Die Chancen, dass die Rentenreform durchkommt, ist klein

The show must go on» ist im Parlament derzeit ein Hit, wenn es um die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) geht. Als der Sänger Freddie Mercury den Song in den 1990er Jahren spielte, wusste er, dass er an seiner Krankheit sterben werde. Ungefähr ähnlich geht es derzeit den Parlamentsmitgliedern in Bern. Sie singen das Lied der Pensionskassenreform, doch dem Vorhaben werden keine Chancen mehr eingeräumt, je in Kraft zu treten. Stark vereinfacht geht es um die Streitfrage, wer die Rentenverluste finanzieren soll, die durch tiefe Marktzinsen und eine höhere Lebenserwartung entstanden sind. Ist es jeder und jede für sich selbst oder ist es die Allgemeinheit über einen allgemeinen Rentenzuschlag von 0,5 Prozent der Lohnsumme, der an fast alle verteilt wird? Die Bürgerlichen verlangen die individuelle Lösung, die Linken den Rentenzuschlag, der auf dem Vorschlag des Bundesrates aufbaut. Die individuelle Lösung heisst, dass alle heutigen BVG-Versicherten ihre Lohnbeiträge an die zweite Säule erhöhen und dass unversicherte Werktätige neu «ebenfalls ins BVG-Sparschwein einzahlen», wie es FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt formulierte. Das sind Leute mit tiefen Einkommen, mit kleinen Arbeitspensen und solche, die für mehrere Firmen in kleinen Pensen arbeiten. Je nach Variante wären 140’000 Werktätige neu dem Sparzwang der zweiten Säule unterworfen. Laut Bund wären 90 Prozent dieser neu Versicherten Frauen. Weitere 60’000 Beschäftigte müssten grössere monatliche Pensionsbeiträge entrichten als bisher. Die Linke, angeführt von den Gewerkschaften, bekämpft diese individuelle Sanierungslösung der Bürgerlichen mit dem Argument, dass Leute mit tiefen Einkommen viel mehr in die zweite Säule einzahlen müssten als bisher, ohne wesentlich mehr Rente zu gewinnen. Das lohne sich für sie nicht. Die Berechnungen des Bundes stützen diese These.Wenn die Rente sinkt trotz Reform: Fallbeispiel Eine Sekretärin, 50 Jahre alt, sie arbeitet Vollzeit und hat einen Lohn von 5400 Franken. Pensionsbeitrag heute: 280 Franken. Pensionsbeitrag nach einer Reform gemäss Ständerat: 350 Franken, das heisst 70 Franken mehr. BVG-Rente heute (im Alter von 65 Jahren): 550 Franken. BVG-Rente nach der Reform gemäss Ständerat: 450 Franken, das heisst 100 Franken weniger. Fazit: Trotz höherer BVG-Beiträge würde die Rente um rund 100 Franken sinken. Quelle: BSV, Berechnungen «Blick» In der Summe zeigt sich, dass 50-Jährige trotz Kompensation ihre Rente nur wenig aufbessern können. Und solche, die keine Kompensation erhalten sollten, weil sie jünger als 50 Jahre alt sind, erzielen unter dem Strich ein Minus, sollte die Reform in Kraft treten. Der «Blick» hat solche Beispiele in den letzten Tagen rauf und runter gespielt. Er machte dies gestützt auf offizielle Prognosen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BFS). So ist unschwer zu erkennen, dass die Altersgruppe der über 45-Jährigen aus individueller Perspektive gute Gründe hätte, die Reform in einer Volksabstimmung abzulehnen. Gewerkschaft will die Reform vors Volk bringen Das wissen die Linken. Der Gewerkschaftsbund hat ein Referendum gegen die Vorlage bereits beschlossen. Die SP und die Grünen stellen ihren Widerstand bereits in Aussicht. Das ist nicht nur taktisches Geplänkel. Sie wissen auch Sozialminister Alain Berset hinter sich. Der SP-Bundesrat goss am Dienstag zusätzlich Benzin ins Feuer, als er sagte, dass bloss «rund die Hälfte der BVG-Versicherten» von einer Ausgleichsmassnahme der jetzigen BVG-Reform profitiere. Das Hauptproblem in der Vermittlung der Reform sei, dass man als Versicherter nicht wisse, zu welcher Gruppe man gehöre. «Stellen Sie sich vor, dass sich bei einem Abstimmungskampf jede zweite Person auf der Strasse die Frage stellen wird, ob sie zu den Verlierern oder Gewinnern der Reform gehöre.» Bei einer solchen Ausgangslage kumuliere man die Gegnerschaft. Dass in der jetzigen Reformvariante bloss rund die Hälfte der BVG-Versicherten von Ausgleichsmassnahmen in der Höhe von 100 bis 200 Franken monatlich profitieren würde, ist unbestritten. Dieser Ausgleich wäre finanziert durch einen Lohnzuschlag von 0,26 Prozent während 15 Jahren. Selbst, wenn negative Fallbeispiele wie im «Blick» eine kleine Versichertengruppe darstellen, sind sie plakativ und geeignet, im Stimmvolk eine breite Ablehnung zu provozieren. Dies haben bisherige Urnengänge zur beruflichen Vorsorge gezeigt. Mit dem Argument «Rentenklau» lässt sich dagegen mobilisieren. Die letzten zwei Abstimmungen, 2010 und 2017, haben die Bürgerlichen verloren. 2010 ging es um die gleiche Frage wie heute: um die der Herabsetzung des Umwandlungssatzes. 73 Prozent der Stimmenden lehnten sie ab. Die Linke braucht das Scheitern der Reform für den Wahlkampf Hinzu kommt, dass in einem halben Jahr Neuwahlen sind. Die SP freut sich darüber, die Bürgerlichen als Protagnisten der Demontage der Altersvorsorge vorzuführen. Gewerkschaftspräsident und SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard gab am Dienstag im Nationalrat eine Probe, als er sagte, die «modernen Bürgerlichen» hätten «das Rentenalter erhöht und die Rente gesenkt». Mit dem Wort «modern» spielte er süffisant auf den Titel der Vorlage an, die derzeit als «Modernisierung der beruflichen Vorsorge» bezeichnet wird. Selbst darüber wird im Parlament gestritten und abgestimmt: Eine knappe Mehrheit (95 zu 94 Stimmen) wollte am Dienstag das Wort «Modernisierung» aus der Vorlage gestrichen haben und es durch «Reform» ersetzen. Jetzt ist der Ständerat dran, die Differenzen auszuräumen. Die Bürgerlichen auf der anderen Seite beschwören den systemischen Fehler der zweiten Säule, den es «unbedingt» zu korrigieren gelte. Darunter verstehen sie die systemfremde Umverteilung der Pensionskassenerträge von den Berufstätigen zu den Rentnern. Auch geisseln sie die mangelnde Kompromissfähigkeit der linken Ratsseite als «unschweizerisch», schliesslich gehe es um Vertrauen in die Altersvorsorge und um sehr viel Geld. Doch realistisch gesehen haben sie wenig in der Hand, um aus der politischen Rücklage zu kommen, solange ihre Strategie darauf abzieht, die zweite Säue über die individuelle Erhöhung der Lohnbeiträge zu sanieren. Auch Bürgerliche stellen die Reform infrage Für sie stellt sich die Frage, wie sie ihre Variante der BVG-Reform noch durchbringen können – oder ob bloss «The Show must go on» gespielt wird – bis zum bitteren Ende an der Urne. Wie Gespräche auf beiden Ratsseiten im Nationalrat zeigen, dürfte Letzteres der Fall sein. Darauf deuten mehrere Indizien hin. Das erste Indiz: die Kehrtwende der SVP. Die Volkspartei war zunächst in vielen Punkten gegen die Reform. Sie argumentierte auf der Linie des Gewerbeverbandes mit den hohen Sanierungskosten, rund 30 Milliarden Franken, die untragbar seien. Die FDP und die Ratsmitte senkten im Ständerat die Kosten auf rund 11 Milliarden Franken. Auch das war der SVP noch zu viel. Sie drang im Nationalrat auf eine Variante, die nur rund 9 Milliarden gekostet hätte, mit kleinen Ausgleichsmassnahmen für wenige Betroffene der über 50-Jährigen. Doch im Februar merkte die Volkspartei, dass ihr Widerstand den Linken in die Hände gespielt hätte. Grüne und SP hofften nämlich, mit einer Allianz mit der SVP die 11-Milliarden-Variante im Parlament zu Fall bringen zu können. Das wäre das vorzeitige Ende der Reform-Show gewesen – ohne Volksabstimmung. Jetzt erfolgte ein Kurswechsel nach der Devise «The show must go on». Die SVP stimmte in allen wichtigen Punkten auf der bürgerlichen Linie (FDP, Mitte und Grünliberale), die mehr kompensieren will, als es die SVP und der Gewerbeverband verlangt hatten. Damit erreicht die Rechtspartei, dass die Vorlage im Parlament durchkommt – wohlwissend, dass die Vorlage an der Urne scheitern dürfte. Der Vorteil dieses Vorgehens: Man kann den politischen Gegnern die Schuld am Scheitern der Reform zuschieben. Das zweite Indiz, dass man «The show must go on» spielt, ist das folgende: Unter vielen Bürgerlichen zirkuliert die Überzeugung, dass es die BVG-Reform nicht mehr brauche. Die Begründung: Eine solche würde die Werktätigen und Arbeitgeber insgesamt teurer zu stehen kommen als die Hinnahme des (schädlichen) Status quo. Die Überlegung dahinter: dass rund 85 Prozent der Versicherten von einer Herabsetzung des Umwandlungssatzes im obligatorischen Teil der BVG nicht betroffen wären. Sie haben seit längerem starke Renteneinbussen hingenommen. Dies wegen der sogenannten BVG-Schattenrechnung der Pensionskassen. Sie besagt, dass die Verluste des BVG-Obligatoriums mit den Gewinnen des Überobligatoriums verrechnet werden. Für diese Angestelltengruppe brauche es keine Reform mehr. Für die restlichen 15 Prozent der Versicherten, die die Rentenverluste im Obligatorium heute allein tragen, ist man offenbar bereit, die Nachteile eines überhöhten Umwandlungssatzes schulterzuckend hinzunehmen. Ein bürgerlicher Ständerat sagte unter der Zusicherung von Anonymität: «Wenn es eine Pensionskasse lupft, dann kann der Staat immer noch die Kasse mithilfe des Sicherheitsfonds BVG retten.» Und schliesslich existiert ein drittes Indiz, dass es um «The show must go on» geht. Unter Linken kursiert die Überzeugung, dass eine gescheiterte Reform besser wäre als geglückte Reform. Ihr Motiv: Links plant man den Ausbau der ersten Säule über eine 13. AHV-Rente. Eine entsprechende Volksinitiative wurde mit 137’550 Stimmen eingereicht. Sie verspricht bis zu 200 Franken pro Monat mehr Rente. Die Überlegung der Linke: Je schlechter die BVG-Leistungen, desto grösser die Chancen, dass diese Initiative vom Volk angenommen wird. Die Vorlage kommt voraussichtlich nächstes Jahr zur Abstimmung. Die Totengräber der Reform Obwohl die SP und die Grünen taktisch besser dastehen als die Ratsrechte, riskieren auch sie ihren Ruf in der Altersvorsorge: Sie werden sich vorwerfen lassen müssen, der Totengräber der Reform zu sein und auf eine Ruine der ganzen zweiten Säule hinzuarbeiten. Ihre Haltung schädigt vor allem die 15 Prozent der BVG-Versicherten, die Tieflöhner und potenziell SP-Wählerinnen und -Wähler sind. Sie verfügen häufig über wenig BVG-Alterskapital, das zudem seit Jahren renditemässig stagniert. Ihr Alterskapital wächst seit Jahren um bloss 1 Prozent – die aktuelle Höhe des BVG-Mindestzinses. Käme die Reform zustande, würde die jährliche Gutschrift höher sein als heute. «Kann noch jemand mehr ertragen?», fragte Freddie Mercury in seinem Song rhetorisch. In Bern ist am Donnerstag wieder die kleine Kammer, der Ständerat, am Zug. Die Reform wird innert zwei Wochen durchberaten und wohl am Ende auf der bürgerlichen Linie beschlossen werden. «Ich mache gute Miene zum bösen Spiel», sang Mercury weiter, «aber ich werde nie aufgeben.» Die Show muss weitergehen, schliesst er in der Schlussstrophe das Lied. So singt man es im Geheimen auch im Bundeshaus. Im Frühjahr 2024 dürfte das Stimmvolk darüber entscheiden.Rentenumwandlungssatz: Worum es bei der BVG-Reform eigentlich geht Im Kern der Reform geht es um das Rentenversprechen: den Umwandlungssatz. Er soll für den obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge gesenkt werden, von 6,8 auf 6 Prozent. Dies führt zu einem Rentenverlust von 12 Prozent. Wer beispielsweise 100’000 Franken angespart hat, erhält aktuell 6800 Franken Rente jährlich. Neu sollen es 6000 Franken sein – das sind monatlich 67 Franken weniger als bisher. Diesen Verlust will das Parlament kompensieren. Der Streit dreht sich um die Frage, wer wie viel bekommen soll. Die bürgerliche Mehrheit will nur einer älteren Gruppe von Tieflöhnern eine Kompensation zusprechen, die linke Minderheit eine möglichst grosse Kompensation für viele Jahrgänge erwirken. Die Variantenvielfalt ist enorm, die Details teilweise sehr kompliziert. Es gibt keine generelle Aussage darüber, wer profitiert und wer verliert. Die Frage lässt sich nur für jede einzelne Person mit Ja oder Nein beantworten. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat für das Parlament zwar eine Übersicht erstellt – eine sogenannte Heatmap – in welcher Situation man zu den Gewinnern oder Verlierern der Form zählt. In dieser «Heatmap» sind sind die Fallbeispiele je nach Alter, Lohn und Anteil des BVG-Obligatoriums mit grün beziehungsweise rot dargestellt. BVG-Versicherte mit einem Bruttolohn von unter 50’000 Franken gewinnen tendenziell mit einer Reform, solche darüber verlieren. Für 50-Jährige BVG-Versicherte mit einem Bruttolohn von 100’000 Franken betragen die Verluste monatlich 219 Franken nach Inkrafttreten einer Reform. Doch wie viele Leute es zahlenmässig es betrifft, weiss vorläufig kein Amt und keine Statistik.

Die Chancen, dass die Rentenreform durchkommt, ist klein

Warum die Pensionskassenreform scheitern dürfte