Die Personenfreizügigkeit (PFZ) spaltet die Schweiz. Sichtbar jüngst im Parlament, als über die Nachhaltigkeits-Initiative der SVP zur 10-Millionen-Schweiz heftig debattiert wurde. Dass die Personenfreizügigkeit den Leuten unter den Nägeln brennt, erstaunt nicht, wenn man sich vor Augen führt, dass kaum ein anderes europäisches Land ein so hohes und so schnelles Bevölkerungswachstum erfährt wie die Schweiz. Es ist schwer vorstellbar, dass in anderen EU-Ländern Gleiches ohne erhebliche politische Verwerfungen vonstattengehen würde. Die Schweiz beweist dagegen eine extreme Langmut: Die Debatte verläuft hierzulande vergleichsweise gemässigt. Mithelfen tut sicher, dass kaum jemand bestreitet, dass die Schweiz angesichts der demografischen Entwicklung auf Zuwanderung angewiesen bleibt, wenn sie ihren Wohlstand halten will. Das Problem ist nur, dass die Zuwanderung als «zu hoch» empfunden wird. Ein paar Überlegungen zur Ursache.

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Die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit ist nachfragegetrieben. Es ist nicht so, dass an der Grenze zur Schweiz Horden von EU-Bürgern ins Land drängen, um hier zu arbeiten. Vielmehr rekrutieren Unternehmen in der Schweiz aktiv Arbeitskräfte aus der EU. Die Leute werden geholt – sie überfallen uns nicht. Erst wer einen Arbeitsvertrag hat, kann sich hier niederlassen. Die Zuwanderung aus der EU ist als Folge davon perfekt auf die Nachfrage aus dem Arbeitsmarkt ausgerichtet, was sich insbesondere daran zeigt, dass die EU-Zugewanderten eine höhere Erwerbsbeteiligung aufweisen als die Einheimischen. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Unternehmen in der Schweiz erfolgreich EU-Arbeitskräfte anziehen können, ist natürlich, dass diese in der Schweiz attraktive Arbeitsbedingungen vorfinden. Diese Voraussetzung ist angesichts des anhaltenden Wohlstands- und Lohngefälles der Schweiz zu fast allen EU-Ländern erfüllt.

Der Gastautor

Boris Zürcher war bis Ende 2024 Direktor für Arbeit beim Seco und ist regelmässig Gastautor der Handelszeitung.

Wenn die Nachfrage für die Höhe und Qualität der Zuwanderung aus der EU bestimmend ist, spielt die Konjunktur im Inland eine wesentliche Rolle. Das sieht man gut an der zyklischen Entwicklung der Nettozuwanderung: Läuft die Wirtschaft in der Schweiz gut, steigt die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften. Seit der Finanzmarktkrise weist die Schweiz eine ständig günstigere Wirtschaftsentwicklung auf als fast alle EU-Länder. Mit wenigen Unterbrüchen führt die Schweiz zudem seit Jahren die Ranglisten der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt an. Diese Situation hält trotz US-Zollhammer weiter an. Verständlich daher die Befürchtung, dass die Zuwanderung wie bisher auf «zu hohem» Niveau bleibt. Ebenso verständlich: das wachsende und legitime Bedürfnis, die Zuwanderung steuern zu können. Denn das infolge der Zuwanderung hohe Bevölkerungswachstum verursacht hohe Anpassungskosten.

Hätten wir keine Freizügigkeit oder nur eine beschränkte, würde die starke Nachfrage nach Arbeitskräften bei Erreichen der Vollbeschäftigung an Knappheitsgrenzen stossen – mit der Folge, dass die Löhne über das Produktivitätswachstum hinaus ansteigen. Dies wiederum würde sich in Preissteigerungen übersetzen und letztlich eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale auslösen. Das würde rasch die Nationalbank auf den Plan rufen, die via Zinserhöhungen die Inflation bekämpfen müsste. Gegenüber dem Ausland würde zudem aufgrund der steigenden Wettbewerbsfähigkeit der Franken aufwerten. Höhere Zinsen und ein stärkerer Franken würden die wirtschaftliche Aktivität, die Inflation, die Beschäftigung und letztlich die Nettozuwanderung wieder dämpfen.

Technisch gesprochen ist das Arbeitskräfteangebot in der Schweiz dank Personenfreizügigkeit jedoch praktisch vollkommen elastisch und eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale auch bei Vollbeschäftigung unwahrscheinlich. Dank offenem Arbeitsmarkt zur EU können Unternehmen ständig neues Personal rekrutieren, ohne höhere Löhne bezahlen zu müssen. Die Nationalbank kann daher bei Vollbeschäftigung den Geldmarktzins auf null senken, ohne Inflation befürchten zu müssen. Mit Nullzinsen stimuliert sie aber die Wirtschaft umso mehr. Das Ergebnis ist eine «zu hohe» Zuwanderung. Mit der Bekämpfung der Frankenaufwertung schafft sie ein weiteres, stimulierendes Moment.

Die Beschäftigung in der Schweiz wächst bereits seit einigen Jahren deutlich über dem demografischen Potenzial. Das allein bewirkt noch nicht zwingend eine «zu hohe» Zuwanderung. Eine solche resultiert jedoch, wenn die Nationalbank mit ihrer überaus expansiven Geld- und Währungspolitik unsere Volkswirtschaft weit über das Vollbeschäftigungsniveau hinaus zusätzlich stimuliert. Das sollte aber nicht ihre Aufgabe sein.