweder ein Totalverbot jeder Suizidhilfe fordern oder aber grössere Freiräume für helfende Ärzte oder nichtkommerzielle Vereine vorsehen.

«Falsche Kompromisse mit Fundamentalisten»

Aber Kramer sieht im Brand/Griese-Entwurf «nicht Mitte, sondern Mittelalter», wie er schreibt. Eine «Mitte» in Form eines Kompromisses kann Kramer bei dem Verbotsplan nur als Kompromiss mit Rückschrittlichen erkennen: «Vor der Verabschiedung eines Gesetzes mit einem möglichen Verbot des von mir benutzten 'Notausgangs Schweiz' möchte ich den Deutschen Bundestag warnen, falsche Kompromisse mit Fundamentalisten zu schliessen – auch dann, wenn diese Fundamentalisten aus meiner eigenen Partei CDU/CSU kommen.»

Kramer bezieht sich in seinem Brief auf die europäische Tradition der Differenzierung zwischen kirchlichen und staatlichen Ansprüchen sowie auf die Freiheitsgeschichte seit Renaissance und Aufklärung. «Ich bin kein Monster», schreibt er, «sondern ein Bildungsbürger.» Mehrfach wurde Kramer wegen seines Engagements für Migranten und die europäische Einigung ausgezeichnet. 2006 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

Hoffen, dass «Gott gnädiger als Beamte» ist

Ihm ist bewusst, dass er sich im Widerspruch zu den grossen Kirchen befindet, die den Brand/Griese-Entwurf unterstützen. Aber wie Kramer berichtet, konnte sich bei ihm «das Verhältnis zu kirchlichen Traditionen und Hierarchien nicht recht entwickeln». Ein Grund: Während des Zweiten Weltkriegs wurde Kramer von einem evangelischen Pfarrer konfirmiert, der den nationalsozialistischen Deutschen Christen angehörte. Dieser Mann stellte, schreibt Kramer, «zur Konfirmation ein Hitler-Bild auf den Altar». Jesus von Nazareth habe für ihn, damit endet Kramers Abschiedsbrief, «eine hohe Bedeutung». Er hoffe, «dass Gott gnädiger ist als die Beamten, die im Vatikan Nachfolger der Inquisition sind».

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Schwester-Publikation «Die Welt» unter dem Titel «CDU-Politiker schrieb Abschiedsbrief an Bundestag».