Bundesratswahl: Dieses strenge Zeremoniell gilt am Mittwoch im Bundeshaus

In Rom kürt die Versammlung der Kardinäle im Geheimen den Papst in mehreren Wahlgängen und nach einem strikten Protokoll. Steigt schwarzer Rauch über der Sixtinischen Kapelle auf, geht die Wahl in die nächste Runde. Steigt weisser Rauch auf, heisst es «Habemus Papam». In der Schweiz wird es am Mittwoch «Habemus Bundesrat» heissen. Die Parallelen zur Papstwahl sind frappierend. Die Versammlung der Kardinäle heisst hier Vereinigte Bundesversammlung, mit dem Bild der Rütiwiese vor Augen. Dort begann die Urschweiz, so der Gründermythos. 246 Abgeordnete kommen aus den beiden Kammern zusammen, die normalerweise separat tagen. Es ist eng im Saal. Die Ständeräte haben nicht einmal ein Pult, sondern bloss einen Sitz an der Rückwand. Sie tragen edles Tuch. Zelebriert wird ein strenges Protokoll, festgeschrieben im Parlamentsreglement. Abgestimmt wird geheim, die Ausmarchung geht über mehrere Wahlgänge im Ausscheidungsverfahren. Jede Runde dauert etwa eine halbe Stunde. Die Wahl gewinnt, wer das absolute Mehr erreicht, meist 124 Stimmen. Wenn jemand fehlt, ist es weniger. Candinas als Zeremonienmeister Der Zeremonienmeister ist der Präsident der Vereinigten Bundesversammlung, diesmal der Rätoromane Martin Candinas. Am Ende jeder Runde schrillt seine Glocke. Sie klingt nie so scharf wie während einer Ersatzwahl, denn dann herrscht Hochspannung. Danach hebt der Präsident zum Satz an. Er nennt die Namen, für die gestimmt wurde. «X hat 90 Stimmen, Y hat 80 Stimmen, Z hat 30 Stimmen.» Niemand erreicht das absolute Mehr. Ein Raunen geht durch die Reihen. In Rom würde jetzt schwarzer Rauch aufsteigen. Es geht weiter. Der Präsident sagt: «Stimmenzähler, Stimmzettel austeilen!» Startschuss für die Zeremonie ist acht Uhr. Das ganze Spektakel wird gut drei Stunden dauern. Es bedient die Sehnsucht des kleinen Schweizer Volks nach institutioneller Grösse. «Der Bundesrat stellt etwas überspitzt gesagt eine kollektive Wahlmonarchie dar. Sie wird verkörpert vom Gesamtbundesrat. Die Wahl in dieses Kollektiv erscheint wie eine Papst- oder Königskür», sagt der Solothurner Historiker Urs Altermatt. Er hat die Bundesratswahlen seit 1848 analysiert, ein Bundesratslexikon herausgegeben und zwei von drei Bänden über die Bundesratsgeschichte verfasst. Sehnsucht nach Grösse und Bedeutung Der kleine, aber wichtige Unterschied zum Vatikan: Die Schweiz hat 7 Päpste und nicht nur einen, und es gibt Päpstinnen. «Sie müssen sich zu jedem politischen Geschäft zusammenraufen», sagt Altermatt. Am Ende gilt nur die eine einzige Meinung: die des Gesamtbundesrates. Nur die wird publiziert. Doch zurück zum Zeremoniell. Steht nach mehreren Wahlgängen ein Sieger fest, würde in Rom der weisse Rauch aufsteigen. «Gewählt ist mit 124 Stimmen X.» Und wenn der Name verkündet ist, sinkt die Spannung im Saal nicht – im Gegenteil, sie kulminiert: Der neue Monarch, tritt nach vorne und erklärt, ob sie oder er die Wahl annehmen möchte. Und das Volk schaut, ob die Person mit starker oder schwacher Stimme spricht, ob die Gewählte ein paar Tränen wegdrückt, wenn sie Angehörige verdankt, und ob sie am Ende Folgendes bekundet: «Ich nehme die Wahl an.» So verlangt es das Protokoll. Auch das Gegenteil, eine Nichtannahme der Wahl, gibt es – ein wohl einmaliger Vorgang in einer Demokratie weltweit. Eine Nichtannahme erfolgte bereits fünf Mal in der Geschichte des Staates, zuletzt 1993. Damals wurde der Westschweizer Francis Matthey anstelle einer von der SP vorgeschlagenen Frau gewählt. Er nahm die Wahl nicht an und machte der Genfer Bundesrätin Ruth Dreifuss den Weg frei. Er tat dies unter grossem Druck, weil seine Partei ihm mit dem Parteiausschluss drohte. Dreifuss wurde zur ersten Sozialdemokratin und zweiten Frau im Bundesrat. «Die Matthey-Wahl und diese Nichtannahme der Wahl war einer der grössten Eklats der jüngeren Wahlgeschichte», sagt Altermatt.Die grössten Eklats der jüngeren Zeit 1983 Der nicht nominierte Basler Otto Stich nimmt die Wahl an, die nominierte SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen hat das Nachsehen. 1993 Francis Mattey nimmt die Wahl nicht an, nachdem er gegen den Willen der SP gewählt wurde; die zuvor nicht kandidierende Ruth Dreifuss wird anschliessend gewählt. 2003 Abwahl der jungen Bundesrätin und CVP-Frau Ruth Metzler nach nur vier Jahren Amtszeit; SVP-Parteipräsident Christoph Blocher kommt zum Zug. Der seit 1959 gültige Verteilungsschlüssel nach Parteien, die sogenannte Zauberformel, wird angepasst. 2007 Abwahl Blochers nach nur vier Jahren Amtszeit; die Bündnerin, Nichtparlamentarierin und Bundesratstochter Eveline Widmer-Schlumpf wird gegen den Willen der SVP gewählt. In der Folge spaltet sich die Partei in zwei Teile. Widmer-Schlumpf geht zur BDP ab. 2020 fusioniert die BDP zur heutigen Mitte-Partei. 2017 Der Tessiner Ignazio Cassis wird anstelle der Waadtländer Favoritin und alleinerziehenden Mutter Isabelle Moret gewählt. Das Verdikt: Regieren und Kleinkinder erziehen passen nicht zusammen. Nimmt der Kandidat die Wahl jedoch an, bricht tosender Applaus aus, und alle erheben sich von den Sitzen. Dann klingelt es erneut, es herrscht Grabesstille im Saal, und es folgt die Vereidigung – in zwei Varianten: religiös oder säkular. Sie verrät die Gesinnung der Gewählten zur Tradition: «Ich schwöre vor Gott dem Allmächtigen ...» oder «Ich gelobe auf die Verfassung ...», das Amt pflichtbewusst auszuüben. Dann erklärt der Nationalratspräsident die Sitzung «für beendet». Die schrille Klingel ertönt ein letztes Mal. Die neue Magistratin schwärmt einer Bienenkönigin gleich samt Volk per Extrazug in die Heimat. Dort erfolgt ein Bad in der Menge, ein sehr seltener Vorgang in der Schweiz. Eine Päpstin hier bleibt geerdet. Wahlen als Indikatoren sozialer Zeitenwende Im Grunde startet die Wahl schon lange vor der Wahl. «Das Prozedere beginnt eigentlich nach der Rücktrittsankündigung, mit den Spekulationen über die Nachfolge und dem Nominierungsprozess», sagt Historiker Altermatt. Gibt es eine Einer-, Zweier oder Dreierkandidatur? Frauen oder Männer, Westschweizerinnen oder Deutschschweizer? Welcher Anwärter erhält mehr Aufmerksamkeit als andere? Allfällige Schummler werden hoffentlich entlarvt, so wie 2011, als vor der Wahl bei einem SVP-Kandidaten und Treuhänders eine Veruntreuung eines Erbes entdeckt wurde. Diesen Herbst gab die verschwiegene Doppelbürgerschaft einer Innerschweizerin zu reden. Sie hatte keine Chance. Oft ist die Wahl Ausdruck eines gesellschaftlichen Umbruchs. 1908 wurde der erste Katholik (CVP) in den Bundesrat gewählt, der von Protestanten dominiert war. 1930 kam ein Bauervertreter von der damaligen SVP hinein. 1944 war der erste Sozialdemokrat an der Reihe: Ernst Nobs, Sohn eines Schneiders und einer Uhrenarbeiterin. 1983 stiess erstmals eine Frau hinzu. 2010 waren die Frauen in der Regierung in der Mehrzahl. Verpasste Chance der Grünen 2022 hätten die Grünen der SP einen Sitz im Bundesrat streitig machen können. «Die Grünen hätten derzeit die beste Chance gehabt, eine Kandidatur zu lancieren und damit klarzumachen, dass sie gemessen am Wähleranteil Anrecht auf einen Sitz in der Landesregierung hätten», sagt Historiker Altermatt. Doch sie verzichteten darauf. Zu gross war die Furcht vor einer Niederlage gegen das Kartell der dominierenden vier Parteien. Bundesratswahlen sind immer auch Ausdruck der Repräsentierung eine Gesellschaftsgruppe. Ruth Dreifuss vertrat prononciert das Frauenanliegen, mit der Genfern Micheline Calmy-Rey war die erste Mutter im Amt. Und Christoph Blocher verkörperte den Anspruch der SVP auf zwei Sitze im Bundesrat. Damit wurde 2003 auch die langjährige sogenannte Zauberformel neu definiert: Im Bundesrat vertreten sind zwei SVPler, zwei FDPler, zwei SPler und eine Mitte-Vertreterin. Die sexuelle Ausrichtung, schwul oder lesbisch, war wiederholt ein Thema, wenn auch nie explizit. Mit dem SVP-Kandidaten Ueli Vogt tritt nun erstmals ein offen bekennender Homosexueller für das Amt an. Und schliesslich war heuer erneut die Vertretung von Müttern mit Kleinkindern auf dem Tapet. Dies, nachdem bereits 2017 eine FDP-Kandidatin und alleinerziehende Mutter wegen dieser Tatsache gescheitert war. Die Moral wiegt schwer, das gilt auch für Männer. 1989 kandidierte der im Volk populäre Urner und FDP-Präsident Franz Steinegger. Doch gewählt wurde er unter anderem nicht, weil er im Konkubinat mit seiner Lebensgefährtin lebte, obwohl er noch nicht geschieden war. Softfaktoren gefragt Standen früher fachliche Eigenschaften eines Kandidaten im Vordergrund, seien heute «eher Softfaktoren gefragt», sagt Historiker Altermatt. «Heute sucht man einen politischen Allrounder mit kollegialer Kompromissbereitschaft: Einer, der sich durchsetzen, aber auch Kompromisse eingehen kann», sagt Altermatt. Als Beispiel genannt wird aktuell Elisabeth Baume-Schneider, die jurassische SP-Kandidatin. Die 59-Jährige passt eigentlich nicht auf das Erwartungsprofil, dass eine Deutschschweizer Vertreterin in den Bundesrat gewählt werden sollte. Doch weil sie die Herzen der Abgeordneten eher gewinnt als ihre Basler Konkurrentin Eva Herzog, sind ihre Chancen intakt. Baume-Schneider punktet, weil sie «als Vertreterin einer krassen Randregion kandidiert», wie es ein Politiker gegenüber der «Handelszeitung» formulierte. Gut möglich, dass es am Mittwoch nach vier Wahlgängen heisst: «Gewählt ist mit 124 Stimmen … Elisabeth Baume-Schneider.» Weisser Rauch steigt über dem Bundeshaus auf. Die Frau und frühere Marxismus-Sympathisantin tritt nach vorn. Und das Volk wartet darauf, zu sehen, ob die Frohnatur Baume-Schneider eine Träne wegdrückt, bevor sie sagt: «Ich nehme die Wahl an.» Die Schweiz hätte eine neue Päpstin aus dem Konklave, die zehnte sei 1983.Die «Nacht der langen Messer» Der Vorabend vor einer Bundesratswahl wird in der Schweiz als die Nacht der langen Messer bezeichnet. Die Redewendung hat in verschiedenen Ländern unterschiedliche Bedeutungen, darunter in Deutschland, nämlich als Adolf Hitlers Mordserie von 1934. In der Schweiz ist damit das Taktieren und Orchestrieren einer Überraschungswahl in den Bundesrat gegen den Willen einer Partei gemeint. Erstmals hier verwendet wurde der Begriff 1983 bei der Wahl von Otto Stich (SP) anstelle der nominierten Lilian Uchtenhagen. Lange Nächte gab es nachweislich auch vor der Abwahl von Ruth Metzler und Christoph Blocher aus dem Bundesrat. An dieser Abwahl war auch Bundesrat Alain Berset als damaliger SP-Vizefraktionschef beteiligt. (val)

Bundesratswahl: Dieses strenge Zeremoniell gilt am Mittwoch im Bundeshaus

Dieses strenge Zeremoniell gilt bei der Bundesratswahl