Cédric Wermuth und Marc Faber im Streitgespräch: «Das ist sicher kein Nirwana»

Cédric Wermuth: Sehe ich richtig, Herr Faber? Bei Ihnen hängt ein Bild von Mao Zedong an der Wand? Marc Faber: Rechts hängt Mao, links Ho Chi Minh. Ich habe eine grosse Sammlung von Kommunisten in meinem Haus. Die würde Ihnen gefallen. Ein Börsenguru sammelt Kommunisten? Faber: Ich bin seit 1973 in Asien, zuerst habe ich in Hongkong gewohnt, jetzt in Chiang Mai in Thailand. Ich habe früh mit dem Sammeln von Mao-Postern, Memorabilien aus der Kulturrevolution und von anderen Sozialisten und Kommunisten begonnen. Aus Bewunderung? Faber: Nein, weil ich wusste, dass es auf der Welt viele Sammler gibt, die nach diesen Mao-Postern und -Tassen suchen. So habe ich über 3000 Stück zusammengekauft, darunter ganz viele Mao-Sticker; die hängen bei mir im Büro an der Wand. Den Rest habe ich in einem Lagerhaus. Und im Büchergestell habe ich die Erstausgaben von Trotzki, Lenin, Marx und Simonde de Sismondi. Dekoration oder Lesestoff? Faber: Lesestoff, der mich interessiert. Da fühlt sich der Co-Präsident der SP Schweiz wohl – umgeben von Sozialisten? Wermuth: Nein. Devotionalien sind nicht meine Sache. Ich hänge emotional nicht an einer maoistischen Vergangenheit oder am Realsozialismus. Immerhin wollen Sie den Kapitalismus abschaffen. So stehts im SP-Parteiprogramm. Wermuth: Dazu gibts für mich eine pragmatische Antwort. Wir leben in einer Zeit, in der das kapitalistische System seine Ineffizienz und Irrationalität beeindruckend an den Tag legt. Es ist doch erstaunlich, wie viele Ressourcen in die systematische Zerstörung unseres Planeten eingesetzt werden und wie wenig zum Beispiel gegen die globale Armut. Es mag ja durchaus sein, dass der Kapitalismus lange eine fortschrittsstärkende Bewegung gewesen ist – heute halte ich das für hochgradig fragwürdig. Das globale System ist völlig irrational geworden. Sie sehen keine positive Schlüsselrolle mehr im Kapitalismus? Wermuth: Die Innovationskraft des Kapitalismus wurde immer überschätzt, auch von den Marxisten. Der Kapitalismus hat stets von der Gratisarbeit von Frauen, von der Enteignung des Südens, von staatlicher Infrastruktur oder von der praktisch kostenfreien Be- und Übernutzung der Natur gelebt. Das System geht und ging schon immer an der Krücke. Ein System an der Krücke, Herr Faber? Faber: Nein, überhaupt nicht. Das System funktioniert relativ gut, es ist aber in den letzten hundert Jahren durch sozialistische Tendenzen verwässert worden, das bedaure ich sehr. Im 19. Jahrhundert betrugen die Staatsausgaben in Europa und den USA maximal 12 Prozent des Bruttosozialprodukts, heute liegen sie in Frankreich oder Deutschland bei 60 Prozent. In der Schweiz bei über 40 Prozent. Faber: Ja, mit steigender Tendenz. Das schleckt keine Geiss weg – der Staat breitet sich immer mehr auf Kosten des freien Marktes aus, deshalb hat sich das Wirtschaftswachstum in Europa stark abgeschwächt. Schauen wir doch ins 19. Jahrhundert: Da gab es keine Inflation, dafür hat man dank Kapitalismus und unternehmerischer Freiheit unglaubliche Produktivitätsfortschritte geschaffen, etwa durch den Bau von Kanälen, Brücken, Eisenbahnlinien. Das hat den Gütertransport erst ermöglicht und verbilligt. Und das schuf Arbeitsplätze und steigerte den Wohlstand, und zwar über Jahrhunderte. Marc Faber, der standhafte Kapitalist? Faber: Ich bin ein Kapitalist, dazu stehe ich. Mein Grossvater baute 1910 in Engelberg das Hotel Bellevue-Terminus, dann initiierte er die Gerschnialp- und die Trübseebahn, mein Onkel baute die Titlisbahn. Ohne Staat. Mein Vater war Sportarzt in Zürich, Kniespezialist, auch Mannschaftsarzt vom Fussballclub GC war er. Ein Unternehmer. Ich begann mit neun Jahren als Ausläufer in einer Apotheke für 50 Rappen in der Stunde. Damit verdiente ich mir mein erstes Velo. Nach der Uni, welche ich mit einer Dissertation magna cum laude mit 24 Jahren abschlosss, stieg ich in die Welt der Finanzen ein. Mein Grundgedanke war und ist: Menschen sind glücklich, wenn sie einer Arbeit nachgehen können. Die Korrelation zwischen freiem Markt und wachsendem Wohlstand sehen Sie nicht? Wermuth: Also zuerst einmal gibt es keine Gleichsetzung von Märkten und Kapitalismus. Der Kapitalismus zeichnet sich spezifisch dadurch aus, dass er Lohnarbeit ausbeutet und Kapital in den Händen weniger konzentriert. Diese Herrschaft des Kapitals stützt sich massiv auf den Staat ab. Der Staat muss Eigentumsrechte garantieren und durchsetzen. Tatsächlich erlebe ich seit zwei Legislaturen im Parlament eigentlich immer nur rechte Politiker, die den Staat immer weiter ausbauen wollen, wenn es ihren Interessen dient. Oder wenn die sogenannt liberalen Kräfte die Möglichkeiten des Nachrichtendienstes ausbauen wollen, um Bürgerinnen und Bürger zu überwachen – und ich mich gegen dieses illiberale Vorgehen stemmen muss. Ironischerweise leben wir ja längst im Sozialismus, allerdings nur für Banken, Reiche und Anleger. Dort sind die Milliarden aus den Nationalbanken vor allem angekommen – gratis. Wenn in einer Corona-Pandemie die Wirtschaftsleistung einbricht und die Aktienkurse trotzdem steil nach oben schiessen, dann stimmt etwas nicht. Wir sehen, dass sich die wirtschaftliche und politische Macht enorm konzentriert bei einigen wenigen. Nein, dieser Kapitalismus tendiert nicht zur Erhaltung von funktionierenden Märkten, sondern zu Oligopolen und Monopolen. Schauen Sie sich die Digitalwirtschaft an, den Rohstoffhandel. Da dominieren mächtige Unternehmen. Faber: Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte kann ein armer Mann das Gleiche essen wie der reichste Mann der Welt. Er trinkt ganz genau das gleiche Coca-Cola und isst den gleichen McDonalds-Hamburger wie die reichsten Menschen dieser Welt. Allerdings wollen die Sozialisten unsere Freiheit unterbinden mit endlosen Bestimmungen und dem Anschluss an die EU. Dass eine steigende Staatsquote das Unternehmertum einengt, sehen Sie nicht? Sie verteuert den Produktionsstandort. Wermuth: Solange wir in einem demokratischen Staat leben, ist die Ausdehnung der Staatsquote ein Demokratisierungsprozess. Durch den Staat werden die Menschen in den Entscheidungsprozess einbezogen, um zu entscheiden, was mit Reichtum geschehen soll. Natürlich waren die letzten 250 Jahre in vielen Teilen eine Fortschrittserzählung. Mir gehen übrigens jene Linken auch auf den Wecker, die immer nur die Katastrophe sehen. Natürlich ist mit dem Kapitalismus eine enorme wirtschaftliche Kraft entstanden, das bezweifle ich nicht. Aber genauso gehören zum Kapitalismus die Krise und die Konzentration von Macht in wenigen Händen. Die Freiheit musste vor allem von der Arbeiter- und Frauenbewegung immer gegen die Herrschenden im Kapitalismus erkämpft werden. Wir sollten nicht vergessen, dass die grössten Katastrophen der modernen Menschheitsgeschichte, der Erste und der Zweite Weltkrieg, gerade auch aus der imperialistischen Konkurrenz im noch jungen kapitalistischen Weltsystem entstanden waren. Faber: Ich war schon in den sechziger Jahren in sozialistischen Ländern und kenne die Katastrophen, die da verursacht wurden. Da müssen Sie mir nicht mit dem Weltkrieg kommen. Ich sage Ihnen: Im Kapitalismus kann man für eine breite Schicht einen relativ hohen Lebensstandard erreichen, und zwar bei einem relativ hohen Grad an Freiheit. Im Sozialismus ist es ganz anders: Der schafft beides nicht. In der russischen Revolution haben die Sozialisten zuerst die Bauern entrechtet, dann wurden die Kritiker im Gulag versenkt. Schliesslich haben sich die Sozialisten gegenseitig die Kehlen durchschnitten. Aber ich warne auch vor zu viel Übermut: Das kapitalistische System ist sicher kein Nirwana. Das hat schon Schumpeter geschrieben: Hier gehts um Zerstörung und Wachstum. Hingegen war die Theorie von Karl Marx komplett falsch. Er hat behauptet, dass der Kapitalismus sich selber zerstören würde, weil er keine Innovationen zustande brächte. Totaler Unsinn. Die Produktivitätsfortschritte, von denen auch Lohnbezüger profitieren, anerkennen Sie nicht? Wermuth: Sicher, wenn sie tatsächlich weitergegeben werden. Der Kapitalismus ist gegenüber allem davor ein historischer Fortschritt, er hat Raum für viele Freiheiten geschaffen. Allerdings musste immer alles blutig erkämpft werden. 1918 sind noch Menschen in der Schweiz gestorben im Kampf für den 8-Stunden-Tag. Die ersten hundert Jahre Kapitalismus hat man auf Menschen geschossen, die ihre Arbeitsbedingungen verbessern wollten. Man hat die breiten Bevölkerungsschichten erst partizipieren lassen, als man im Manchesterkapitalismus merkte: Die sterben ja alle weg, wenn wir sie weiter 16 Stunden arbeiten lassen. Faber: Immerhin hat sich einiges verändert durch diese Kämpfe. Im Sozialismus wurden massenhaft Menschen umgebracht, Fortschritt gabs keinen. Und zu Ihrem Hohelied auf den Staat: 1913 hat man in den USA die Federal Reserve, die Notenbank also, gegründet – und seither zeigt sich: Die Aktivitäten der Notenbanken laufen Hand in Hand mit dem Sozialstaat. Je grösser und mächtiger der Staat, desto kleiner die persönliche Freiheit. Die Zentralbanken haben uns in diese Misere geführt, aber sie waren keine kapitalistische Erfindung. Im Kommunistischen Manifest von 1848 steht: «Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschliesslichem Monopol». Daher stammt die Idee einer Zentralbank. Die wirklich harten Kapitalisten, etwa Milton Friedman, schrieben gegen die Nationalbanken an. Diese Meinung vertrete ich auch. Die Nationalbanken sind eine Travestie, keine kapitalistischen Säulen. Herr Wermuth, ich frage Sie: Wer druckt das Geld? Die Kapitalisten? Nein, die Europäische Zentralbank – zuerst Draghi, jetzt Lagarde. Das sind alles Staatsbürokraten, die in der Privatwirtschaft nie etwas verkaufen mussten. Mit ihnen ist die Macht des Staates massiv angestiegen. Und mit der Einführung der Negativzinsen ist schleichend eine Enteignung im Gang. Und niemand wehrt sich dagegen? Faber: Eigentumsrechte sind das Wichtigste in einer Gesellschaft. Bereits Adam Smith hat erklärt, dass sie ein zentraler Treiber der Wirtschaftsentwicklung sind. Schauen Sie doch einmal in die Welt: Wo es keine Eigentumsrechte gibt, wird alles geklaut. Das Recht auf Eigentum erfüllt erst eine Voraussetzung dafür, dass man überhaupt ein Unternehmen halten und entwickeln kann. Dadurch kann man Kapital aufnehmen, man kann eine Firma vererben oder verkaufen. Daraus ist eine unglaubliche Dynamik entstanden, die für Arbeit sorgt. Früher konnte man nur reich werden, indem man andere zerstörte oder ausraubte – siehe Napoleon oder Leopold II. von Belgien. Dank dem Kapitalismus ist es zum ersten Mal in der Weltgeschichte möglich, Reichtum zu schaffen, ohne jemandem zu schaden oder Menschen zu töten, und den Lebensstandard von allen zu erhöhen. Wermuth: Ich bin natürlich für eine Eigentumsgarantie. Nur: Warum dürfen sich dann einige wenige den Reichtum, den wir alle erarbeiten, aneignen? Das ist die tägliche Enteignung der vielen durch die wenigen. Das Eigentum ist heute fast ein Fetisch. Aber es wird enorm eng definiert: Was ist mit dem Eigentumsrecht meiner Tochter an ihrem eigenen Leben? Warum darf ihre Perspektive durch Erdölfirmen zerstört werden? Gerade jetzt sehen wir, wie selektiv der Eigentumsbegriff ist. Die Energiepreise steigen, die Inflation kehrt wohl zurück. Gleichzeitig haben wir Normalos Null- oder Negativzinsen auf dem Bankkonto. Für alle Kleinsparerinnen und Kleinsparer bedeutet dies Enteignung. Faber: Hab ich ja gerade gesagt. Wermuth: Aber für die Vermögenden gilt das eben nicht; sie werden nicht enteignet. Sie können in Realwerte investieren und ihre Anlagen global verschieben und damit der Abwertung ausweichen. Deshalb ist die Behauptung, der Kapitalismus garantiere Eigentum, falsch. Übrigens schon historisch: Der Kapitalismus begann mit der massenhaften Enteignung von Millionen von Kleinbauern auf dem Land und machte sie zu eigentumslosen Fabrikarbeitern. Und auch heute gelten die Eigentumsgarantien nur für die Mächtigen. Bist du arm, kann man dir in der Sozialhilfe fast das letzte Hemd wegnehmen. Faber: Es ist wahr, dass kleinere Unternehmer und Bauern benachteiligt wurden und sind. Die Frage: Was ist die Ursache? Der Beamtenstaat wurde unter sozialistischem Einfluss immer grösser und brachte unendliche Gesetze und Bestimmungen mit sich. Starbucks und McDonalds haben eine Armee von Anwälten und Treuhändern und Spezialisten für all die Auflagen. Aber was hat der Kleinunternehmer? Eines ist sicher: Die von den Sozialisten geforderten Lockdowns haben sich gerade auf kleine Unternehmer verheerend ausgewirkt. Und wenn jemand von Enteignungen spricht, erinnere ich an eines der Postulate aus dem «Kommunistischen Manifest», das lautet, «das Privateigentum abzuschaffen» – was in allen sozialistischen Ländern geschehen ist. Die Notenbanken tragen dazu bei, dass die Preise verzerrt und die Risikoprofile von Assets wie Immobilien manipuliert werden. Wermuth: Ich bin im Gegensatz zu Marc Faber nicht gegen das geldpolitische Monopol der Zentralbanken. Allerdings sollten sie demokratisch mehr Rechenschaft ablegen müssen. Wir sollten sogar ihr Mandat ausbauen, indem sie jeder und jedem ein Konto zur Verfügung stellen, damit niemand zu einer Privatbank gehen muss. Das Geld, das ins Finanzsystem gepumpt wurde, ist jedenfalls nicht bei der breiten Bevölkerung angekommen. Es hat zwar viele Unternehmen vor dem Kollaps bewahrt. Aber in den Löhnen, den Renten und auch in öffentlichen Investitionen ist zu wenig angekommen. Stattdessen wurden Vermögenswerte aufgeblasen, und die unglaublich wachsende Ungleichheit wurde noch verstärkt. Schauen Sie die Vermögensentwicklung von Mark Zuckerberg oder Jeff Bezos an – und ihre Machtzunahme. Genau jene Leute, die ständig von Markt faseln, errichten Monopole. Facebook, Amazon, Google sind heute nicht mehr Marktteilnehmer. Ihre Software ist der Markt. Trotzdem werden die noch als die Speerspitzen des Kapitalismus gefeiert. Nur an einem Ort spüren die Menschen die Entwicklung auf den Finanzmärkten: bei den steigenden Immobilienpreisen und Mieten. Die Tiefzinspolitik – wie schlimm ist sie? Faber: Wenn es ein Indiz für die derzeitige unsolide Geldpolitik gibt, dann ist es dieses. Das letzte Mal, als die Inflation in Deutschland bei 4,5 Prozent lag, betrug der Leitzins 6,75 Prozent; heute liegt er bei 0 Prozent. Diese negative Zinssatzpolitik ist eine Enteignung der Sparer. Am meisten leiden die Kleinsparer. Zudem führt sie zu einer gewaltigen Vermögensspaltung, wobei die Reichen reicher werden und die Armen ärmer. Das geschieht ebenfalls durch eine sich beschleunigende Inflationsrate, welche Immobilien für Junge unerschwinglich macht. Wermuth: Es ist für die Notenbanken nicht ganz einfach, aus dieser Tiefzinspolitik wieder rauszukommen. Steigende Zinsen würde bei diesen hohen Schuldenständen für flächendeckende Staats- und Unternehmensbankrotte sorgen. Stattdessen müssen wir mit massiven öffentlichen Investitionen und relativ harten Eingriffen in die Vermögensungleichheit reagieren. Die Schulden sollte man über Vermögens- und Kapitalsteuern abbauen. So wie es Joe Biden in den USA tun will. Faber: Ich habe in den sechziger Jahren das Freie Gymnasium in Zürich besucht, wo ich Freunde hatte mit hohen Vermögenswerten, Bildern, Aktien und Immobilien. Weil deren Vermögenswerte derart stark anstiegen, war es für meine Freunde nie von Vorteil, zu arbeiten, weil ihre Steuerlast ohnehin hoch war. Aber nicht wegen des Kapitalismus, sondern wegen der Geldpolitik der Notenbanken in den USA und in Europa, an die sich die SNB anpassen muss. Sonst würde sich der Wert des Frankens verdreifachen. Ich mache SNB-Präsident Thomas Jordan nicht einmal einen Vorwurf, aber diese Geldpolitik führt laufend zu Verzerrungen. Dem Kapitalismus kann man das nicht unterjubeln, aber diese Politik führt zu grossen Ungleichheiten, da gebe ich Cédric Wermuth recht. Klar sehe ich, dass die einen im grossen Stil profitieren und andere, jene in der Fabrik, darunter leiden. Das werfe ich aber ganz klar den Notenbankern und den Politikern vor. Also doch die Notenbanken abschaffen, wie Marc Faber fordert? Wermuth: Das ist doch etwas scheinheilig, er und seine Freunde profitieren doch enorm von der lockeren Notenbankpolitik. Nein, aber wir sollten vielmehr die Diskussion um die Pseudo-Unabhängigkeit der Nationalbanken führen. Warum sollte die SNB von der Politik unabhängig sein? Die Politik müsste vielmehr entscheiden, wie sie die Investitionsströme der Notenbank leiten will. Mir ist wichtig, zu sagen: Gerade die Geschichte des Realsozialismus zeigt, dass eine Diktatur der Bürokratie mindestens so schlimm ist wie die Diktatur des Kapitals. Das muss der Linken eine immerwährende Lehre sein. Nur eine Verstaatlichung der ökonomischen Macht kann nicht mehr das Ziel sein nach dem 20. Jahrhundert. Es geht darum, die Wirtschaft demokratischer zu gestalten. Mit mehr Checks and Balances, nicht mit weniger. Die Geldschwemme der Notenbanken ist eine Reaktion auf die Politik, die den Strukturwandel verhindert. So werden ineffiziente Staatsbetriebe und marode Banken über Wasser gehalten. Wermuth: Das ist eine merkwürdige Analyse. Plötzlich soll es «die Politik», also der Staat, vermasselt haben. Richtig ist, dass wir in einem fundamentalen Transformationsprozess stecken. Es braucht eine Kombination von Nationalbank und Politik. Und der Erste, der es richtig macht, ist Biden. Er hält, was er versprochen hat. Das überrascht mich. Ich bin aufgewachsen mit Sozialdemokraten, die sich im Wahlkampf links verkauften und dann rechts abbogen. Biden versucht als Erster das Gegenteil. Er versucht ernsthaft, einen Green New Deal auf die Beine zu stellen und eine glaubwürdige Investitionspolitik zu machen. Faber: Wenn man Geld druckt, steigen Vermögenswerte inklusive Börsen, doch der Lebensstandard des durchschnittlichen Haushalts fällt. Das war schon in der Weimar Hyperinflation so. Was halten Sie von Kryptowährung? Faber: Es gibt angeblich einen Mangel an Anlageobjekten, dabei ist ein Überfluss an Liquidität geschaffen worden durch die Notenbanken. Bei so viel Geld erfindet der Markt neue Anlageklassen. Kryptowährung ist eine dieser neue Anlageklassen. Wermuth: Ich halte nicht viel von Kryptowährungen. Vor ein paar Jahren habe ich für ein paar Franken Bitcoins gekauft, um mir das mal anzuschauen. Hoffentlich haben Sie nicht frühzeitig verkauft. Wermuth: Nein, aber ich bin auch nicht reich geworden. Ernsthaft: Ich halte die Blockchain-Technologie für interessant, wenn es zum Beispiel um Nachweise in Lieferketten oder um Eigentumsnachweise geht, etwa bei Grundbuchämtern oder Smart Contracts. Aber? Wermuth: Der Bitcoin ist ein hoch ideologisches Projekt. Dahinter steckt eine monetaristische Verschwörungstheorie. Zudem ist zumindest im Moment die Herstellung ökologisch nicht zu verantworten. Und das Risiko von Missbrauch und Steuerhinterziehung halte ich für zu gross. Es gibt für mich ein einziges Argument für Kryptos: Finanzielle Überweisungen könnten in einem repressiven Regime durch Kryptowährungen einer staatlichen Kontrolle entzogen werden. Das kann bei Finanztransaktionen von Oppositionsgruppen interessant sein, aber das spricht längst nicht für ein liberalisiertes Kryptowährungssystem. Nein, ich halte Krypto für brandgefährlich und die Nützlichkeit für sehr klein. Wie haben Sie Ihr Geld angelegt? Wermuth: Welches? Ich habe ein bisschen was geerbt, als meine Mutter gestorben ist. Dieses Geld ist bei der Alternativen Bank. Mein Lohnkonto läuft über die Aargauische Kantonalbank. Über anderes Vermögen verfüge ich nicht. Wie stehts um unser Verhältnis zu unserem grössten Handelspartner, der EU? Sind Sie eigentlich für einen Beitritt oder nur gegen das Rahmenabkommen, Herr Wermuth? Wermuth: Ich lasse mich nicht in die komische Dichotomie drängen, in der es entweder eine neoliberale Integration gibt oder eine nationalistische Wagenburg. Das ist mir zu einfach. Ich bin für eine Europäisierung der Politik, weil viele Regulierungen – etwa im Warenhandel oder im Finanzwesen – auf europäischer Ebene gemacht werden müssen. Aber das ist kein Selbstzweck. Ich glaube, wir haben bis in die neunziger Jahre die Annäherungsdividende an Europa relativ gut verteilt. Wir haben keinen Tieflohnsektor, das Wachstum kam allen zugute. Das Rahmenabkommen wäre ein Schritt gewesen, bei dem die europäische Integration wichtiger geworden wäre als der soziale Fortschritt. Der EU-Beitritt – eine wünschenswerte Option? Faber: Ich stamme zu 50 Prozent aus der Innerschweiz, wo die fremden Vögte nach blutigen Schlachten rausgeworfen wurden. Unsere Vorfahren haben gekämpft und ihr Leben riskiert. Schiller schrieb im «Wilhelm Tell»: «Ein rechter Schütze hilft sich selbst.» Die EU ist eine bürokratische Katastrophe. Deshalb gefällt sie feindlichen Sozialisten und grünen Kommunisten. Wäre ich zynisch, würde ich sagen: Die Schweiz soll sozialistisch werden, dann werden die Leute sehen, wie tief ihr Lebensstandard in Europa sinken kann. Am Schluss werden alle gleich sein in Armseligkeit statt ungleich in Reichtum. Machen wir uns nichts vor: Die Schweiz ist erfolgreich, und das zieht Neider an. Und: Es ist einfacher, Ungleichheiten auszuhalten, wenn die Wirtschaft wächst. Wächst sie? Faber: In Europa seit dreissig Jahren kaum mehr. Und Sie, Cédric Wermuth, wollen auch noch die Arbeitszeit verkürzen und die Löhne steigern. Das wird dazu führen, dass dieser Kuchen weiter schrumpft – und das bei einer überalterten Gesellschaft. Früher war es normal, dass die Leute zehn Stunden am Tag arbeiteten. Sie träumen von vier Stunden am Tag. Wie viele Stunden arbeiten Sie, Herr Wermuth? Wermuth: Da muss man schon mal definieren, was unter Arbeit zu verstehen ist. Reden wir von Erwerbsarbeit? Meine Arbeitstage gehören sicher zu den längeren, oft kommen Sitzungen am Abend und am Wochenende dazu. Am Freitag kümmere ich mich um unsere zwei Kinder und bin anschliessend manchmal müder, als wenn ich als Parteipräsident im Parlament war. Und das soll auch nochmals gesagt sein: Der Kapitalismus lebt von ganz viel Gratisarbeit, die selten zur Kenntnis genommen wird. Insbesondere der ganze sogenannte Care-Bereich, also Pflege und Erziehung von Kindern, Pflege von Alten und Kranken. Tatsächlich macht diese «Gratisarbeit» volumenmässig sogar mehr aus als die Erwerbsarbeit. Sie wird vor allem von Frauen geleistet. Was mich beunruhigt, ist, dass ein grosser Teil der Lohnabhängigen zunehmend den Eindruck hat, ihre Lebensleistung werde nicht respektiert. Der Druck am Arbeitsplatz steigt und die Pensionskassenrente sinkt, die Konkurrenz nimmt zu – oftmals wird man nur noch als Excel-Tabelle mit Ohren wahrgenommen. Faber: Etwas muss ich zum Schluss noch loswerden: Ich bin überzeugt, dass Cédric Wermuth einmal Bundesrat wird – und würde das sogar begrüssen. Ihr Ernst? Faber: Wenn ich ihm noch ein paar Lektionen zum Thema Kapitalismus geben könnte, würde er sich sogar als erfolgreicher Unternehmer entfalten. Auch dieses Potenzial hat er.

Cédric Wermuth und Marc Faber im Streitgespräch: «Das ist sicher kein Nirwana»

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